5.47 Uhr:
[Berlin, Arbeitswohnung. Jukka Tiensuu, Ikisyyt.]
Der Flieger hebt um 11.55 Uhr ab, es wird reichen, um 10.55 Uhr an Tegel Flughafen zu sein, weil ich’s für die vier Tage hinkriegen will, nur Handgepäck dabeizuhaben, aber mir nicht sicher bin, ob ich alles Zeug so durch die Kontrolle kriege, z.B. die Kontaktlinsenflüssigkeit. Kann sein, daß ich dann doch meinen kleinen Rucksack werde eigens aufgeben müssen („aufgeben“ hat fürs Fliegen einen borstigen Doppelsinn, nach der Erfahrung mit Capodichino besonders) ; deshalb brauche ich den zeitlichen Puffer. Den Laptop nähme ich in dem Fall einfach untern Arm; zu lesen habe ich „nur“ Montale und Danz dabei; Lyrik. Dazu einen Stoffbeutel mit je zwei >>>> Orgelpfeifen, >>>> Sizilien, >>>> Horen, einer >>>> Niedertracht und, weil Lindberg Französisch spricht (er hat in Paris studiert und lebt zeitweise immer noch dort), >>>> den Orient mit >>>> Pruniers schönen Übersetzungen. Immerhin brauche ich nicht mal einen Mantel, das Wetter soll bis Sonntag auch in Helsinki schön bleiben; hellgrauer Anzug und T-Shirt reichen, das geht sowohl für Privattreffen, für Konzerte und offizielle Essen als auch für eventuelle „Nächte“. Zwei Schals noch, Punkt:.
Um kurz vor eins lag ich im Bett und habe seltsam phantastisch – im Sinn „phantastischer“ Literatur – geträumt: ich hätte eine Wohnung im Barockrom, die aber nach tiefstem alten Ostberlin aussah wie auch die Gegend, sogar eine Spur SemiSlum Bombay hing dran. Es war eine Altfrauenwohnung, der Schnitt ungewöhnlich verwinkelt. Jemand wohnte drin, eine alte Frau tatsächlich, die sich indes, als ich wieder dort aufkreuzte, als allenfalls 50 herausstellte und noch ziemlich in Saft stand. Man hatte zur Gartenseite die ganze Hausfassade mit Stores gegen die Sonne verhängt. Das Irre an dem Traum ist, daß ich noch jetzt glaube, die Wohnung zu kennen, und zwar aus einem früheren Traum, einer früher einmal geträumten Traumgeschichte, und ich glaube das noch jetzt; es hat die starke sinnliche Präsenz einer Wiederbegegnung mit etwas „Vergessenem“. Eine andere Frau, ebenfalls um die 50, hatte mitten in „Rom“ eine Trennungs-Auseinandersetzung mit ihrem Mann, stand nun allein auf der Straße und sprach mich um Hilfe an, als sie mitbekam, wie ich Deutsch sprach. Ich bot ihr an, einstweilen in dieser Wohnung unterzuschlüpfen; erst auf dem Weg dahin fiel mir ein, daß da ja längst die andere Frau wohnte. Aber es gab eh drei oder vier sehr große, gut voneinander trennbare Zimmer (auf zwei verschieden hohen Viertelebenen, dreivier Stufen, nicht mehr, lassen sie ineinander übergehen) und zwei weit voneinander entfernte Betten; jede hätte ihren eigenen Bereich; nur Bad und Toilette, gegenüber dem Wohnungseingang auf dem Gang, die abermals eine höher gelegene Ebene war, wären zu teilen und waren es mit übrigen Hausbewohnern eh.
Meine alten Katzen, als Jungtiere, liefen in der Wohnung herum; auch sie, die Katzen, hatte ich vergessen. Die andere Bewohnerin lag drunten im Garten und sonnte sich zusammen mit den Nachbarn; das sah jetzt sehr nach dem zweiten Hinterhof Dunckerstraße aus. Ich klärte die Frau wegen der neuen Mitbewohnerin auf, beide mochten einander auf Anhieb. So hätte ich noch stundenlang weiterträumen mögen, ein geradezu flanierender Romantraum, als das Mobilchen stur verkündete, es sei die Zeit zum Aufstehen da. Es hat ja recht, dachte ich, und tat’s. Latte Macchiato, Morgenpfeife. Erste Musik. Vielleicht werd ich, wenn eh auf Reise, im Flugzeug endlich das napoletanische Reisejournal aus dem Handskript in Datei übertragen, andererseits ist noch einiges über Lindberg zu lesen. >>>> Jukka Tiensuu, dessen Musik mich ebenfalls beeindruckt, mir selbst wohl sogar näher ist als Lindbergs, würde ich ebenfalls gern treffen, das steht aber nicht auf dem Programm. Na mal sehn.
Ich druck mal eben noch was aus, dann geht’s zu Frau Morgentoilette; die sorgsame Dame soll mich gut rasieren, damit man mich nicht für Bruce Willis aus „Inside Hollywood“ hält.
21.23 Uhr (Helsinki Ortszeit):
[Helsingfors, Hotel KlausK.]Da hab ich mich wohl selbst gelinkt. Also Helsinki ist, gerade im Vergleich mit Neapel, geschweige Berlin, sauteuer; und ich hab ja nur ‘nen Hunni dabei. So setzt sich das mit den Tagessätzen fort. Essen zu gehen, fiel also aus wegen is nich. Obwohl ich sogar derart weit unters Niveau ging, bei McDonald’s vorbeizuschauen, mich aber umentschied. Am Hafen kostet ein belegtes Brötchen um die fünf Euro, ein Hamburger sechs. Ich werd von den Labberbrötchen aber nie satt. In Pizzerien geguckt: eine Margharita zwischen acht und zehn Euro; ohne was zu trinken, will man nicht sitzen… na gut. Man ist ja pfiffig, folgt dem Instinkt und guckt bei >>>> Stockmann rein, da findet man dann auch erschwingliches Flaschenbier und Essenstheken (Salat mit paar Nudeln 14,70), aber auch eine Fischtheke mit dem, was man Erzeugnisse der Garküche nennt. Da bediente ich mich, es geht hier alles prima in Englisch, die Preise waren okay, ja s e h r okay… nur daß ich entweder bei drei gebackenen Fischlein nicht aufgepaßt habe, oder der Verkäufer hat sich vertippt – jedenfalls schlug das an der Kasse dermaßen zu Buche, daß ich sprachlos war und deshalb nichts sagte. Ein böser Wille steckte weder hinterm Vertippen noch hinterm Preis, da bin ich sicher. Weg mit Schaden dachte ich, als ich hier meinen Tisch auf dem Zimmer deckte.
Jaja, mein Zimmer. Also die Hotelkette Designhotels, in meinem Fall >>>> „KlausK“, ischa nett, nur daß ich überhaupt nicht der Typ für Luxushotels bin, weder für den Flüssigkristallfernseher, der einen im Zimmer empfängt, noch für Design-sowieso, zumal, je designter Design ist, um so a) kunstfremder ist es, und b) zahlt man für jeden Pups extra – hier muß man sogar fürs normale Fernsehprogramm bezahlen. Also hab ich als erstes mal den Fernseher zum Schweigen gebracht. Ich weiß auch nicht, was ich mit einem designten Fell soll, das überm (!) Bett als Design angebracht ist. Und obendrein ist das KlausK ein Nichtraucher-Hotel. Ich meine, ich kapier ja, daß Nichtraucher ungern in nach Rauch müffelnde Zimmer einchecken, völlig klar; aber daß nicht wenigstens ein paar Zimmer für Leute bereitgestellt sind, die beim Arbeiten rauchen wollen, empfinde ich schon als eine Art Übergriff (dabei hatte ich an der Rezeption ganz brav und höflich eigens nach einem Raucherzimmer gefragt). Jetzt komm ich mir wie früher in der Schule vor, wo wir heimlich in den Ecken rauchten. Mag natürlich sein, daß die Leute hierher nicht kommen, um zu arbeiten, sondern um sich mit dem Hotel mitzudesignen, ist ja möglich… jedenfalls werde ich mich sicherlich nicht dran halten. Auch kam die Frage der Rezeptionistin nach meiner Kreditkarte derart überraschend – „Das Zimmer und Frühstück sind bezahlt, aber für den Fall, daß Sie die Zimmerbar nutzen…“ -, daß ich überhaupt nicht auf die Idee kam zu sagen, ich hätte keine solche Karte – genau das wäre aber nötig gewesen. Stattdessen reichte ich kreuzbrav die Visa übern Tresen. Ich könnt mich klatschen. Doch ich war noch so voll mit dem Versuch, während der Taxifahrt die Werbeflächen zu lesen, irgendwas mitzubekommen von dieser für mich völlig neuen Sprache – ich kann ja nicht mal „Danke“ sagen, was s c h o n ziemlich peinlich ist. In Japan hatte ich wenigstens die Minimalien schnell heraus, aber da hatte ich auch einen guten Mentor.
Im übrigen ist der Empfang so freundlich, wie ich das auch gedacht habe. Als ich ankam, war bereits Frau A. da, wir setzten uns hinaus, ich rauchte, wir plauderten, danach gingen wir gemeinsam – sie wollte dahin und fragte, ob ich vielleicht auch Lust hätte – zu einer Ausstellungseröffnung in einer stadtbekannten Galerie für Neue Kunst; allerdings fehlte diese, herumhing ein reichlich erbärmliches Zeug, was ich nur ungern sage, weil die Künstlerin sehr schön war, und die Galeristin, der ich vorgestellt wurde, ist es erst recht. Aber ich kann es nicht ändern. Allein ganz im Hintergrund, an der letzten, den Besuchern abgewandten Seite einer Wand, hing ein gutes Bild, das vielleicht von einer vorhergehenden Ausstellung dageblieben war; vielleicht ist es – mit Recht – verkauft worden und wartet noch drauf, abgeholt zu werden. Egal, ich trank ein finnisches Bier, dann mochte ich mich von der Popmusik, die ziemlich lautstark lief, nicht weiter zukleistern lassen und ging meines >>>> Konzertweges. Frau A., übrigens, das mag mich entschuldigen, war auch nicht besonders begeistert; daran konnten auch die von der Galerie aufgerufenen Bilderpreise nichts ändern. Meine Güte! Als gäbe es Leute wie Kapoor nicht, wie Kounellis.
Das Konzert entgalt mir die Kunscht. Aber damit hatte ich gerechnet. Ah ja, sowieso: Musik. Helsinkis Straßen sind voller Jazz, wo man hingeht und rumsteht, voll gutem Jazz, leichtem, aber gutem. Drei Sätze Frau A’s gehn mir allerdings nicht aus dem Sinn: „Hier ist vielleicht ein Betrieb! Wenn Sie im Winter hier langgehen“ – sie meinte einen P l a t z – „sehn Sie kaum jemanden. Und glauben Sie bloß nicht, im Winter würde auch nur eine Finnin lächeln…“
(Noch einmal zum Hotel. Mir ist selbstverständlich klar, daß man für den Gast ein besonders schönes Hotel aussuchen wollte; für Schriftsteller sind aber Hotels besonders schön, die vielleicht nicht designt sind, aber dafür die Arbeitsgrundlagen haben – zum Beispiel einen kleinen Schreibtisch oder doch wenigstens Tisch; sowas fehlt hier. Es gibt statt dessen eine rollbare Konsole, die so designt ist, daß sie sich übers Bett schieben läßt, um dem Gast zu ermöglichen, in den Federn zu frühstücken. Jesses, wer tut sowas? W e n n ich sowas tue, dann, wenn eine Frau danebenliegt, aber dann brauche ich doch keine Konsole mehr; und ansonsten stehe ich auf um fünf und setz mich an mein Zeug. Jetzt hab ich mir die Konsole an ein Sesselchen gerückt, kann dabei die Beine nicht richtig ausstrecken und muß mich, um den Rauch möglichst spurfrei aus mir rauszupusten, zu einem Fenster hinverrenken, in dem sich nur eine einzige Luke von der anderthalbfachen Größe meine Laptopbildschirms öffnet läßt; allen anderen Fensterparts sind die Griffe entzogen; es sind fixierte Scheiben.)
Gute Tage und Nächte und kommen Sie heil wieder.
@Reichenbach. Und: – auf geht’s. Strahlendes Reisewetter, sogar die Zigarren fanden noch Platz.