Yōsei ODER Die Leaves of Grass der Horu-Shi. Berliner Tattoo-Convention, September 2022. Briefe nach Triest, 65.

[Aus dem Achtunddreißigsten Brief:]

(…)

Du wirst, nehme ich an, die Arena Treptow nicht kennen. In einem der Gänge hatte Gerald für die Tattoo Convention einen nicht sehr großen Stand angemietet, zwei auf drei Meter, die Rückwand mit einer linksläufigen giftgrünen Triskele auf braunschwarzem Grund tapeziert, deren Arme in eine Art Schlangenköpfe ausliefen, die aber keine waren. Erst bei nahem Herantreten offenbarten sich statt dessen Schriftzeichen, eine Mischung aus Hiragana- und Katakana-Moren sowie vielleicht Runen, aber auch etwas, das ans Feanórische Alphabet2 erinnerte, die aber alle insgesamt, doch eben nur aus der Entfernung, die Konturen der drei, und nur dieser, Schlangenköpfe formten, denen inhaltlich jedoch kein oder ein so geradezu phylogenetisch fremder Inhalt entsprach, daß wahrscheinlich nicht einmal Yōsei selbst zu sagen wußte, was sie bedeuteten. Das zeigte sie freilich nicht; wurde sie um ihn befragt, dann lächelte sie nur.
Senkrecht zum Gang war, auch als Abgrenzung des Standes, eine hüfthohe, mit einer ornamental gemusterten Plane bespannte Liege aufgestellt, neben der die Ablage der Tätowierinstrumente stand, übrigens keine modernen, sondern traditionelle Teburistichel, die auch nur anzusehen wie selbst schon Schmerzen auszuhalten war. Es sind ja tatsächlich oft nur vermittels eines äußerst feinen Seidenzwirns an den Griffeln befestigte kaum sichtbare, so dünn sind sie, Metallnägel, die, nachdem sie, um die Farbe aufzunehmen, in einen damit getränkten Schwamm gedrückt worden sind, in die Haut gestochen werden. Der, ich möchte fast schreiben, „Delinquent‟, der aber, wenn er sich wieder erhob, ein für immer Erhobener war, legte sich mit dem Kopf zum Publikum, je nachdem, wo das Motiv appliziert werden sollte, auf den Rücken, auf eine Seite oder Brust und Bauch, und die Künstlerin beugte sich so nahe über ihn, daß fast ihr Mund den Körper berührte, die Augen keinen Zentimeter von den schnell wie offene Ritznarben aussehenden Einstichstellen entfernt. Und Yōsei berührte ihn wirklich, ich stand ja dabei und konnte es sehen. Ja aber was tat sie denn da? Die Tätowierer und Tätowiererinnen der anderen Stände, ich hatte es jetzt ein paarmal beobachtet, wischten das wenige austretende, stets mit der Farbe gesättigte Blut immer schnell vermittels feiner Lappen hinweg, die sie zwischen den vorderen Fingergliedern ihrer meist linken Hand hielten. Einstechen, wischen, einstechen, wischen, das war die Bewegung. Yōsei aber leckte, züngelnd flink wie Schlangen. Und wenn sie den Körper des andren so berührte, ging durch ihn ein Schauern, dem ein leises Stöhnen, das des zu Erhebenden, den irdischen Klang gab, den sonst nur Seismographen vernehmen.
Vielleicht war ich der erste, der es vernahm und alles andre mitbekam, aber ich blieb nicht allein. Es ging durch uns Zuschauer, die wir uns vor dem kleinen Stand unterdessen schon drängten, etwas hindurch wie über Whitmans Leaves of Grass3, die sich in der gesamten Breite beugten ihrer Weite, der Prärie – bis an den fernen Horizont heran, und wir hörten das seismographische Schauern als einen Wind durch unsere Ohren wie in eine Seemuschel fahren. Nur aber ich erkannte, als Yōsei – war sie bereits fertig? pausierte sie nur das Viertel einer Minute? – ihren Kopf hob, welchen Spuren die ihren ähnlich sahen, die sich von den Mundwinkeln abwärts zogen, als wären rote Tränen gelaufen, nicht ganz bis zum Kinn, nur ein winziges Stückchen, doch aber sichtbar. Ja, die Lippen insgesamt waren unversehens zu denen der Carsomarer Venus geworden, nachdem sie wiedergefunden in Lenzens Grenzhäuschen war; hier aber diese Spuren noch frisch, ein nicht leuchtendes, aber doch schimmerndes Rot. (Auf den Fotos, die später in einer Szene-Zeitschrift erschienen, aber wie eingetrocknet erblaßt; sie gingen dennoch um die Welt). Weiters erkannte man in Geralds Tätowierungen zwar ein bildliches Motiv, doch welch ein, w a s es also zeigte, vermochte niemand zu sagen, und zwar umso weniger, je mehr Zeit seit der … – man sprach bald nur noch von Performance … – verging. Ja, anfangs … anfangs hatte noch Leute gesagt: ein Tiger, ein Drache, ein Olivbaum, aber wurden sich stetig unsicherer, und traten sie näher an das Tattoo heran, waren nur genau solche Zeichen zu erkennen wie die der vermeintlichen Schlangenköpfe am Ende der Triskelenarme. Indessen ich | nichts als Deine Lippen sah.

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