Paul Reichenbachs Mittwoch, der 9. Mai 2007. Von Bart zu Bart.

O NEIN, VERLORNE FREUNDE WERD ICH NICHT
BESCHWÖREN.
Afanassi Fet

Oder doch?

Wir waren ungefähr gleich alt, so um die 35, als wir uns kennen lernten. Zwei Jahre vorher, der Enge einer Reihenhaussiedlung nicht gewachsen, hatte ich Quartier in O. genommen. Er, lange, schwarze Haare bis auf die Schultern, da konnte ich mit meinem beginnenden Ehrenkranz nicht mithalten, und Vollbart, den meinen hatte ich 2 Wochen vorher geschoren, getreu nach Josephus Flavius, der die altjüdische These vertrat, dass man erst dann sein Gesicht nackt zeigen soll, wenn man mit sich im Reinen ist. Und ich war mit mir im Reinen. Aus Süditalien, von einem kleinen Ort an der Küste Kalabriens, stammte er. Äneas, so das Gerücht, das von Generation zu Generation weiter geflüstert wird, soll hier mit seiner Argo gelandet sein. Noch heute wird in manchen Familien dieses kleinen Fischerdorfes ein griechischer Dialekt gesprochen, den >>>Yannis Ritsos Mühe gehabt hätte zu verstehen.
Starke Schultern, kräftige Arme und Hände verrieten seinen Beruf. Er war und ist Bildhauer. Des Personenschutzes wegen, nenne ich ihn hier >>>Praxiteles. Ich war damals in O. so ungefähr der einzige Einäugige unter all den Blinden, die seine Arbeit bewunderten. Jedenfalls meinte er das. Die mit viel Rotwein begossene Freundschaft zerbrach, als ich wieder zu ihr und meinem Sohn zog. Auf die Ankündigung meines Rückzuges ins höllische Glück kleinbürgerlicher Idylle, reagierte er mit Hammer und Meißel. Ein kostbarer Marmorblock, in den Steinbrüchen von Carrara mühsam gefunden, musste dran glauben. Tief war der Riss, der nach den ersten Schlägen den Stein durchzog. Sieh mal, sagte er, dabei fuhr er sein Mittelfinger fast zärtlich, wie um Vergebung bittend, am Wundmal des weißen Marmor entlang, der Stein ist hin, die längliche Kerbe, gut man sie kaschieren so wie man eine Narbe verdeckt, wird ewig bleiben. Die Kunst, und damit dich, wirst Du verraten. In den darauf folgenden Jahren dachte ich immer dann an ihn, wenn sich die Verantwortung für Familie und eine stets bedrohte Liebe wie schwerer Granit auf meine Brust legte, aus der ja eigentlich singende Vögel unaufhörlich hätten flattern sollen. Man kann den Wunsch kitschig nennen. Gut. Ich behaupte die meisten Wünsche, werden sie gemalt oder geschrieben, haben ein rührseliges Feeling. Lesen sie einmal unvoreingenommen, ohne alle Philologie, Gedichte von Paul Eluard, die er Gala verehrte oder sehen sie sich Dalis Muse auf seinen manischen Bilder an, zieht da nicht eine breite Spur bekennender Kitsch durch den Surrealismus ?

La Courbe de tes yeux

La courbe de tes yeux fait le tour de mon coeur,
Un rond de danse et de douceur,
Auréole du temps, berceau nocturne et sûr,
Et si je ne sais plus tout ce que j’ai vécu
C’est que tes yeux ne m’ont pas toujours vu.
Feuilles de jour et mousse de rosée,
Roseaux du vent, sourires parfumés,
Ailes couvrant le monde de lumière,
Bateaux chargés du ciel et de la mer,
Chasseurs des bruits et sources des couleurs,
Parfums éclos d’une couvée d’aurores
Qui gît toujours sur la paille des astres,
Comme le jour dépend de l’innocence
Le monde entier dépend de tes yeux purs
Et tout mon sang coule dans leurs regards.

Paul Eluard

Erst zur Jahrtausendwende suchte ich ernsthaft Zeitfenster, um Unmögliches in Wirkliches zu verwandeln. Heute weiß ich sicher, der Bart sprießt wieder, dass Praxiteles nicht ganz Recht hatte. Denn ein Riss, – Vive le surréalisme ! – kann zum Seil werden, auf dem man sehenden Auges, mit der Balancierstange, Abgründe nicht achtend, sich ans Ufer der Kunst rettet. Da, wo die Musen nackt tanzen, singen und baden. Dort, wo die Augen vom Leuchtturm, Acteons Monument, >>>seinen goldenen Beinschienen (Th.Kling), in Sekundenintervallen warnend geblendet werden. Das verlangt Übung, Ausdauer, Mut, ein gut gespanntes festes Seil, ein Gefühl für Balance und natürlich – kontrollierte Neugierde. Denn zum Hirsch, wie der rammdösige Enkel des Kadmos, will ich mich nicht machen lassen, auch wenn die irren(den) Hunde schon danach lechzen.„Erkennen heißt mit den Augen essen“
Vorspeise und Dessert servieren die Sklaven der Musen. Die Hauptspeise aber wird nur gezeigt und bleibt, Glück oder Unglück (Wer weiß das schon?), dem Hungrigen bis auf immer versagt:
Denn die Göttin der Jagd scheut,
außer der Nimrods, alle Kunst.
Nur manchmal, in schäumenden
hippen Träumen, hängt sie Köcher
Bogen und Wams ins Gehölz.

Sappho und Ovid hymnisch preisend,

zieht Artemis dann das Land in den See.

Der Bart, etwas kürzer und wesentlich grauer als früher, wird wohl noch eine Weile bleiben müssen.

3 thoughts on “Paul Reichenbachs Mittwoch, der 9. Mai 2007. Von Bart zu Bart.

  1. ‚Traumkitsch‘ „Die Seite, die das Ding dem Traume zukehrt, ist der Kitsch“, behauptet der große Träumer Benjamin, der seine Theorie des ‚poetischen Bildes ‚ wiederum nirgendwo anders als in seinem ‚Sürrealismus-Essay‘ versteckt hat…

  2. „Denn ein Riss kann zum Seil werden, auf dem man sehenden Auges, mit der Balancierstange, Abgründe nicht achtend, sich ans Ufer der Kunst rettet.“ Ein wundevoller, anti-defätistischer, das Leben wollender Satz!

    Ja.

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