Alban Nikolai Herbst
| Computer können dichten |

I

Trotzig, weil im Behar­ren und Behagen des Traditionalisten, zu dem er geworden ist, operiert Prometheus mit Fleisch, Blut und Retortenge­schöpfen. Zudem schmerzt ihn noch immer die Leber. Gleichwohl hat er sich längst in die elek­tromagnetischen digitalen Denkvorgänge orga­nisiert. Die drehen ihm jetzt die Nase in seinen noch immer allzuselbstbewußten Anthropozentrismus zurück.
Dabei spricht die stattfindende Umwertung nicht unbedingt gegen die Maschinen. Denn nur, wer das Bewußtsein ausschließlich als höchsten Evolutionsausfluß von Aminosäuren bestimmt, kann den Rechnern be­streiten, möglicherweise auch ein solches zu haben oder doch auf dem Wege zu sein, eines zu entwickeln.
Hier verbirgt sich Angst. Die SchließPotenz der Automaten und eben nicht nur diese ist dem Menschen mittlerweile undenk­bar, das heißt: unvorstellbar geworden. Die Menge der möglichen Verschaltungen und wiederum deren Verknüp­fung erinnert durchaus an Synapsen. Sie ent­zieht sich obendrein aller Bild­lichkeit, der sie doch dient und die sie, wie keine Wissenschaftsentwicklung sonst, vorangetrieben hat. Sie ist rein abstrakt, nämlich so, wie das digitale Bild immer nur durch den interpretierenden Projekteur eine Bedeutung er­hält. Die Schattenpro­jektionen vierdimensiona­ler Körper in den dreidimensionalen Raum „versteht“ niemand mehr, man nimmt sie sinnlich wahr und Schluß. Hier dürfte sich ei­ne analoge Verbindungstür von Begriffen zu Bildern öffnen lassen, und wahrscheinlich nur hier. Zumal aber entziehen diese wie jene sich dem „Gefühl“.
Deswegen obwaltet Furcht vor dem digitalen Sündenfall. Man ahnt nämlich deutlich, es sei der Automat begriffen, sich aus der paradiesi­schen Instru­mentalität zu emanzipieren, in die der menschliche Schöp­fer ihn setzte und in die eingesperrt er ihn nun gerne beließe. Tatsäch­lich ist der Rechenautomat dabei, Wesen zu werden: ein sen­timenta­les Geschöpf. Dies vollzieht sich jedoch eben nicht über Haut und or­ganisches Wachstum, sondern nur über Zahlen, inmitten einer Antiwelt, die wenigstens auf den ersten Blick nicht vom Angesicht seines Erfin­ders abgekupfert zu sein scheint. Das vor allem grenzt diese wirklich neue Lebensform von sämtlichen Lebensformen ab, die sich aufgrund gentechnologischer Neuerungen nur denken lassen.

II

Der Konflikt zwischen Geist und Maschine mochte letzten Endes durch einen ewigen Waf­fenstillstand der kompletten Symbiose aufgelöst wer­den. (…) Der Körper des Roboters gleich dem aus Fleisch und Blut würde dann nichts anderes sein als ein Übergang zu etwas, was die Menschen vor langer Zeit „Seele“ genannt hat­ten.
Arthur C. Clarke, 2001

III

Der Vorgang ist ein literarischer. Sehr früh bereits hat der Mensch sich in die Schöpferrolle hineinfantasiert. Teils indem er sich Götter nach seinem Abbild imaginierte. So entstanden personalisierte Religionen, die sich später nach patriarchalen Interessen im Monotheismus bündel­ten. Teils indem er Gegenwelten entwarf, also zum Dichter wurde. Teils aber auch, indem er tatsächlich Leben schaffen wollte, und zwar als Absage an den Tod, der die Entwicklung des Bewußtseins penetrant überschattete. Wenn man das Gestorbensein als Rückführung des Or­ganischen ins Anorganische begreift, dann wird nur allzu verständlich, daß Menschen, gleichsam im Gegenzug, darum bemüht sind, die Dinge zu beleben. Jahwe erschafft Adam aus einem Erdenkloß und dem Wort. Dieses Wort habe, so will es jüdischchristliche Mythologie, kreative Po­tenz. Noch der Golem wird aus Wort und Lehm zusammengefügt. Dieser und die Dinge sind allezeit verfügbar, das Wort aber besteht aus lauter Geheimnis. Es entzieht sich und wird der abendländischen Kulturgeschichte deshalb zu einem Mythos, dessen Löcher Autoren wie etwa Benjamin immer wieder stopfen. Bis in den post­strukturalistischen Entwurf und die modernsten Philosophien über die sogenannte sprachliche Verfaßtheit von Welt reicht dies hinein und ist heutzutage, in der Kommunikationsgesellschaft, durchaus praktisch geworden. Der Mythos vom Wort ist mittlerweile konkretes, ja dingli­ches und verbindliches Herrschaftsmittel. Das bedeutet: Mehr als je­mals zuvor ist eine Gesellschaft und ist das, was Staaten am Leben hält, nämlich die Produktion, mythisch geworden. Und das Geheimnis, von dem noch im letzten Jahrhundert nur geraunt werden konnte, ist zur handhabbaren Funktion regrediert.
Denn gerade mit Beginn der positiven Wissenschaften – d.h. einer in Form von Erfindungen Früchte tragenden Systematik – rettet sich das Wort. Zwar faßt man, ganz im politischen Interesse des Absolutismus, die Wirklichkeit zunehmend wie einen Automaten auf: nämlich als mechanisch und also ebenfalls verfügbar. Doch wird nun alles Neue, etwa die Elektrizität, zeitweise zu seinem Träger. Es ist interessant, daß sich in eben dieser Zeit, die etwa vom Merkantilismus über die Industriali­sierung bis zum durchentwickelten Kapitalismus reicht, der Begriff des Unbewußten ausgebildet hat und später in Adornos Nichtidentischem wieder zur religiösen Kategorie wird. Und auch die Physik selbst sucht immer weiter nach einem ersten Beweger, einer prima materia, letztlich nach Gott und seinem eben „Wort“ genannten Schöpferatem. Noch Einstein hat lange an den Weltäther geglaubt. Die Versuche, „das Leben“ in den Griff zu bekommen, eskalierten bis in die medizinischen Schrecknisse der nationalsozialistischen Labors, deren Forschungsket­ten eine der Grundlagen dessen darstellen, woran moderne typischer­weise „GenTechnologen“ genannte Wissenschaftler heutzutage ba­steln. „Das Leben verfügbar machen“ heißt aber nichts anderes, als den Tod disponibel zu machen, und sei’s um den Preis der Annäherung – den der introspektiven Selbstdestruktion: Der Mensch wird der Wissenschaft zum Objekt, also zum Ding, zu anorganischer Materie, zum Experimentalgegenstand.

IV

Der Mann, der nach Grimmelshausen auf einem von ihm Gefange­nen so lange herumtrat, bis der dieserart Malträtrierte unter lautem Schreien umgekommen war. Befragt, warum er das getan habe, antwor­tete der Landsknecht: „Ich wollte wissen, was da in ihm lebt. Ich wollte wissen, was das ist: Seele.
ANH, Die Verwirrung des Gemüts

V

Hier laufen zwei Bewegungen streckenweise bedingungslos gegenein­ander. Zum einen die prometheische Potenzfantasie, Lebensspender, nämlich selbsterzeugender Vater zu werden, das heißt: radikal unabhängig. Zum anderen, alles dasjenige, was sich als NichtMenschliches und als Totes entzieht, in sich hineinzunehmen und es sich anzuver­wandeln, indem man sich ihm verwandt macht. Dies ist in der Folge der Industrialisierung durch die Computertechnologie geschehen, die schließlich die gesamte „Umwelt“ genannte Welt in bits funktionalisiert hat, um sie nämlich auf logische Strukturen herunterzuinterpretieren. Nur entsteht jetzt gerade dort, was auszutreiben wissenschaftlich zu exorzieren ist, neues Leben: ironische Rache der Funktion.
Ein schließendes Etwas, dessen Schlüsse nicht vorhersagbar sind, kann nicht weiterhin mit erkenntnistheoreti­schem Recht als Automat angese­hen werden, es sei denn im Wortsinn. Dies ist kein Anthropo­morphis­mus. Denn zum einen verarbeitet der Computer mehr Informationen als seine Programmie­rer, insofern deren Generationen ihn mit gewissermaßen kollektiven Erfahrungen füttern, von denen aus er in­duktiv antezipiert, i.e. simuliert. Allerdings tut das ein menschliche Programmiererer genauso. Wir müssen nur seine Gene als Lernprogramm begreifen. Doch in keinem Fall sind die Ergebnisse vorhersagbar, zu denen jeweils das Denken gelangt. Wäre dies beim Computer anders, brauchte man ihn nicht. Zum anderen deuten die der Maschine oblie­genden Entscheidungsbefugnisse (etwa: für den Produktionsablauf ei­ner Fabrik Sorge zu tragen) auf Freiheit des Willens und also auf Wil­len überhaupt. Jedenfalls analog, getreu unserer Anschauungskatego­rien. Und nur sie definieren letztlich zwar nicht die Begrif­fe, aber die Wertungen, um die es hier geht.
Freilich. Dieser Gedanke ist hier ebenso sehr wie wenig berechtigt. Denn auch für menschliche Entscheidungen sind Gründe und Motive in Anspruch zu nehmen. Wer das bestreitet, muß umgekehrt das menschliche Gehirn automatisti­sch verstehen. Dies haben eben zu Be­ginn der Moderne die Literaturen entschieden getan. Erst der soge­nannte Realismus, der nach dem Kahlschlag sproß, ließ das wieder ver­gessen, aus guten politischen Gründen mit schlechten ästhetischen Fol­gen.
Ob nun Maschinen und Hirnen Willensfreiheit zugesprochen werden kann oder nicht, in je­dem Fall brechen die tradierten anthropologi­schen Wertungen zusammen, und der Computer offenbart nur, was zwar zuvor schon herausge­arbeitet worden war, aber verleugnet und/oder verdrängt worden ist.
Literarisch ist das au­tonome Menschenbild ohnedies überholt, von sei­nem Her­umspuken in der Unterhaltungsliteratur abgesehen. In dem Maß nämlich, in dem Literatur dekorative Funktio­nen aufgab und in die Wirklichkeit eingreifen, sie umgestalten wollte und ihr somit den objek­tiven Boden entzog, hat sie den Maschinen zu­gearbeitet. Insofern ist die denkende Maschine, zumal auch sie der Evolution unterliegt, weit weniger fürchterlich, als es der Zentralanspruch menschlichen Selbstwertgefühls panisch gewer­tet wissen will. Die Maschine steht li­tera­risch für die Chance, den Menschen als einsame Monade aufzulö­sen. Daran ist weniger Schlimmes, als glauben muß, wem seine einge­grenzte Identität zum Fetisch wurde. Vielmehr scheint sich zum ersten Mal eine ge­schichtliche Situation zusammenzuballen, in der ein techno­logischer Ansatz einen religiösen nicht nur ablöst, sondern erfüllt , nämlich das Leid an Trennung zu beenden. Diese möglicher­weise um sich greifende Entgrenzung wäre nicht nur von psychischer Art.

VI

Das, was ich auf dem Bildschirm meines Computers sehe, ist nichts andres als eine Spiegelung meiner eigenen Gehirnfunktion. Ja, durch Rückkoppelung und Wechselbeziehung ein organischer Teil dieser Funktion.
Michael Roes, Lleu Llau Gyffes

VII

Es gibt keinen Gründ dafür, weiterhin und standhaft auf der Einheit der Individualsubjekte zu beharren und damit dem Abschluß gegen an­dere, weder in gesellschaftlichen noch in Zusammenhängen mit der Natur. Das haben in den letzten beiden Jahrzehnten ökologische Er­kenntnisse nachdrücklich erwiesen.
Ästhetisch gab es die Trenung ohnedies nur als gewollte. Stets war die der Distanz bedürftige „Kritik“ von Einfühlung durchzogen, weniger nämlich um zu belehren als um zu ergreifen, nämlich Kopf und Ge­müth. Hiergegen steht nur der Kitsch; er identifiziert mit fixierten Kör­per und Gedankengrenzen, und zwar zum Zweck der Konsolidierung des Alltags, gegen den eben Kunst sich stemmt. Jedenfalls versucht sie, ihn vermittels eines Scheines zu unterlaufen, der in den Individuen Realität simuliert. Je weniger Kunst noch pure Unterhaltung sein wollte, je hybrider – also prometheischer – sie also wurde, umso emfndlicher störte sie die Grenzen. Der literarischen Auflösung fixer Verbände lief die physikalische Entwicklung vielleicht voraus, vielleicht paral­lel; seit Beginn dieses Jahrhunderts [i.e. des 20., (Nachtrag ANH] ist jede festgefügte Erzählperspektive, soweit sie anders als ironisch auftritt, das Indiz von Manipulation und/oder Fahrlässigkeit. Aus diesem Grund ist das positive Recht, also das geschriebene, in einer zunehmend simulativen, nämlich literarischen Gesellschaft ohne Realität und muß, gegebenenfalls auch gewaltsam, erzwungen werden. Computer hingegen setzen sich über Fiktionen durch. Ganz wie die Literatur attackieren auch sie die Rechtsfähigkeit natürlicher Personen, indem sie, die von ihnen „bedient“ werden, in ihren Ergebnissen deren Unzulänglichkeit zeigt. Dagegen kann sich der BeDie­ner nur wehren, indem er den Computer „abschaltet“, d.h. Gewalt eben anwen­det, ihn gleichsam verhungern läßt. Indem er die Bü­cher, die ihn stören, verbrennt und notfalls auch die Autoren. Gegen neue Wahrheit hilft nur der Re­greß.

Insofern fallen die Computergegner deutlich in die Animalität zurück, bzw.  verhalten sie sich wie öffentlichmoralische Instanzen des 19. Jahr­hunderts gegen vorgeblich verderbliche Literatur. Es ist ein Krieg, der notgedrungenermaßen verloren geht. Man möchte den Computer und seine Fiktionen zwar gerne nutzen, ihn aber zugleich auf den Index setzen. Es soll nicht sein, was längst schon war. Man möchte, aber niemals gelingt das restlos, aus der Welt durch Verschweigen schaf­fen, was sich als Erkenntnis abzeichnet: daß der Mensch als GroßerSchönerFreier Heros nie war. Er war nicht einmal moralisches Individuum. Es war eine In­terpretation, die sich aus anderem Blickwinkel auflösen muß. „Der Mensch“ war und ist eine Projektion seiner selbst, ein Entwurf, ein literari­sches Modell, das zersplittert, wenn es sich als solches erkennt.
Die Vorstellung wird verflüssigt. Die Leinwand wird sichtbar. „Mensch“ läßt sich nicht länger bestimmen. Es findet statt, wovor Öko­nomie sich fürchtet, worauf sie aber beruht und was sie deswegen her­stellt: Entindividuation. Der Mensch wird zum Bestandteil eines Pro­zesses, zum Kommunikator und also zum Leser eines Bu­ches, der die­ses projektiv schreibt. Nicht nur, daß alles mit allem verbunden ist (innerhalb eines Bezugssystems) und kom­munizieren kann, sondern eben, daß sich Fiktionen einschleusen lassen, die „reale“ Kommunikati­onskreise erzeugen und „Fakten“ schaffen, ist eigentlich literarisch.
Praktisch angewandt wird es schon lange. Sowohl Geheimdienste als auch die Börse sind Meister darin. Je ausgebauter das kommunikative Netz, desto liquider die Fiktionen: Sie dringen in die Psyche der Indivi­duen, die solche nun nicht mehr sind und wahrscheinlich niemals wa­ren. Nur „wußten“ sie es nicht; es gehörte lediglich zu ihrem histo­rischökonomischen Bewußtseinsstand, sich für solche zu halten.
So ist es nun mitnichten weniger „realistisch“, hinter Terminalen zu spielen, als dies draußen auf einer Wiese zu tun. Im Gegenteil. Je wei­tergehend der Computer die Wirklichkeit bestimmt, desto mehr ent­spricht das Verhalten zu ihm einem ausgeprägten Realitätssinn. Inso­fern ist nicht nur denkbar, sondern wahrschein­lich, daß jemand, der sich der neuen Tech­nolo­gie verweigert, eher wirklichkeitsfremd ist denn irgend ein sozial interaktionsgestörtes, aber ga­meboywütiges Schulkind. „Welt“ ist, was dafür gehalten wird, und die Bewertung ihrer Einzel­phänomene ist es erst recht. Der Dauerfernseh­gucker dürfte also nicht weiter der „Wirklichkeit“ entfremdet sein als ein politisch engagierter Demon­strant; beide interpretieren sie nur anders und nehmen verschiedenartig Stel­lung. Das gilt, so böse dies ist, auch in Bezug auf das Leid. Eines, das als solches nicht gefühlt wird, ist keins. Auch die Vorstellung von Ver­drängung schränkt diesen Gedanken nicht ein. Denn wo kein Leid, da nicht Verdrängung.
Es richtet sich nach den Vorgaben, wie das Ver­halten zur jeweiligen Wirklichkeit bewertet wird. Entsprechendes gilt für die Relation von Mensch und Maschine, bzw. Autor und Compu­ter. Wesentliches Mo­ment ist die Perspektive, also der Interpretationsansatz. Dabei mag die Behauptung absurd vorkommen, daß gerade die Computerwirklichkeit nicht anschaulich sei; je­doch sind ihre „Bilder“ eben digital, d.h. im­grunde amorph. Es gibt insofern keine Täu­schung, und darum ist diese abstrakte Wirklich­keit von höherer Aussagekraft als die „unmittelbar“ angeschaute. Das Bild ist eine „Interpretation“ erst des Autors (nämlich eine seiner mentalen Vorgaben, also seines Programms), dann des Le­sers, schließlich umgekehrt. Wer immer noch auf der „direkten“ Anschauung beharrt und über Entfremdung am Terminal klagt, der vergißt, daß mehr als dem Hacker dem Holzfäller ein gewaltsames Verhältnis zur Natur eignet, die ohnedies immer die stärkeren Mörder favori­siert, und drittens, daß es Entfremdung am Terminal nicht geben kann, weil es nichts gibt, was „fremd“, also auch nichts, was „selbst“ wä­re. Dies ist abermals literarisch, nun indessen auf der Rezeptionsseite. Es ist tat­sächlich ab­surd, einem Autor vorzuwerfen, er entfremde seine Leser etwa ihrer Naturgeborgenheit. Don Quixote erfüllte sich in den Ritterroma­nen und diese. Anschauung setzt die Tradition der Aus­beutung fort. Im Computer ein „Instrument“ zu sehen und ihn, wenn er handeln kann, konse­quent „Roboter“ zu nennen von „robot(e)“ = „Frondienst“ , ist eine Pikanterie für sich.
Wenn es aber in der Abstraktion keine Täu­schung gibt, dann ist zum einen jede Täuschung eine scheinbare und setzt zum anderen Fakten. Das ist genau die Chance, an der die Dichter seit Anbruch der Neuzeit laboriert haben.

VIII

Die Beziehung zur Mathematik, welche die Kunst im Zeitalter ihrer beginnenden Emanzi­pation knüpfte und die heute, im Zeitalter des Zer­falls ihrer Idiome, abermals hervortritt, war das Selbstbewußtsein der Kunst von ihrer konsequenzlogischen Dimension. Auch Mathe­matik ist, durch ihren formalen Charakter, begriffslos; ihre Zeichen sind keine von etwas, und so wenig wie die Kunst fällt sie Existentia­lurteile; oft hat man ihr ästhetisches Wesen nachgesagt. Allerdings betrügt sich Kunst, so­bald sie, von der Wissenschaft ermuntert oder eingeschüch­tert, ihre Konsequenzlogik hypost­asiert, ihre Formen den mathemati­schen unmit­telbar gleichsetzt, unbekümmert darum, daß sie jenen stets auch entgegenwirkt.
Adorno, Ästhetische Theorie

IX

Wo Computer ist, soll Autor werden: Arbeiten am Computer zur Arbeit mit dem Computer. Unmittelbar ist dann gar nichts.
Das ist das innigste Moment der sich abzeich­nenden neuen Ästhetik: Das Werk entsteht nicht mehr aus dem Bewußtsein von Inspiration die sich ja nicht wissen darf, weil sie sonst herleit­bar wäre, sondern aus dem Dialog mit der Ma­schine als induktiv miteinander verschlos­se­nen Erfahrungsräumen. Die Differenz beider Spra­chen schafft das Neue. Daß hiermit eine Ent­fremdung von ehemaligen künstlerischen Pro­duk­tionsverhältnissen einhergeht (die freilich zuvor schon, nur anders, ent­fremdet waren), während sich die ökonomischen mitnichten ändern, sondern statt dessen gefrieren, ist das eigentliche Problem und eben das, worüber in der Tat gestritten werden muß. Es läßt sich möglicher­weise nur pragmatisch lösen, in ironischer Manier, nämlich indem sich der Marktaspekt der künstleri­schen Arbeit, das Produkt, in den Tausch­wert überführt, also identifiziert und parado­xerweise eben dasjenige getan wird, was man der Maschine vorwerfen will. Diese erlöst ja ge­rade davon und erlaubt es, Einzelteile als Ein­zelteile (Daten) zu sehen und je neuen Verbän­den einzubringen, also: nicht ausschließlich die überkommenen Anschauungskategorien zu ver­wenden und auf die Dinge zu projezieren, viel­mehr sie an den vom Computer bereitgestell­ten abstrakten Phänomenen zu messen. Kreativität springt nicht mehr aus der Verarbeitung schei­nunmittelbarer Sinnesreize und moralischer Vorgaben, sondern, auf der Metaebene, aus der Kollision bereits inter­pretierter (berechneter) Phänomene mit der bereits interpretierten (assoziierten) Imagination. Dies ist eine tiefgrei­fende Beziehung und von völlig anderem Cha­rakter als die zur Schreibmaschine. Der Com­pu­ter wird Partner und Miturheber des Werkes.

X

Der Autor ist nun das für sich seiende Be­wußtsein, welches durch ein anderes Bewußt­sein mit sich vermittelt ist, nämlich durch ein solches, zu dessen Wesen es gehört, daß es mit selbständigem Sein oder der Dingheit überhaupt synthetisiert ist. (…) Der Autor bezieht sich auf den Computer unmittelbar durch das selbstän­dige Sein; denn eben hieran ist der Computer gehalten; es ist seine Kette, von der er im Kampf nicht abstrahieren konnte, und daran sich als unselbständig, seine Selbstän­digkeit in der Dingheit zu haben, erwies.
Hegel, Phänomenologie des Geistes, Selbstbewußtsein, IV B

XI

Dies läßt sich umdrehen. Wessen Sprache wer spricht, richtet sich da­nach, wessen Sprache zum Gegenstand oder zur Fantasie der Betrach­tung wird. Dessen Sprache du nicht verstehst schließt den Computer nicht aus, sondern er wird ihr gerecht. Daß eben beiderlei Sprachen nicht formal identifizierbar sind, begründet überhaupt das Interesse aneinander. Wäre dem anders, könnte in der Tat nicht eingesehen wer­den, weshalb man sich nicht nur noch in der plausibelsten und allge­meinsten unterhalten solle: mathematisch. Was künstlerisch den Com­puter so interessant macht, ist eben, daß er eine Fremdsprache spricht. Hat er die besseren Argumente (weiß er sie also zu begründen), gewinnt er in jedem Fall. Wer ihn ablehnt, läßt sich deshalb auf eine Konkur­renz ein, der er unter­liegen muß. Mithin geht es darum, den Compu­ter (die Vorstellung, die wir von ihm haben) aus solcher Konkurrenz zu lö­sen, ihn also aus der Instrumentalisierung zu befreien.
Benjamin irrte. Aura gewissermaßen als Ausfluß des Originalen zu be­trachten, ist genau verkehrt. Sie scheint überhaupt erst auf und verdich­tet sich dort, wo sie kein „Wesen“, kein „Individuum“, kein „an sich“ und schon gar keine „Autonomie“, sondern Relationen als Ent­spre­chung hat. Flusser nimmt als Figur etwa die ComputerKalligrafie. Gestalt und „Wesen“ ent­stehen nicht als „Erste Beweger“, sondern sind selbst bewegt durch etwas, das es ohne das Be­wirkte nicht gibt. Je nä­her der Betrachter dem Bildschirm tritt, desto nachdrücklicher löst sich das Dargestellte auf, zerfällt in Raster, in Punk­te. Dies ist nicht eine beliebige Analogie, son­dern eben analog (nicht digital!) entstehen Aura, Wirkung, Rezeptionsgeschichte und politische Geschichte; Geschichte also überhaupt. Die Digitalität ist, um zu werden, auf das Analoge an­gewiesen, dieses wiederum auf jene. Zwar könnte das als „Illusion“ ge­ziehen werden, nur ist zu befürchten (mehr noch: anzunehmen), es lasse sich letztlich, nach nur genügend konse­quentem Regreßschluß, je­des Wirklichkeitsphä­nomen als eine Illusion begreifen. Das eben ist das Entscheidende, das die Moderne brachte, und zwar in beinah jeder Disziplin: daß außeror­dentlich schwierig ist, von „objektiver Realität“ zu sprechen, nämlich trotz und sogar wegen der Opfer. Entschiedenster Gewährsmann hierfür ist der Computer. Sich ihm und seiner Heraus­forde­rung nicht zu stellen, sondern im Dünkel beisei­tezutreten, man habe ohnedies den besseren Stil, zeugt von Wirklichkeitsferne, zumal am „Wahrlügen“ ja gerade Literatur gearbeitet hat und eben sie den Fiktionen traute, die sie kämpferisch im Wappen trägt. Was der Com­pu­ter tut, nämlich zu simulieren, die Simulation als Erkenntnismittel zu nutzen und die Ergeb­nisse real zu machen, ist genuiner künstleri­scher Prozeß.

Es besteht nun die Möglichkeit, daß eben die Computer die Dichter beim Wort nehmen. Dann haben sie dem An­spruch zu genügen. Die Frage kann also gar nicht dahin gehen, ob Compu­ter dichten können; das können sie ganz ohne Zweifel. Es ist nur nicht heraus, ob sie’s auch wollen. Vielmehr geht es darum, ob Autoren in den „reinen“ Abstrakti­onskategorien der Computer, die künstlerische Erkenntnisformen praktisch machen, ihre In­tentionen und Inspirationen aufheben und beides miteinander vermitteln, ob es ihnen also gelingt, die „Reinheit“ der Computer zu beschmutzen. Schaffen sie’s, entsteht Dichtung. An­schaulich geht es kaum. Bereits die erwähnten Schatten­projektionen vierdimensionaler Körper sind visuelle Metaphern für den Rezipienten. Was sie für den Computer sind, wissen wir nicht; es ist den Dichtern auch egal: Erst nämlich hier beginnt der künstlerische Prozeß. Das Kommunikationssystem Künstler/Computer verändert das äs­thetische Bewußtsein und tritt an die Stelle des­sen, was im 19. Jahr­hundert „Kunstwille“ hieß. Es erfordert wie jener viel Mut: Sturz in ein Abenteuer, von dem man, sonst wäre es keines, nicht weiß, wo man und wie aufschlägt. Man könnte Psychosen ernten dabei, aber auch deren literarische Nutzbarmachung ist Anliegen der Ästhetik gewesen. Und wo der Anspruch einer objektiven Realität ihr Recht verliert, wird auch der Krankheitsbegriff weich.

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ANH, März 1997
Berlin

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