Sonntag, den 21. August 2005.

8.44 Uhr:
SonntagmorgensChaos. Und ArbeitsMahnung.

[Imrat Khan, Raga Puriya Dhanashri Alap.]

Eine Bemerkung EvLs geht mir nach; ich las soeben die Mail: „Manchmal frage ich mich, ob Sie wissen, was Liebe ist.“ Sie bezieht das auf die zweite der beiden kleinen Szenen mit meinem Jungen, die ich gestern ins Tagebuch hineinformulierte. Ich denke jetzt, nein, fühle jetzt darüber nach, da ich wiederum formuliere, aber mein Kind sitzt am Küchentisch und wartet aufs Frühstück. Daß mir manchmal die Suche nach einer angemessenen, mehr noch: transzendierenden Beschreibung, daß mir diese Schreibsucht also manchmal wichtiger zu sein scheint als soziales Verhalten – und die Arbeit an einem Buch sowieso. Wenn man sehr streng mit sich ist (wenn ich sehr streng mit mir bin), dann ist an EvLs Bemerkung, durchdenkt man sie konsequent, etwas dran. Aber es stimmte a u c h wieder nicht zu sagen: Nein, ich liebe mein Kind tatsächlich nicht. Das wäre sogar n o c h weniger richtig.
Bin verwirrt.
Und frühstücke mit dem Jungen jetzt.

11.12 Uhr:
[Imrat Khan, Rag Mandhur Ranjani.]

Und was, wenn dieses ständige Formulieren nichts als der vielleicht auf immer vergebliche Versuch ist, sich den Dingen, der Welt, den Gefühlen zu nähern? Was, wenn dies eine – meine – Art ist, lieben zu können, weil man – ich – es nicht lernen konnte, als es an der Zeit war? Eine Hoffnung vielleicht nur, ein Begehren? Der Ausdruck eines Vermißten? EvL’s Bemerkung geht mir nach und nach und nach.

Kein DTs heute, sondern diese Überlegungen und nachher mit dem Jungen ins Freibad; das Wetter erlaubt das, er freut sich riesig darauf, und es könnte das letzte Mal in diesem kurzen Sommer sein. Heute morgen war die Schönhauser Alle tief in einen Nebel gehüllt, der bereits als Vorbote des Herbstes an Häusern, dem Metall der Hochbahn-Trasse und an den Fenstern leckte. Nach dem Frühstück übertrug ich Bilder aus der Cam in die entsprechenden Laptop-Dateien, unter anderem zwei, die ich von dem Krankenhaus aus aufnahm, in dem Katangas Junge vor anderthalb Wochen lag: Die oberste Tür des so hochgebauten Hauses, das ich von der Terrasse aus sah, führt ins Nichts. Aber vielleicht nur in d i e s e r, vielleicht nicht in der Anders-Welt. So etwas wie das sind genau die Signale, die mich immer wieder in den Roman zurückführen, sozusagen Erinnerungen aus der Realität:

Ich werde das Buschheuer-Buch ins Freibad mitnehmen und die Fahnen von NULLGRUND und das Notizbuch; vielleicht fallen mir Paralipomena ein. Bin untergründig traurig, es tut leicht weh, ich kann das aber noch nicht anfassen. Ich dachte an die Wienerin, die seit vorgestern wieder schweigt, als wäre ich in eine Lade gelegt, die vorübergehend geschlossen ist; ich dachte an A., als ich das Bild des Hamburger Abschieds sah, das gleich auf die Hauptseite Der Dschungel gestellt werden wird. Und ich dachte gar nicht an ***, die mir erst nun einfällt, da ich dies schreibe.

19.31 Uhr:
Ahmad Jamal, Pariser Konzert von 1972.

Vielleicht das letzte, vielleicht– sofern das Wetter mitspielt – auch erst das vorletzte Jahr für diesen Sommer mit dem Jungen im Pankowbad gewesen. In den „Spielpausen“ Pinocchio weiterübersetzt und Buschheuer gelesen. Mir fällt auf, daß ich mir zum ersten Mal über mein Altern Gedanken mache. Dabei ist die nun schon fast halbjährige Sehnenscheidenentzündung, dieser doppelte Tennisarm, der mir das Training verbot, seit heute offenbar geheilt. Er rührte nicht, wie mir der Arzt erklärt hatte, vom Gewichtestemmen, sondern – von der Maus, bzw. dem Touchpad meines Laptops, also von meiner Arbeit her. Jedenfalls die ständige Überlegung, daß sich der Alterungsprozeß nun bemerklich mache, nicht körperlich, nein, eben nicht, sondern seelisch. Dieser Eindruck mag davon stammen, daß so ziemlich ausgemacht ist, ich sei in Sachen Öffentlichkeit als Literat gescheitert. Ich beginne zu verstehen, daß sich die Liebe einer Mutter, die kalt ist, nie und nimmer erlangen läßt, nicht durch Leistung, nicht durch Glück – auch nicht die Liebe einer symbolischen Mutter. Wo kein Gefühl i s t und/oder wo es nicht sein soll, läßt sich keines erzwingen. Diese sich in mir durchsetzende Erkenntnis erlebe ich als Altern: das Aufgeben einer Hoffnung.
Welch ein Glück stattdessen, das mir diesen Jungen schenkte! Gerade, weil er noch so klein ist, wehrt er es ab, daß mir die Traurigkeit zu Resignation wird. Das ist mehr als ein Geschenk, es ist ein ungeheures Privileg. Er hat heute zusammen mit mir tatsächlich das große Becken einmal ganz durchschwommen, 50 Meter, ohne Pause. Er tat es eine Stunde später ein zweites Mal. „Ich bin stolz darauf, Paps“, sagt er, „aber nicht so stolz wie du.“
Er hat mir dem Nachsatz, ohne wahrscheinlich seine Tragweite zu kennen, vollkommen recht. Ich empfinde seine bisweilen erstaunlichen Leistungen wie eigene – als holte ich >>>> „Sohn eines Schulkinds“ sie 45/40 Jahre später nach. Es gibt eine Fotografie von mir aus der Zeit meines eigenen Schulbeginns, ein trauriges Jungengesicht; ich habe es vor etwa acht Jahren in eine Original-Collage Ror Wolfs eingeklebt, dazugeklebt, was dem an sich fernen, surrealistischen Bild etwas Autobiografisches gibt. Und jetzt ertappe ich mich bei dem Wunsch, d i e s e kleine Fotografie neben eine meines Jungen zu legen, sie beide in Die Dschungel zu stellen, um sie, derart verfremdet und gewissermaßen objektiviert, meditativ betrachten zu können: den kleinen Adrian von heute und den kleinen Alexander von damals.

Die junge Bedienung am Freibad-Kiosk hat sich einen Button links aufs T-Shirt geklebt, ziemlich direkt auf die Spitze des sich darunter abzeichnenden BHs: I am single behauptet, eigentlich fälschlich, der Button. „Oh“ sage ich, „meint diese Feststellung Ihre linke Brust?“ Die junge Dame guckt ganz schnell auf und ganz schnell auch wieder weg, konzentriert sich auf das Softeis-Gerät, vor dem mein Junge wartet. „Nein“, sagt sie, während die weißbraune sahnige Masse sich auf die Waffel schraubt, „sie meint meinen ganzen Körper.“ Sieht weiterhin nicht mehr auf, dreht sich um, kehrt hinter ihren Tresen zurück. Der schleckende Adrian und ich schieben ab.

22.53 Uhr:
[Im Dänen-Netzradio läuft eine sehr melancholische Violin-solo-Suite, angereichert mit einer moll-betonten Zigeuner-Melodik.]

Von EvL: “Gut, daß meine Bemerkung Ihnen nachgeht.” Wieder Traurigkeit.
Und jemand im yahoo-messenger sagt gerade: „Sie haben müde Augen.“
Ja, das drückt es richtig aus.

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