[Arbeitswohnung, 8.25 Uhr]
Es wurde aber dann Abend.
Den Tag über Melville weitergelesen, dann, in einem jähen Widerstandsimpuls gegen meinen Zustand, Blochs Prinzip Hoffnung wieder hergeholt. Zurück zu den Quellen meiner Überzeugungen. Ist eine Kopf-, nein, Bewußtseinsentscheidung. Nun lese ich beide Bücher parallel. (Bei Bloch immer wieder gedacht: Wie kann es sein, daß meinen wichtigsten Büchern „Schwierigkeit“ vorgeworfen wird, sind wir derart regrediert?)
Mit dem Mops, der für zwei Tage wieder Gast ist, einen langen Nachmittagsspaziergang getan, während dem mir meine alte Idee einer Weltreise-zu-Fuß wieder aufstieg, ohne Geld losgehen, nur mit dem Rucksack, und ein Jahr lang schauen, wohin es mich treibt. Keine festgelegte Route, aber „einfach“ nur: Ferne. Gegen Hand, wie man sagt, also sich unterwegs, was man braucht, durch Mithilfe verdienen, Kost, Logis, das reicht ja, Überfahrten usw. Diese Wiederidee ließ mich kurzfristig aus der grauen Verstimmung auftauchen. Kaum aber saß ich wieder am Schreibtisch, senkte sie sich abermals auf mich.
Kann ich eh erst machen, wenn mein Sohn volljährig ist. Also zwei Jahre noch durchhalten. (Ebenso ausgeschlossen, seinetwegen, ist Suizid. So krank kann ich gar nicht sein, einem Kind derartiges anzutun – und wenn ich auf den Zahnstümpfen ginge. Ich liebe das Leben weiterhin, daran kann meine Schwächung nichts ändern. Ein Vater hingegen, also und aber, der einer solchen Weltreise wegen nicht da ist, taugt weiterhin, vielleicht sogar mehr als sonst, zum Vorbild: sich nicht anpassen. „Die Lust am Anderssein entführt, oft betrügt sie. Doch aus dem Gewohnten treibt sie allemal hinaus.“ Bloch, Hoffnung 44)
Abends kam dann der Freund mit einer, tja, Anstaltspackung- so sah‘s jedenfalls aus. Sind aber „nur“ 2 x 30 Tabletten à 300 mg. Ich las den Beipackzettel, bekam es mit der Furcht. Wie immer, wenn ich was einnehmen soll. Außerdem stört mich, daß die befreiende Wirkung erst nach Tagen einzusetzen scheint, „aber viel schneller“, sagte der Freund, „als bei anderen Medikamenten. Außerdem geht‘s nicht auf den Sex, im Gegenteil eher. Mach dir einfach klar, daß dein Zustand nur Chemie ist, wie man es auch wendet.“ Lustigerweise ist >>>> (klinischer) Priapismus tatsächlich unter den Nebenwirkungen aufgeführt, was mir, geb ich gerne zu, ziemlich gefällt.
Bis heute morgen gezögert, die Furcht wurde eher größer. Aber ich wachte schon wieder mit einer Niedergeschlagenheit auf; normalerweise bin ich jemand, der voll Freude aus dem Bett springt, war ich jedenfalls. Das hat sich in den vergangenen zweieinhalb Jahren Stück für Stück ausgeschlichen, zu meinem Elend. Also die Löwin angerufen, die aus Gründen, die hier nicht hingehören, eine völlig andere Einstellung zu Medikamenten hat als ich. Dann mir einen Ruck gegeben. Die erste Pille eingeworfen.
(Dramatisch gesetzt, schriebe sich das s o:
Nu‘ wart ich ab. Weiterlesen, Blochmelville. Mit dem Hund rausgehen. Vielleicht wieder an einem Gedicht basteln.
Es geht ja auch darum: Ich habe noch so viele Projekte fertigzustellen, will sie auch fertigstellen, muß nur diesen Ekel davor überwinden. Wie viele große Dichter haben Rauschmittel genommen! Was a u c h eine Alternative wär, jedenfalls eine bessere, als klein beizugeben: Wirken Antidepressiva nicht oder vor allem erst nach längerer Zeit, also, sagen wir, „bürgerlich“ nur, besorg ich mir Kokain. Es ist in jedem Fall besser, weil produktiver, an sowas kaputtzugehen als einer bescheuerten Depression, die sich auch noch aufs Werk setzt und es erstickt.
Upps, ist das schon eine Wirkung des Elontrils? Kann nicht sein, oder?
Oder mein Hirn bastelt mir seinen eigenen Placeboeffekt.
Insofern spannend: abermals!!: Realitätskraft der Fiktionen.
Ich werde weiterberichten.
Lustig auch >>>> dieser Patient:inn:enbericht:
Nächste Woche, nach der >>>> Montaglesung in Leipzig, werde ich nach Frankfurtmain fahren, dort dann auch Do treffen, die Psychoanalytikerin, und mir einen Termin beim Psychiater/Neurologen vermitteln lassen. Unterm Strich ist mir eine fachkundige Medikation selbstverständlich lieber; ich werde aber deutlich machen, daß ich schnelle, also schnellwirkende Hilfe will, kritisch könnte man sagen: symptombehebend. Denn die Ursachen sind klar, und sie lassen sich nicht ändern, jedenfalls nicht von mir. Abfindung aber, sichErgebung, ist keine Option. Übrigens hielt Do meine Selbstdiagnose – ich schrieb ihr einen längeren Brief – für treffend: Depression mit Outburn. „Es war dies genau mein Eindruck, als wir uns das letzte Mal sahen.“ Sie habe viel darüber nachgedacht, sorgenvoll, seither.
Ein Werk wie das meine, permanenten Widerständen, darunter harten Diffamierungen unentwegt entgegengestemmt, hinterläßt nach vier Jahrzehnten Spuren. Die sind schlichtweg in die Seele gewetzt.
(Übrigens machte es mir Spaß, diesen Text zu schreiben; schon dies gibt mir Kraft.)
(11.07 Uhr)
Auch die Liebesgeschichte mit Ciane ist nun vorbei, damit der Versuch polyamorer Freiheit. Eigentlich auseinander ging’s aber schon vor anderthalb Wochen; jetzt kam nur der Abschiedsbrief. Somit täuschte ich mich abermals in einer möglichen Liebe, scheiterte auch hierbei erneut.
Ist so. Eine wunderbare Frau mit wahrscheinlich sehr einfachen Wünschen, für deren Erfüllung einer wie ich nicht taugt, taugen nicht kann, wahrscheinlich aber auch nicht will. Über letztres bin ich mir selbst unklar. Ich habe die Sehnsucht nach einer „heilen“ Familie, aber kann ihr nicht entsprechen. Muß das beiseitelegen, diesen Verzicht tatsächlich einmal lernen. Da er mit meiner Arbeit nichts zu tun hat, oder nur sehr mittelbar, ist das sicherlich möglich.
ANH
Schlimm, das alles zu lesen.
@Freni. Schlimmer aber, es zu leben. Doch jeder kriegt, was er tragen kann. (In aller Regel jedenfalls. Ich möchte das Unheil, das über die Geflohenen hereinbrach und das Leute in Lagern quält, aus dem Satz herausnehmen, auch das Unglück Schwerkranker wie aller Verhungernden. Usw. Unter dem Maßstab gilt der Satz n i c h t.)
Ich freue mich jedesmal, wenn in meinem Blogreader eine (1) hinter Ihrem Blog steht. Mir fällt sonst niemand ein, der so kompromisslos die eigenen Schwächen beschreibt. So werden Schwächen zu Stärke.
Fast hätte ich Scheitern geschrieben anstatt Schwäche, aber das ist glaube ich zu hart. Vielleicht ein Scheitern in dieser Welt, aber niemals gegenüber sich selbst?