Notate Napules (7): Neapel untertags, darinnen der zweite Purgatorio, und ein vierter mit Bruia, diesmal aber chic, und daß es möglich sei, das Sakrament der Ehe mit den Toten zu feiern, denn „il matrimonio è la tomba dell’amore“. Martedì, il 16 Aprile 2013: Wie sich Geschichte lebendig erhält, indem man sie – bewohnt. Ein fließendes Lehrstück gegen die Verdinglichung.

7.40 Uhr:
[Alloggio del Conte, Camera.]

Mit kam der Gedanke heute früh, diese Aufzeichnungen in eine Art Reisebuch umzuformen, das der zweite Band >>>> des Verlages Die Dschungel in der Kindle-Edition werden könnte; ich glaube nicht, daß sich ein Buchverleger fände, auch wenn der Bedarf nach Reiseführern stetig geblieben ist. Bevor ich mit den >>>> Kulturmaschinen brach, wär es ein andres gewesen, gerade weil es sich um ein Tagebuch handelt, dessen formale Gestaltung der Struktur dieser Stadt entsprechen will. In jedem Fall sollte ich, was in der unmittelbaren Gegenwart teils auch der Drängnis schnellen Notierens, eines zum Erleben geradezu simultanen, entstand und entsteht, später bewußt durchformen, teils die Kanten noch schärfen, teils rigoroser in- und aufeinanderstellen, sowie ein erzählerisches Leitmotiv hineintun, für das sich mir momentan die >>>> Aphrodite napuletana (unter 20.55 Uhr im Link) anzubieten scheint: eine, vielleicht, idée fixe des tagträumenden Flaneurs.

Ich war schon draußen, „ausprobiere“ täglich eine andere Bar für meinen Latte macchiato, immer den ersten des Morgens; heute gleich nur zwanzig Schritte um die Ecke; als ich mit meiner Tasse im Eingang stand, schlürfend und rauchend, eine ganz unbelebte Bar, anders als die Cafés vier Gassen weiter, wo für den Markt alles aufgebaut wird, fuhr ein zerkratzter Kombi heran, und der enorm beleibte Fahrer, noch in seiner Bäckerkleidung, die ebenso ehemals einmal weiß gewesen wie die Karrosserie seines Wagens, hob hinten ein offenes flaches Paket voller Cornetti heraus, um es ohne viele Worte den Padroni der Bar auf den Seitentisch zu stellen. Schon war er wieder da, wahrscheinlich rechnet man monatlich, oder wöchentlich, ab, hatte ein Bonbon ausgewickelt, es sich in den Mund gesteckt; nun warf er mit Schwung das lilaglänzende Papierchen auf die Straße. Wie ein hinabschwebender, entglimmender Schmetterling sah es aus. Und als ich in den Höhlen der Fontanelle stand, von denen ich Ihnen gestern nacht schrieb, vor mir die gestapelten Oberschenkel, halbe Tuffsteinwände voll, in Reihe die Schädel obenauf, und hochsah, denn man hörte es von vielen Seiten aus hineinzwitschern, glühte durch die eckigen riesigen Öffnungen das Pflanzengrün wie eine Dschungel der Hoffnung.

Morgen reise ich wieder ab. Heute abend wird gekocht, ich selbst werde das Essen für mein Wirtspaar bereiten, Tintenfisch in eigener Tinte, Brot dazu und ein Gemüse, zuvor eine Zuppa di Cozze e vongole; ich werde gleich einkaufen gehen und erst, wenn ich alles beisammen habe, die Touren meines Tags unternehmen, Abschiedstouren aber, mir kommt ein wenig die Wehmut. Das Nichtgerichtete, das hier nicht wie zum Beispiel im Emsland, so schrieb’s mir Hermann Peter Piwitt einst, die Euter der Kühe mit dem Zollstock vermessen sind, sondern all’occhio wachsen dürfen, nach Augenmaß, das sicher auch aus dem Mangel erwachsende Provisorische, das aber so stark ist, sich noch in das antike Gleichmaß einzuwachsen, wird mir zuhause fehlen. Jeder Blickschwenk ist ein Spaziergang, der den Augen guttut: das Gegenteil von UnserDorfSollSchönerWerden. Die Norm, so nötig sie auch sei, beleidigt und verletzt die Seele. Deshalb kann es nur um den Ausgleich gehen, um die Vermittlung von genormt und frei, eine Balance, ja, ein Equilibrieren. Wir selbst, als Deutsche, haben im eigenen Land gesehen, und müssen dankbar sein, daß der Mangel in der DDR sehr vieles erhalten hat, das in der BRD seelenlos zerstört worden wäre. Was ich meine, gilt nicht nur für Neapel, sondern insgesamt für Italien, auch für Amelia, wo Freund Schulze wohnt, auch für Olevano Romano, also im (beinahe) Norden. Doch in Neapel ist die Durchdringung des Alten durch das Neue als eine lebendige, fließende, sich immerneu formende stärker, dieses sich in die Welt einschreiben wollen der Menschen. Genau das verhindert die Verdinglichung oder hemmt sie zumindest. Mir wurde das schlagend sinnlich bewußt, als ich vorgestern, nach dem Wiederaufstieg aus der alten Wasserversorgung – ich werde später darüber schreiben – in einem Basso Spaccanapolis stand, daß einst die „Backstage“ eines antiken Theaters gewesen. Archäologen hatten es aufgrund von Plänen um diese Wohnung herum vermutet, hatten, das ist noch keine zehn Jahre her, innen den Putz probehalber abgeschlagen, und eine römische Mauer kam zum Vorschein. Man kaufte den alten Leutchen die Wohnung ab und legte ganze Räume des Theaters frei; im Weinkeller lag der untere Zugang zur heute von neuen Bauten zerstörten Bühne sowie der Bereich für die Maske.
Etwas später brach einem benachbarten Zimmermann die Wand an seiner Tür zusammen, und ein weiterer Teil des Theaters wiedererschien, ein Eingang ins Theater selbst, fürs Publikum, nach über zweitausend Jahren. Die Vergangenheit quoll in die Gegenwart hoch, wie sich diese zuvor mit ihr verbunden, sich über sie geschrieben hatte, brach aus der erstarrten Lava der Gegenwart wie ein uraltes Magma.

Es wird nicht getrennt. Vorläufigkeit ist die Regel. Wenn Rom die Ewige Stadt sei, so wäre Neapel eine Stadt der fließenden Zeit, der Übergänge und Vermittlungen: die Stadt dynamischer Prozesse, entdinglichender nämlich. Als ich am Sonntag abend in der Kirche war, Maria SS. del Carmine, kam eine junge Frau in High Heels herein, um an der Messe teilzunehmen. Ihr Schritt durchdrang den Sang des Priesters. „Il Matrimonio è la tomba dell’amore“, sagte in den Katakomben des Heiligen Gennaro die schöne Führerin durch die Unterwelt: Die Ehe sei das Grab der Liebe. Ich werde darauf zurückkommen. Denn auch sie und ihr Spott, dieser jungen modernen, sich ihrer selbst bewußten Frau, meinten die Verdinglichung. Ewig ist nur das Blau des Golfs, und wir spazieren abends zum Meer oder sehen auch nur zu ihm hin, um uns dessen bewußt zu werden: es sinnlich zu erfahren, immer wieder neu.



[Der >>>> erste Abschied, aber. Im >>>> Kommentar.]
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3 thoughts on “Notate Napules (7): Neapel untertags, darinnen der zweite Purgatorio, und ein vierter mit Bruia, diesmal aber chic, und daß es möglich sei, das Sakrament der Ehe mit den Toten zu feiern, denn „il matrimonio è la tomba dell’amore“. Martedì, il 16 Aprile 2013: Wie sich Geschichte lebendig erhält, indem man sie – bewohnt. Ein fließendes Lehrstück gegen die Verdinglichung.

  1. Schon ein Abschied.

    Nicht, daß diese Notate nun schon ihr Ende hätten, bewahre, aber dem Meer mußte ich schon Lebwohl, nein mein AufWiedersehn sagen; heute abend – nämlich „ab gleich“ – steh ich in der Küche und esse gemeinsam danach, und morgen früh wird vor dem Abflug die Zeit nicht mehr sein, mich an das Ufer zu begeben. Also, nachdem ich unter San Lorenzo über die antike Agora, nachmals das Forum spaziert war, vor allem, indes, nachdem ich in der Totenkopfkirche, die aus zwei übereinandergebauten Kirchen besteht, ein weitres Purgartorio, – nachdem ich also dort von der schönsten Neapolitanerin, die mir bislang überhaupt begegnet, für mich und uns allein hinab- und auch wieder hinaufgeführt worden war, denn niemand sonst wollte mit… und wirklich, unfaßbar schön, diese Frau! und unser Anschauen vor den Toten, man kann das ein Flirten gar nicht mehr nennen – danach also zog es mich noch einmal zum Meer, und wie ein Nachhall der Blicke und des Lächelns, die ich derart empfangen und nun in mir verwahre, gönnte mir Parthenope – sie nämlich, ich habe keinen Zweifel, selbst – eines der innigsten Bilder dieser Reise:

    (Jetzt werde ich die Cena vorbereiten. Wann ich dazu kommen werde, weiterzuschreiben, weiß ich jetzt noch nicht.)

  2. Das Abschiedsessen. Voerbereitung:

    Dann: Leergegessen:

    „Leer“ stimmt nicht. Immer, immer koche ich zu viel.

    Lange, lange noch in die Nacht gesprochen. Darum nichts mehr geschrieben.

    Ich möchte hier nicht weg. (Aber ein K o n z e r t lockt, in Berlin, nach Berlin. Meine andere bietet, meine andere Stadt, was diese hier nicht füllen kann.

    Leben in der Amibivalenz.)

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