Eine Form der Traurigkeit. Das Internet. Freunde verlieren.

[Tschaikowski, Dritte Sinfonie.]

Abends bei E., dem poetisch bewunderten älteren Freund, der für eine Woche mit seiner Tochter nach Berlin gekommen war, bevor er dann zu Verwandtschaft weiter- und schließlich nach Italien zurückreisen wird; dort wollen wir uns Ende des Monats auf seinem Viertel Olivberg treffen. Aber kaum sitzen wir auf dem Balkon, und ich erzähle von meinem Projekt, dem, was mich poetologisch derart beschäftigt, blafft er: „Das interessiert mich nicht“ und setzt hinzu: „Das Internet ist etwas für Hohlköpfe.“ Ich bin spontan verärgert, er hat in seinem Leben zweidreimal zugeguckt, wie jemand ins Netz geht; er arbeitet ja nicht am Computer, besitzt gar keinen, formuliert wie seit je auf seiner Reiseschreibmaschine. Er kennt nicht eine spezielle Site, schon mit seinem email-Konto geht er nicht um, das ihm Freunde eingerichtet haben, die bisweilen für ihn hineinsehn. „Du verrennst dich, du bist auf einem falschen Weg. Das Internet hat überhaupt keine Bedeutung, jedenfalls nicht für die Kunst. Es ist ein technisches Mittel, mehr nicht, das im übrigen die Leute analphabetisiert und sie dem Verblendungszusammenhang aber auch völlig aussetzt. Wer ins Internet geht, liest keine Texte mehr.“
Es ist kein Ankommen dagegen, er urteilt über etwas, von dem ihm selbst die Anschauung fehlt. Wird um so dogmatischer. Sämtliche Argumente sind von Acker und Feld her gesprochen, nämlich aus einer Natur-Produktion, die völlig Brüssel übersieht.
Ich schlucke meinen Ärger noch hinunter, versuche zu erklären, auseinanderzusetzen und darauf hinzuleiten, daß sich im Netz immer mehr Belege für die anthropologische Kehre finden… daß es eben eben n i c h t bloß um ein technisches Instrument, sondern um etwas geht, das in die Köpfe und Seelen – und in die Geschlechter – eindringt und sie verändert. Ich weiß (und zwar genau, wie eine Romanfigur so etwas wüßte), daß ich eine Spur verfolge, die von enormer Bedeutung ist, gerade auch weil viele derer, die derzeit den poetischen Ton angeben, dort nicht hinschauen … nicht hinschauen wollen, d a s ist es, was mich so fuchst, diese Mischung aus Ignoranz und – ich versteh’s ja – Angst. Wieso ist es so schwer zu akzeptieren, daß eine oder zwei, vielleicht auch drei neue Generationen bereits Fähigkeiten entwickelt haben, die schon 40jährigen nicht mehr zugänglich sind, geschweige mir, geschweige Älteren? Weshalb das nicht mit Neugier und auch, ja, Achtung betrachten und genau beobachten? Weshalb nicht zu verstehen versuchen? Weshalb sofort immer dieses „Das interessiert mich nicht, das ist affirmativ, das ist ohne jeden Belang und für Schwachköpfe gemacht“?
Das Gespräch wurde derart ungut und persönlich („Wenn du so redest, bist du für mich nur noch ein Guru…“), daß ich mittendrin aufstand, „dazu habe ich keine Lust“ sagte und ging. Es war 23.30, draußen stand die warme Nacht, aber mir tat das Gespräch zu weh, als daß ich mich an den luziden Farben hätte erfreuen können, mit denen sie glitzte. Schon die Ignoranz der Gegner verletzt mich, aber ich rechne mit ihr. Bei Freunden ist sie kaum zu ertragen.




[Dieser Eintrag gehörte eigentlich ins „Tagebuch“, wäre er nicht von solch poetisch objektivem Interesse, daß Die Dschungel geradezu gezwungen sind, ihn ins „Arbeitsjournal“ zu stellen.]




P.S.: Daß man auf diesem Weg Freunde verliert. Nicht nur, daß sie nicht mitgehen können oder wollen. Sondern daß sie einem das einfühlende Verständnis verweigern. Dabei reichte es völlig, sagten sie wie Mahler über den Schönberg-Kreis (und vorher Brahms über i h n): „Das verstehe ich nicht mehr.“ Denn ich versteh „es“ selbst ja kaum.

12 thoughts on “Eine Form der Traurigkeit. Das Internet. Freunde verlieren.

  1. Der verlust von Freunden auf diese Weise ist eine schmerzliche Erfahrung, auf die sicher jeder gerne verzichten möchte.
    In einem Punkt hat der Freund allerdings recht: Wer ins Internet geht, liest keine Texte mehr.
    Vermutlich hat er recht aus anderen Gründen als er sie selbst hat, aber, er hat recht.
    Alle Untersuchungen zum Blickverlauf und zur kognitiven Aufarbeitung von rezipierten Informationan am Monitor zeigen, dass Texte nicht mehr so, wie auf Papier gelesen werden.Das Geschriebene wird vielmehr „abgescannt“. Zeilenweise -aber anders als bei der „papierenen Blickspanne“- überflogen. Nach Stich- und Schlagworten durchsucht, und in einer -vom Druckwerk üblichen- abweichenden Form der Informationsaufnahme verarbeitet.
    Gedruckte Texte werden gelesen und (im günstigsten Fall) verstanden. Bildschirmtexte werden überflogen und entnommene Informationen werden „zusammengereimt“.
    Jedoch, sich dem Phänomen zu verweigern, oder den Erwerb der für den Umgang mit dem Medium notwendigen Kompetenz zu vermeiden, führt -außer in die Isolation- nirgendwohin.

    1. @Carter. Wie Sie aus Ihrer Reaktion selber ersehen (denn Sie haben ja lesen müssen, und zwar keinen auf Simplizität zugerichteten Text, sondern einen, der sich elaborierter Ausdrocksformen bedient), stimmt das nicht ganz.
      Aber selbst, w e n n es stimmte, und selbst, wenn es zu einer „neuen“ Form der lesenden Rezeption käme, – wäre es dann nicht g e r a d e des Dichters,sich darum zu kümmern und eine neue Form zu entwickeln, die die künstlerische Idee darin einbettet?

      Das ist es, wofür Die Dschungel angetreten sind.

    2. Ja und nein. Es stimmt schon. Im statistischen Mittel. D.h. es wird immer Leute geben, die Texte unabhängig vom Medium auffassen (ebenso wie es welche gibt und geben wird, die es eben medienunabhängig nicht aufnehmen.)
      Wer um die Mechanismen der Perzeptionsverschiebung weiß, kann ihnen -unter Kraftanstrengung- auch entgegenwirken.
      Der Aussage, dass es gerade des Dichters ist, sich mit dem „neuen“ Medium auseinanderzusetzen, kann ich nur zustimmen. Es kann die konstruktive Auseinandersetzung mit dem Medium fördern. Ohne „Der Schockwellenreiter“ von John Brunner hätte ich mich nie so intensiv für die technischen Auswirkungen der „Computerisierung“ interessiert, wie ich es dann tat. Ausserdem entwickelt sich Kunst m.E. ja auch mit und durch ein Medium.

      @ferromonte: Es handelt sich nicht um eine Ansicht, sondern um eine Feststellung. (Nielsen, Jakob: Avoid PDF for On-Screen Reading, 200; Nielsen, Jakob: Why Web Users Scan Instead of Read, 1997; Kurt, Prof. Dr. J: Zur Rolle der Blicksteuerung bei Lesestörungen, 2000; Wickens, C.D. & Baker, P.: Cognitive issues in virtual reality; In W. Barfield & T.A. Furness, III (Eds.), Virtual environments and advanced interface design (pp. 514-541). New York, NY, USA: Oxford University Press, 1995; Hartwig, Helmut: Apollo jagt Daphne. Ovidsche Verwandlungen und digitale Metamorphosen In: Ästhetik und Kommunikation, 24. Jg., H. 88, S. 85-94, 1995; Cutting, J.E.: How the eye measures reality and virtual reality. Behavior Research Methods, Instruments and Computers, 29, 27-36, 1997; Greenlee, M.: Visual working memory: Psychophysics and fMRI, 2002; etc..etc…etc….)

  2. welche bedeutung das internet wirklich hat, ist sehr schwer festzumachen. anfangs schwebt man in begeisterung und erstaunen, später auch skepsis; ist es ein großes weltlexikon oder eine müllhalde? oder beides? jedenfalls ist es ein arbeits- und kommunikationsinstrument.
    ob und welche bedeutung ist für die kunst hat — schwer zu sagen. ich neige dazu, ihm ebenfalls keine beizumessen, für die kunst. (deshalb auch mein erstaunen über ihre ernsthaftigkeit mit dem literarischen weblog. einerseits versteh ich’s und finde es großartig, andereseits denke ich mir, its blowin‘ in the wind. aber ich weiß wie nahe ich dem irrtum bin. es kann auch genau anders sein, es kann eine viel größere bedeutung haben als die klassische buchform bzw. papierene publikationsform. ich kanns nicht sagen.)
    aber als quelle der inspiration bzw. anregung, ein ort spurensuche, des findens von ideen und abbildern von persönlichkeiten: ja. da ist es unleugbar etwas großartiges, aber nicht unentbehrliches.
    außerdem ist es ein tolles spielzeug.

    edit: ich sehe den künstler immer als schamanen, und der braucht für sein tun medien und web nicht, nur seine arbeitsinstrumente.

    @r.c.: ich teile ihre ansicht nicht. ich gehe ins internet und lese sehr wohl noch texte und bücher, und gelegentlich überfliege ich texte auf papier genauso wie webtexte, die ja viel einfacher zu publizieren sind als gedrucktes, weshalb sich auch noch mehr entbehrliches unter den webtexten findet. das ist eine frage des umganges mit dem medium, und der will eben gelernt sein.

    1. Blowin‘ in the wind… Die Produktion manches gerade jungen Schriftstellers sieht so aus, daß er sehr häufig über Jahre in den Wind hineinschreibt, die vieler alter Schriftsteller, die ihr Dasein heute in sozialen Auffangheimen fristen, übrigens auch. Das unterscheidet sich nicht so sehr von dem Unternehmen Der Dschungel. Andererseits kann ich hier durch eine ganze Reihe von Statistiken ganz gut abschätzen, welche Zugriffe und, daraus erschlossen, wie viele Leser dieses Ding bereits hat. Die Versuchung, auf die referrers zu schielen, ist enorm. Um so größer muß der Formwille sein, auch wenn er wieder Leser kosten sollte (und wirklich kostet: Je privater eine Eintragung, desto größer die Kommentarquote; wir Fiktionäre beobachten das genau).
      Hierin liegt einer der Gründe, warum Die Dschungel nicht einmal den Fiktionären selbst lasches, privates Geplauder durchgehen lassen. Ist dieses jedoch formuliert-gespitzt, kann es als Dialogsequenz ohne weiteres stehenbleiben; dort wird der Roman dann Schauspiel-Fragment.
      Und vergessen Sie nicht, Die Dschungel haben dieses ausgefeilte Instrument seit gerade 57 Tagen an der Hand. Wir sind uns sehr sicher, daß sich unser zugleich poetisches wie formales Abenteuer herumsprechen wird, und diejenigen, die es zunehmend begleiten, sind ja nicht seine schlechtesten Kommunikatoren. Einen Scheck auf die Zukunft zieht aber j e d e Kunst. Ob er gedeckt, ob er ungedeckt ist, wird sich immer erst erweisen.

    1. zorra, so sind männer, wenn sie leidenschaftlich ihre ansichten vertreten … das endet tragisch. deshalb gibt es seit vielen tausenden jahren kriege.

      edit:
      ich habe auch vor 15 jahren auf ähnlich weise einen freund verloren. und wirklich verloren, das wird nie wieder.

    2. Das sagte ich nicht. Aber wenn Sie permanent „dumm“, „verrannt“, ja sogar „politisch affirmativ“ genannt werden, bekommt auch für Sie das innigste Verhältnis Risse. Dennoch hoff ich, daß sich das wieder einrenkt. Aber wir sind beide Dichter, und wenn ich nicht über meine Arbeit reden darf, weil ich dann moralische und gehässige Verhaltungen gemacht bekomme, sehe ich in einer solchen Verbindung auf Dauer keinen Sinn. Das Problem bei leidenschaftlichen Arbeitern ist nämlich dieses: Sie s i n d ihre Arbeit. Der Begriff etwa das Hobbies ist völlig irrelevant; so etwas gibt es einfach nicht.

    3. Wir haben uns auch schon mal fast geprügelt. Und das erste, was er mir vor nun 18 Jahren sagte, nachdem wir uns davor zwölf Jahre lang nicht gesehen hatten… ich hatte ein kleines Stipendium in Olevano Romano und wußte nicht, daß er etwas oberhalb auf dem Berg hinterm cimitero ein kleines Grundstück hatte (und hat)… was er mir also sagte… er stand plötzlich in der Tür meines großen Raums in der Casa Baldi, klopfte an, wartete nicht ab, sondern kam rein… fassungslos sah ich ihn an… das erste, was er damals sagte, war nicht „Guten Tag“ oder etwas Höfliches dergleichen, sondern „Ich wollte mal sehen, ob aus Dir ein Schriftsteller geworden ist“… und noch in derselben Nacht (zu dritt bretterten wir auf seiner Einmann-Vespa aus dem mittelalterlichen Ortskern den steilen, engen Weg zur Casa Baldi hoch: er, seine damalige Frau und zwischen beiden ich)… noch in derselben Nacht schob er nach, als hätte er seine eigenwillige, trotzig-harte Begrüßung einfach fortsetzen wollen: „Nun muß ich noch sehen, ob du auch ein g u t e r Schriftsteller bist.“
      Nur um Ihnen ein wenig diesen heftigen, unkorrumpierbaren, aber gänzlich ums eigene Werk konzentrierten Charakter zu umreißen. Lesen Sie „Brandig“, Gerd-Peter Eigner. Dann werden Sie verstehen.

    4. es ist schwer einen menschen weiterhin als freund zu betrachten wenn er das eigenste innere wesen für nicht würdig oder gar für dumm und unnötig hält. auch wenn es diesem menschen in dem moment gar nicht bewusst war wie sehr dies eine persönliche beleidigung ja respektlosigkeit war.
      darüber hinwegzusehen und die freundschaft evt. auf einer anderen ebene weiterzuführen ist manchmal möglich… manchmal
      aber schmerzhaft ist dies in jedem fall
      weil man sich oder dem anderen etwas vormacht und das sollte ja vor einem freund nicht nötig sein
      wir müssen ja tagtäglich gegen windmühlen rennen… dann nicht auch noch in der einzigen möglichkeit sich gehen zu lassen und ganz selber zu sein ohne angst vor dem knüppel…

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