Zum Burschen: „D a s sind wir, so mit euch zu sprechen.“ „Ach so“, antwortete der, guckte grübelig schief und verzog sich. In Buenos Aires hätte man fortan ein Auge auf ihn gehabt, die Daten sämtlicher Telefonate wurden seit Jahren gespeichert und bei Bedarf einer Sichtung unterzogen, Goltz hatte, seinerzeit, auch dieses im Verbund mit der europäischen DaPo und Ungefuggers Sicherheitsstaffel im Europarat hartnäckig durchsetzen lassen, damals, als die Kommandozentrale der Tranteau zerstört und die holomorphe Rebellin selbst gelöscht worden war… zu früh zu früh! er hatte seine Wut kaum anbinden können. Die ganzen Daten waren mit den Selbstprojektoren vernichtet worden, Nukula Nuklea, hatte Goltz damals gedacht, genau dasselbe wie, übrigens, der bei der Gelegenheit inhaftierte Deters. Goltz hatte mit Ungefugger telefoniert: „Wir müssen ein Archiv anlegen, ein riesiges Archiv, auf das man über die genetischen Signaturen jedes Bürgers bei Bedarf zugreifen kann.“ Die Signaturen waren auf Chipcards gespeichert, jeder Porteño trug sie wie eine Greencard als Ausweis bei sich – sowieso, da sie zugleich als Beleg für die applizierte Wahrheitsimpfung diente. Man konnte die Card sogar als Zahlungsmittel verwenden, obwohl im täglichen Geschäft das Chiroscan-Verfahren vorgezogen wurde. Jedenfalls sei die massenhafte Datenspeicherung, hatte von Zarczynski, der schon damals das Ministerium leitete, vorm Europarat argumentiert, für „die Zwecke der Vorbeugung, Untersuchung, Feststellung und Verfolgung von Straftaten, einschließlich Terrorismus“ unabdingbar. Dabei hatte er sich auf Beschlüsse berufen, die von Buenos Aires’ Bezirkschefs bei ihren Gipfeltreffen nach den Terroranschlägen von Salamanca und Madrid auf Anraten der SZK getroffen worden waren. „Es ist geraten, daß die Bezirksregierungen in direktem Zugriff auf die Fernmeldefirmen jedes Telefongespräch im Festnetz oder per Handy archivieren, ebenso SMS-Kurzmitteilungen und sowieso die Übertragungsprotokolle ihrer gesamten Euroweb-Kommunikation.“ Selbstverständlich hatte es anfangs Widerstände gegeben, nicht nur den sentimentalen Protest der Datenschutz- und Bürgerrechtsverbände, sondern vor allem seitens Frank Phersons, dessen PHERSON’S LIMITED sich mit einer Mehrbelastung in Höhe dreistelliger Millionenbeträge konfrontiert sah; andererseits hätte von Zarczynskis Vorstoß, sofern erfolgreich, den Markt ausgewaschen. Denn es könnten, so eine Expertin des Bundesverbandes der Europäischen Industrie (BEI), vor allem kleinere Euroweb-Firmen die schätzungsweise 50 Millionen Euro kaum aufbringen, die für die nötigen Programme aufzuwenden wären: „Die müssten dicht machen.“ Zwar waren einige Daten für fiskalische Zwecke sowieso gesammelt worden, aber auch diese hatten gemäß des europäischen Datenschutzrechts nach achtzig Tagen gelöscht werden müssen. Ungefugger selbst hatte das Vorhaben selbstverständlich unterstützt, schließlich war es nur noch um die Dauer gegangen, für welche die Daten einsehbar gehalten werden mußten. Die Kostenfrage war einerseits vermittels deutlicher Steuervorteile, andererseits durch staatliche Zuwendungen einigermaßen in den Griff bekommen worden. Was in den durch AUFBAU OST ohnedies arg belasteten Haushalt weitere Lücken gerissen hatte und selbstverständlich ein weiteres Mal auf Ungefuggers politisches Stimmungsbarometer gedrückt hatte.
Aber, selbstverständlich, sie waren nicht in der Zentralstadt. Das war, dachte die Goltzin, der Osten, nicht einmal jeder Zehnte war registriert, vielleicht nicht einmal einer von zwanzig. Man wußte ja nicht einmal, wieviel humanoide Mutanten – Schänder, Devadasi, Hundsgötter – es gab, von den animalischen und den Hybriden zu schweigen. Die Asfaltierungskampagne brachte nahezu täglich neue Funde an den Tag. Und: Wie anders war nun alles geworden! das dachte er a u c h, dieser zur Frau verwandelte Polizist, als der verärgerte Bursche um die nächste Ecke verschwunden war. Ich würde ihn heutzutage beobachten lassen, weil er möglicherweise mit Buenos Aires kooperiert, kleiner Spitzel, dachte Cordes, der die Szene geträumt hatte, jedenfalls teilweise, wenn auch nicht so klar konturiert, er sah nur ein ihm fremdes Gesicht.
Es war früher Morgen, der Wecker hatte noch gar nicht geklingelt, als Cordes mit diesen Bildern erwachte. Denn Goltz’ Instinkt hatte in der Goltzin durchaus nicht getrogen. Nämlich hatte der Bursche, nennen wir ihn Präparat, auf dem Nachhauseweg grummelnd einen Entschluß gefaßt, sein Handy aus der Hosentasche geholt und Brem angerufen, den man im Osten Gelbes Messer nannte. In der Zeit nach Nullgrund avancierte der, zusammen mit dem Roten Mahmud, zum neben Odysseus selbst meistgesuchten Ost-Terroristen; davon war aber bislang keine Rede. Cordes, noch immer in dem Hochbett dösend, sah ohnedies die Zusammenhänge nicht, sondern nur, wie sich über die Siedlungsszene aus Hänger Achäer Unimog Frauen ein Gesicht projezierte, transparent nur, aber eine minutenlang stehende Überblendung: und tatsächlich nicht das ganze Gesicht, sondern bloß das linke, überschattete Auge, dreieckig hingen die Brauen darüber hinab, wenig spirriges Haar jenseits der Schläfen; schartig fast, wie erodiert, die Hauterhebung unterm schrägen Tränensack, und die Nasenwurzel derart eingekerbt, als hätte der Mensch die Lefzen geschürzt. So drohend war der Blick.
Hintergrund der Telefonüberwachung in Buenos Aires (ARGO). TELEFONKUNDEN GERATEN INS VISIER DER EUROPÄISCHEN TERRORFAHNDER (© dpa)
Der ganz normale Telefonkunde und Internet-Nutzer gerät zunehmend ins Visier der weltweiten Terrorfahnder. Zum ersten Mal haben die europäischen Justizminister letzten Donnerstag einen Vorschlag besprochen, der auf eine jahrelange Speicherung aller Verbindungsdaten „auf Vorrat“ abzielt.
dpa – Datenschützer sprechen von einem „Generalverdacht“ gegen Otto Normalnutzer. Und die Industrie warnt vor einer Kostenlawine, falls der EU-Plan Wirklichkeit wird. Ins Rollen gebracht hat die Sache ein auf EU-Ebene eher ungewöhnliches Bündnis aus Briten und Franzosen, Schweden und Iren. Sie argumentieren, die massenhafte Datenspeicherung sei nötig für „die Zwecke der Vorbeugung, Untersuchung, Feststellung und Verfolgung von Straftaten, einschließlich Terrorismus“. Sie berufen sich dabei unter anderem auf Beschlüsse, die Europas Staats- und Regierungschefs bei ihren Gipfeltreffen nach den Terroranschlägen von New York und Madrid getroffen hatten.
Im Kern sieht der geplante Rahmenbeschluss vor, dass alle Daten zur Rückverfolgung eines Telefongesprächs im Festnetz oder per Handy gesammelt werden. Das gleiche soll für SMS-Kurzmitteilungen und Internet-Kommunikation aller Art von Übertragungsprotokollen über E- Mails bis zur Sprachübermittlung per Breitband gelten, wenn ein Mitgliedstaat keine Ausnahme beschließt. Als Speicherdauer in allen 25 EU-Staaten diskutierten die Minister eine Spanne zwischen drei Monaten und drei Jahren.
Die deutschen Datenschützer lehnen dies ab. „Kommunikation muss frei sein und auch anonym bleiben können – das ist die Voraussetzung für Demokratie“, sagt Peter Büttgen, Sprecher des Bundesbeauftragten für den Datenschutz in Bonn. Er bezweifelt den Nutzen einer solchen Sammelwut. Allenfalls bei einem konkreten Verdacht könne es sinnvoll sein, dass die Fahnder mit einer Art Internet-Durchsuchungsbefehl gezielt die Festplatte eines Dienstanbieters überprüfen.
Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) wendet sich schon aus Kostengründen gegen den Vorstoß. Große Telekom-Unternehmen würden mit dreistelligen Millionenbeträgen belastet, sagt BDI-Expertin Christiane Eichele. Kleinere Internet-Firmen könnten geschätzte 50 Millionen Euro für die nötigen Programme erst recht nicht aufbringen: „Die müssten dicht machen.“ Einige Angaben sammeln die Unternehmen für ihre Abrechnungen zwar sowieso. Aber auch diese müssten gemäß deutschem Datenschutzrecht nach 80 Tagen gelöscht werden.
Möglicherweise müsste über eine Kostenerstattung nachgedacht werden, meint Bundesjustizministerin Brigitte Zypries, „aber das würde dann ein teures Vergnügen.“ Die Ministerin freut sich, dass einige EU-Staaten auch ihre grundsätzlichen Bedenken teilen. Obwohl die Attentäter von Madrid dank gespeicherter Telefondaten aufflogen, müssten Eingriffe in Freiheitsrechte wohl überlegt sein. Die Initiatoren indes halten an ihrer Idee fest. Das Thema wird Europas Justizminister weiter beschäftigen.