Die Goetzens und die Sebalds. Und Briefe mit Undinen.

Eine der größten Schwierigkeiten, vor denen künstlerische Innovationen stehen, findet sich in dem Umstand, daß sie entweder sehr früh – gleichsam sofort – oder eben, wenn überhaupt, dann nur sehr zäh die Achtung erhalten, die ihnen gebührt. Für die sehr frühe Akzeptanz stehen Dichter wie Beckett, in gewissem Maß auch Grass, dessen Ruhm fast ganz von der Blechtrommel herrührt; seine späteren Werke haben sich, völlig unerachtet ihrer oftmals ebenbürtigen Qualtität, von diesem Frühruhm genährt. Es ist gleichsam, als könnte ein einmal errungener Ruhm nicht mehr zurückgenommen werden, und zwar auch dann nicht, wenn eine massive Lobby das versucht. Man denke in Grassens Fall an die ungeheuren Verrisse, die sich nicht wenige seiner nachherigen Bücher eingehandelt haben: ob zu Recht oder Unrecht, spielt da gar keine Rolle. Hätte sich aber der Mann gleich zu Anfang weniger sozialdemokratisch moderat, sondern einem ungesitteten Büchner gleich geriert, in dessen Namen heute gesittetste Juroren allergesittetste Literaturen preisen, die Sache wäre anders ausgegangen.
Die Schwierigkeit für radikale Literatur besteht darin, daß sie einerseits über derart Gesittetes hinweg, ja es attackieren muß, zugleich aber doch,um zu überleben, einen wenigstens ökonomischen Erfolg braucht. Wer nicht wie Beckett von allem Anfang an zum main player wurde, ist ständig zwischen Korruption und – aus Notwehr – hochfahrendem Querulantentum aufgespannt, das diese Korruption verhindern soll und auch tatsächlich verhindert, allerdings um den Preis nicht nur ökonomischer und sozialer Ausgrenzung, sondern vor allem auch privater Schuld und Verschuldung
Dagegen steht eine Literatur, die zur besten gehört und dennoch möglichst wenig bewegen will. Sie ist im tiefsten human und scheut das Radikale; allerdings das Leben auch. Sie steht in der Ecke und beobachtet und notiert und findet die stilvollsten Sätze für ihre Beobachterei. Ihre Grammatik begehrt niemals auf, die Syntax ist immer im feinsten „das tut man nicht“ widerstandsfrei aufnehmbar, sozusagen „vornehm“ und bereits zu Lebzeiten akademisch. Meist feiert sie still ihre Melancholie. Manche, wie Grass, brachten es niemals dahin; nicht einmal ihr Ruhm hat ihnen geholfen. Das muß man an ihnen ehren. Selbst Beckett schaffte es nicht, und es wird auch – was immer man gegen ihn vorbringen mag – Rainald Goetz nicht gelingen. Denn in solchen wirkt etwas provozierend-unruhig Döblinsches, das sich mit Honorarprofessuren schlecht verträgt.

[Altblog-Notat, 5.Juni 2004.]

58 thoughts on “Die Goetzens und die Sebalds. Und Briefe mit Undinen.

  1. goetz – doeblin kyritz liegt in brandenburg. mit jenem seltsamen einschub in goetzens medienobsession ´loslabern´ über den von kyritz´schen weltkriegsteilnehmer versucht er der falle der beobachterei gleichsam zu entgehen. der familienroman in nukleus, den er andeutet, den kann er nicht schreiben, außer aus der fernsten ferne, weil er den verrat, den jedes schreiben über familie fordert, scheut. die radikalität des textes ist ihm ja nur möglich, weil die objekte des schreibens nicht frau, freundin, kind, mama, papa sind, sondern schirrmacher und niggemeier.

    kyritz liegt in brandenburg. nahe am stechlinsee. hier ist man spät dran und kommt nicht mit. statt unruhig döblinsches, fertigt sich hier beschaulich dublavsches. könnte eine lösung sein. kein verrat. keine nostalgie. be-schaulichkeit aus der perspektive des immer schon vergangenen, überkommenen. verweigerung der gegenwart, um zu wahren sätzen zu finden.

    sie, herr herbst, dagegen wagen es bloggend (auch) aus dem privat erlebten zu schöpfen. wie viel wahrhaftigkeit lässt dazu? wie viel verrat macht es nötig? das „derart gesittete“ bewahrt uns ja vor den schmerzen der wahrheit, die im wirklich gelebten leben kaum einer dauernd und dauerhaft ertragen kann, die aber in radikaler literatur sich aussprechen müssen. wie kann man das aushalten (lassen)?

    1. Liebe Melusine, gerade lese ich, daß die Angler und Fischer eine Reduzierung Ihrer Kormoranbestände fordern, und ich fragte mich spontan, wovon Sie sich ernähren. Vielleicht gibt mir aber >>>> eine andre Undine Antwort darauf, zumal meine Wägung wohl nicht ganz n i c h t an Hand, bzw. Flosse haftet, Sie hätten Ihren Namen ihretwegen gewählt. Offensichtlich gibt es r e i c h l i c h Fisch bei Ihnen in Kyritz, ich wäre einem Abendessen unter See nie abgeneigt, zumal ich nicht wissen kann, ob es stimmt, daß Rainald Goetz den Verrat scheue, sei’s einen familiären, sei’s einen anderen; Sie hingegen scheinen Genaueres zu wissen, das ein Abendessen – meine ich? fürchte ich? – eben verlohnte. Denn ich habe schon ein Problem mit der, auf das Literarische Weblog bezogen, Begrifflichkeit „Verrat”. Verraten werden kann, was geheim ist oder wofür man gebeten oder aufgefordert wurde, nicht davon zu erzählen. So etwas ist in Der Dschungel nie geschehen, jedenfalls nicht mit Absicht. Daß dies bereits anders gesehen wurde, und zwar mit dem heftigsten Vorwurf, der sich denken läßt, ist >>>> dort nachzulesen; ich habe entsprechend scharf gegenreagiert. Zudem werden Sie zugeben, daß in Hinsicht auf meine Abkunft „seine Familie verraten” einen sehr seltsamen Klang hat, ja, es ist sogar so, daß mir, in politischer Draufsicht, dieses „seine Familie verraten” beinah ein Gebot sein müßte. Wiederum, daß sich Goetz Personen des Öffentlichen Lebens zum Ziel macht, scheidet ihn von mir ja nicht… oder kaum, da ihn, hab ich den Eindruck, andere Strukturen interessieren als mich.
      Ich kann also nur folgern, Sie sehen, daß ich von Privatem-überhaupt erzähle, als einen Verrat. Falls dem so ist, mag ich ihm schon des Umstandes halber nicht folgen, daß das Private politisch ist, politisch„er” wahrscheinlich als das öffentliche Leben, das ein doch weitgehend repräsentierendes und eben nicht repräsentatives ist, will sagen: das eine „Anthropologie” vortäuscht, der wenig Realität entspricht. Das sagen Sie auch selbst, wenn Sie von „den schmerzen der wahrheit” sprechen, „die im wirklich gelebten leben kaum einer dauernd und dauerhaft ertragen kann”. Ich meine ganz im Gegenteil, daß fast jeder sie dauernd und dauerhaft erträgt. Davon schreibe ich. Wobei Sie ein wenig unter den Tisch fallen lassen, daß ich auch von den Lüsten und Leidenschaften und von den Begeisterungen schreibe, die uns dieses Leben so lebenswert machen, denn das tun sie ja – wenn wir von Extremsituationen absehen, von faschistischen Greueln, Diktaturen, Krieg, Krankheiten, gegen die man sich tatsächlich nicht oder nur in Spuren vitalistisch wehren kann. Nur sind das nicht unsere Umstände, gegenwärtig, unsere Umstände lassen uns sogar, wenn wir wollen, weit unterhalb des Existenzminimums ziemlich glücklich leben, vorausgesetzt wiederum, man hat das Privileg von Bildung und Interesse genossen.
      Doch zurück zur Familie und dem angeblichen Verrat. Zum einen ist nicht alles, was ich schreibe, im funktionalen Sinn wahr, ich umerfinde, ich montiere, ich verfremde; zum anderen, da ich dies so tue, ist für Leser, die mit meinen tatsächlichen Verhältnissen nicht unmittelbar vertraut sind, nicht zu entscheiden, wo ich es n i c h t tue. Diejenigen wiederum, d i e vertraut mit meinen persönlichen Verhältnissen sind, erkennen auch die poetischste Scharade; auf die k a n n es also nicht ankommen, sie wissen ja sowieso Bescheid. Vielmehr stellt sich auch in den Familienerzählungen ein literarischer Raum her. Wenn Sie, da ich gerade >>>> bei dieser Lektüre war, sich Nabokovs Pnim-Komplex einmal ansehen, werden Sie feststellen, daß das nicht ganz unähnlich ist. Ebenso könnte ich Max Frisch anführen („Montauk”), D’Annunzio („Il fuoco”: „Du hast mich vorgeführt wie ein Marktweib”, schreibt die Duse, „ich hätte besser ein Buch von dir gekauft, als mich auf diese Liebe einzulassen”), will sagen: die Diskussion ist so alt wie die Dichtung selbst. Es hat Ihres „Verrates” wegen Exilierungen, Verbannungen, Todesurteile gegeben, die Spur des Konfliktes zieht sich bis Billers „Esra” hinein und taucht in meine >>>> „Meere”, wo sie die Farbe in juristischen Ränken verlor, vorübergehend (doch was sich am Grund eines Wassers womöglich renoviert, wird eine Melusine besser als ich wissen).
      Wahrhaftigkeit ist ein wichtiges Wort, sowohl poetisch wie persönlich. >>>> In einem meiner ersten Artikel zur Kleinen Theorie des Literarischen Bloggens habe ich das schon ins Blickfeld genommen, wenn auch aus anderer Perspektive; die Frage nach dem Verhältnis von öffentlich und privat >>>> durchzieht Die Dschungel bis heute; da ich das offen und bewußt handhabe, kann von einem Verrat ganz sicher nicht die Rede sein.
      Hinzu tritt etwas, das mit Frisch, D’Annunzio usw. direkt zusammenhängt. Wir Schriftsteller nehmen, worüber schreiben, a l l e aus der persönlichen Erfahrung, die wir dann transformieren; es kann gar nicht anders sein, als daß von diesem Transformationsprozeß auch diejenigen mitbetroffen werden, die uns persönlich nahe umgeben: wir sind ja selbst dann soziale Geschöpfe, wenn wir gegens Soziale ein Mißtrauen hegen. Zum Beispiel wird sich das Kind eines Bäckers schlecht dagegen wehren können, daß es mit Mehl Kontakt bekommt, um von der Bäckerin zu schweigen, und die Freunde dieses Bäckers werden ebenfalls erfahren, was ein Brot ist. Weshalb sollte das bei einem Schriftsteller anders sein?

      [Kleine Theorie des Literarischen Bloggens (122).
      >>>> Litblog 123
      Litblog 121 <<<<]

      So frage ich Sie, Wasserfrau, zurück: Wie kann ein Dichter das n i c h t aushalten (lassen)?

      Übrigens ist es interessant, daß das Verhältnis privat/öffentlich in der Bildenden Kunst ganz anders eingeschätzt wird als in der Literatur. Denken Sie an Tracy Emin, vor allem aber an Nan Goldin.

    2. Herbst warum immitieren Sie einen Kommentar unter dem Namen Melusine. Gegen Goetz ist und bleibt ihr blog allenfalls methadon. Das liegt schon an ihrem Stil und ihrem Satzbau. Vor der Kamera den Finger in die Nase stecken und popeln ist noch keine „radikale Offenheit“ – zumal Sie ihre intimen Versorgerkanäle und auch sich selbst geschickt vor Radikalität beschützen.

    3. Bei Thomas Mann hätte eine Figur wie „Der Profi“ noch einen echten Namen. Er hieße Fino Laubegast oder so. Man wüsste, ob „sein Händedruck nässt“ oder auch, ob das „Braunrosa seines Zahnfleisch zu den auffälligen Vorkommnissen im Lachens dieses Menschen“ zählen würde. So hat thomas Mann über enge Vertraute geschrieben. Aber hier herrscht nur Maskerade Rücksichtnahme und Freundlichkeit.

    4. so, jetzt mal in großen lettern, goetz und lottmann und wie sie alle heißen, beziehen bestenfalls ihr reputation nicht aus ihren intriganten fiesigkeiten, hat ein andreas neumeister auch nicht nötig, sondern setzen diese als trojaner ein, und wenn sie glück haben, schmuggeln sie dann damit den rest des lesenswerten ein und ersticken selbst nicht an den vergifteten schnitzen. goetz ist am schlechtesten in seinem basching und am besten in den passagen der strukturanalyse, der muster, das geht seinen texten immer mal wieder auf. fies allein macht keine literatur, wirklich nicht, sie sitzen einem phantom auf.

    5. gerade seine strukturanalysen sind oft demütigend und sentimental, weil er dann immer um Verzeihung bittet für seine Beobachtungen und sich wiedereinreihen möchte in die Sozialität. Nein, Goetz ist gut, wenn er Menschen und Situationen beschreibt. Und selbst noch im Überzogenen ist das gut.. Zum Beispiel wie Fischer ins Verlagsgebäude kommt. Das ist gut, weil es ungerecht und anmaßend beschrieben ist.

    6. das sehe ich completamente anders, jemand wie fischer ist austauschbar, wer auf den roten teppichen läuft, das ist sehr austauschbar, welches paar schuhe da laufen, welcher anzug, das ist nicht egal, das verrät die hilflosen distinktionsgewinnsbemühungen und etwas über eine gesellschaftliche verfasstheit. bei aller liebe, literatur ist für menschen gemacht, nicht für monster. mögen sie das auch für demütig und sentimental befinden, ich halte es für notwendig. die hitlerparodien sind ja nett anzuschauen, aber der fokus auf einen mann allein erklärte nichts, null, nada, und ganz egal wie überzogen, wäre das alles an aufarbeitung, was wir hätten, wir wären arm dran. vielleicht wären wir mit goetz, so gelesen, dann eben auch arm dran. wer weiß. aber, ich denke nicht. anyway. ich muss niemanden verteidigen, der seine gemeinde längst gefunden hat. hoffentlich fürchtet er sich manchmal etwas vor ihr.

    7. @ Solus. Weshalb sollte ich jemanden wie Melusine imitieren? – übrigens mit e i n e m „m“. Ort(h)*ographische Bildung stünde selbst Ihnen besser an, einmal abgesehen davon, daß Sie das Wort insgesamt falsch verwenden. „Jemanden zu imitieren“ bedeutet, jemanden nachzumachen, den (die) es gibt. Also müßte Melusine ein Vorbild haben, dessen Existenz Sie aber zugleich bestreiten wollen. So irren Sie auch in dem, was Sie falsch ausdrücken – bringt man denn die Güte auf, es „wie gemeint“ zu lesen. Dauernd hüpfen Sie auf Eiern sack und merken nicht, daß Ihr Geschuh längst glitschig ist. (Weshalb blamieren Sie sich eigentlich nicht mal anderswo? Oder tun Sie das schon? Dann hätt ich Nachsicht.)

      [Stimmt. Das „h“ war tastaturverschluckt.]


      So, Mittagsschlaf. Ah nein, da ist noch >>>> auf was anderes zu antworten. Bedauernd.

    8. naja jetzt haben sie aber ganz viel zusammengeworfen, was da garnicht so zusamengehört. Zumal er ja nicht einfach auf einen Mann konzentriert ist, sondern an einer Frage – und die heißt in diesem Fall: Wie kann ein politischer Roman Menschen beschreiben, die beinahe völlig befreit von Innenleben sein müssen, um politisch Karriere zu machen und folglich wirksam zu werden. Darum ging es als Frage…Aber diese Frage ist eben schon eine Beobachtung und Anmaßung zugleich. Aber sie ist eben nicht eitel. Und das ist für mich Sensorik, die einen Schriftsteller ausmacht. Ein Schriftsteller erfindet nichts. Er stellt sich Fragen.
      Politiker dagegen, das sind Menschen, die ständig etwas erfinden müssen.

    9. „Ein Schriftsteller erfindet nichts.“ Ui, Zorg… Sind Sie einer? Jedenfalls macht mich Ihre normative Aussagekraft nahezu verlegen. Hamsuns Mysterien sind also nicht erfunden, Borges‘ Aleph auch nicht… Dann g i b t es das Ding! So daß sich zu meiner Verlegenheit auch noch Hoffnung gesellt. Denn all die Leser Sherlock Holmes‘, sie hätten recht behalten.

    10. @diadorim zu Rainald Goetz. Ich denke, das hier immer wieder die Wörter derart fuchtelnde Problem, daß sie ihre Grammatik verlieren, besteht darin, daß Goetzens Jünger, um die ich ihn echt nicht beneide, seine Deutungshoheit gefährdet sehen, bezogen besonders auf die Präsenz im Netz. Sie sehen des weiteren ihr angeblich subkulturelles Bezugssystem gefährdet, das ja längst zur Herrschaftskultur erstarrt ist und eingespannt von den oligarchen Wirtschaftsinteressen der westlichen Kapitalismen, an denen sie aber nicht teilhaben, jedenfalls nicht bezogen aufs Finanzamt. Sie stehen sozusagen auch unten in der Leere und gucken nach oben, wo’s ebenfalls leer für sie ist; von ihrer Körpermitte schweige ich dezent.
      Nein. Sowas hat Rainald Goetz nicht verdient. Hätt er doch mehr Leserinnen und Leser wie Sie!

    11. der schriftsteller, der politiker, der tinnitusbeauftragte. wieso müssen die von innenleben befreit sein? doch ungefähr genau so viel oder wenig wie die bäckereifachverkäuferin bei bäckereifachverkäuferinnenarbeit, nur zu exorbitant anderen konditionen. das wäre keine anmaßung, das wäre eine für meine begriffe nicht zutreffende beobachtung. im verkauften brötchen liegt so viel innenleben wie im spätrömischen dekadenzsprech. nur, das eine macht uns satt, das andere unterhöhlt das grundgesetz.

    12. (…) „um Nabokovs Grundfrage mit Gewitzel drücken. Immer hübsch unverbindlich bleiben, ist ihre Devise, dann nimmt’s uns keiner übel, wenn wir den Gerhard Schröders folgen;“ (…) ANH
      plop, so soll’s gehen also.
      und weiter gehts
      … „das ja längst zur Herrschaftskultur erstarrt ist und eingespannt von den oligarchen Wirtschaftsinteressen“… eben gerade ANH
      die Bar am Lützowplatz, gell ?
      und so weiter und so weiter und so weiter und so weiter Schrott anhäufen für den
      Schmelzofen : allet muss rinne, wa „ach watt schert det mich ob det Bunt- oder Edelmetalle seien“ NochNichtANH

    13. Sie haben eben das Problem, dass Sie nicht verstanden haben, dass die alten Werte von „Phantasie“ und „Erfindungsreichtum“ heute viel mehr von der Poilitik behauptet werden, und zwar in einer Intensität, die jede „Erfindungskraft“ der ehemals poetischen Exisitenz dahinter zurückbleiben lässt. Also im Gegensatz zu Ihnen hat ein Goetz zum Beispiel verstanden, dass „die Erfindung“ gegenüber der Vorgängigkeit in der Realität immer saftlos und albern erscheinen muss. Das macht Goetz eben zu einem intelligenten Zeitgenossen. Den Rest dürfen Sie getrost Hollywood überlassen.

    14. Hey Leute
      ich hab gerade eine Rechtschreibfehler bei ANH entdeckt !!! Es muss doch geschrieben seien orthografische Bildung und nicht ortografisch – hihihi – jetze könne mer mal ihne nagele fest – hihi – „also Leute – wer wird denn gleich so ausrasten“

    15. @Zorg und Oberzog und unter. @Zorg. Ich weiß, Sie hören’s nicht gern. Sklaven werden nicht gern als solche bezeichnet. Zeigt man ihnen aber die Herren als Herren, werden sie ganz kastriert und bibbern, wenn sie davonlaufen sollen. Sie fühlen sich imgrunde ja wohl, so sicher fixiert.

      @Oberzorg. Ich höre schon wieder ifone, >>>> Tim Boson. Haben Sie wirklich so wenige Leser auf Ihrer Site? Das tut mir sowas von leid.

    16. Herbst Wo anders wären sie HERR als im Bett ( also beim SEX ) – und selbst das bleibt unbeweisbar.
      AH – ich AHNE etwas – Herr einer Situation sein w o l l e n; ja das bleibt jedem freilich unbenommen, das sein zu wollen, so aussichtslos das durch die Bank weg ja ist – aber umso doofer, daran sich ständig festklammern zu müssen wie an einen Berg unter vielen, vielen Bergen – im Gebirge.

    17. namen, verrat, kyritz lieber herr herbst,

      vorab – mich erstaunt, wie viel unverhohlener hass ihnen durch manchen „gast“ entgegenschlägt. sind das menschen, die sie jenseits virtueller welten kennen? oder kann man soviel gefühl auch im netz investieren? ich bin da unerfahren. (und nicht nur da…)

      namen: melusine wünscht´ ich zu sein – statt armgard (pure and poor at heart, guarded). nicht die erwählte, sondern die verschwindende. im wasser versinken und verloren gehen, so sehnsüchte heg´ ich. aber das geschieht doch nicht: man findet sich immer wieder. daher der name. den see (fast jeden) lieb´ ich, auch die see. aber von fischen ernähre ich mich nicht.

      verrat: wir haben uns hier gründlich missverstanden. mir geht´s nicht um die veröffentlichung des privaten (wie immer verschlüsselt). ich lese auch keine texte, um sie mit irgendeiner privaten oder nicht privaten biographie von autoren abzugleichen. das ist ja auch einfach nur dumm. der verrat, den ich meine, bezieht sich nicht darauf, jemanden oder ein „geheimnis“ an ein publikum zu verraten, sondern auf das binnenverhältnis in nahbeziehungen. nach meiner erfahrung beruhen alle, gerade auch die engsten beziehungen auf illusionen, darauf, dass man sich ein „wir“ suggeriert, das keinen augenblick bestand hätte, wenn man sich wahrhaftig zumutete, was man tatsächlich fühlt und denkt. man liebt und versteht doch nie den anderen, sondern nur die fiktion, die man sich von ihm macht. (sie werden das vielleicht, ach sicher, bestreiten, weil sie sich – und anderen – tatsächlich momente der wahrhaftigkeit zumuten. aber sicher wissen sie auch, dass für diese wahnhaften exzesse – die wahrheit – ein hoher preis zu zahlen ist. – einer, den ich mir nicht leisten kann…) der verrat, von dem ich sprach, besteht also darin, dass nun in schriftlicher form ausgesprochen wird, was nie von angesicht zu angesicht gesagt werden konnte. der sich da wiedererkennt, der fühlt sich verraten. nicht an ein publikum, sondern von der, deren fiktion er liebt. die wird ihm ja damit auch tatsächlich geraubt.

      z.B. so: mein sohn schaut mir zufällig über die schultern, während ich eine zeile eintippe, die wahrhaftig zur sprache bringt, wie ich begehre. d a s will er nicht von mir wissen. schnell geht er aus dem raum. veröffentlichte ich unter meinem (und damit auch seinem) namen, so müsste er sich einem mutterbild stellen, das sich mit seiner fiktion nicht nur nicht deckt, sondern diese zerstört. das ist der verrat.

      wer ein wahrhaftiges leben führte, braucht diesen verrat nicht zu fürchten. das seh´ich ein. aber wer kann sich das leisten? wie viel bestand können beziehungen haben, in denen man sich einander so nackt zumutet? aber vielleicht bin auch nur ich zu feige. bestimmt. wer ein risikoreiches leben führt (wie sie wahrscheinlich), der kann sich die einsamkeit aus der ich schreibe (denke, fühle) wohl gar nicht vorstellen (obgleich ich n i e m a l s allein war).

      kyritz: ich lebe nicht in brandenburg, nicht am see. in der mitte, mittelgroß, mittelschlau, mittelständig, mittelreich. alles mittelmäßig.

      ich sehe sie nicht in antinomie zu goetz. nur anders. wenn man wahrhaft schreiben will, aber den leuten nicht in realsituationen zumuten will oder kann, was man denkt (z.B. weil man schüchtern ist, ganz schlicht), dann begeht man verrat (im oben gemeinten sinn), wenn man „aus dem leben“ (be-)schreibt. freundschaften belastet goetz offenbar damit. liebesbeziehungen, sexualverhältnisse, familie nicht. ich kann das verstehen. das bedeutet aber nicht, dass ich dieser haltung moralisch einen höheren wert beimesse. es ist nur einfach ein interessanter unterschied.

      by the way: ich las mit vergnügen, wie sie (oder ihr literarisches alter ego) sich freuten, zum objekt der begierde einer arztpraktikantin zu werden. das ist schön, dass auch heterosexuelle männer objekte des begehrens sein mögen und sich drum bemühen. so oft kommt das gar nicht vor. denn – leider – gibt es ja auch nicht viele darstellungen weiblichen begehrens am männlichen körper (s. „bildende kunst“). die meisten frauen, die ich kenne, schauen sich auch lieber frauenkörper an. das müsste doch ein großer leidensdruck für männer sein. ist es aber für den „mainstream“-mann offenbar nicht.

    18. Für Melusine in den See. Jetzt verstehe ich, und gut, >>>> was Sie unter „Verrat” verstehen. Ich möchte dennoch dieses Wort nicht so benutzen, weil es objektive Verhältnisse auf ideelle, ja idealisierte verschiebt. Aber selbstverständlich soll das Ihrem Verständnis des Wortes nicht das Recht verweigern. Es ist gut, daß man sich deshalb vorher verständigt – bzw. eben nicht verständigt, aber dann, wie Sie es jetzt getan haben, erklärt. Auf diese Weise kommt mit einmal eine Sicht, die sehr intensiv ist, in einen Text und gibt ihm Leuchtkraft. Ich bin erstaunt, und ich bin berührt. Ein kleines Lehrstück, das Sie mir da geschenkt haben.

      Ich fürchte, daß sich dieser… also jetzt: „Verrat” in einem Dichterleben nicht vermeiden läßt. Das fängt schon nicht erst bei Rilke an. „Das Liebesgedicht spricht zur Welt, nicht zur Geliebten”, was ums so grausamer ist, als eine Geliebte allermeistens Anlaß von Liebesgedichten gewesen i s t (und der -romane; denken Sie nur an den Werther); es geht ja nicht um Schwärmerei, sondern in der Dichtung nahezu immer darum, einen speziellen… „Gegenstand” ist auch schon kalt, vernichtend, entsubjektivierend… also ein spezielles Bestimmtes so in Worte zu kleiden, daß es ein Allgemeines wird, wobei ich selbst glaube, daß dieses Spezielle dem Werk dann das verleiht, was in der Musik Ober- und Untertöne sind, mithin recht eigentlich den Charakter. Wir könnten auch „Seele” sagen. Die einzige Hoffnung, die Ihrem Verrat entgegensteht, ist jene, die annehmen läßt, genau dadurch beziehe ein Werk seine letztliche Schönheit. Denn solche Gedichte, auch solche Erzählungen, ja solch ein Blog können auch als Huldigungen gelesen werden. Ich verehre, wenn ich liebe, und ich bin gerne begeistert: nicht nur von Musik, auch und gerade von Menschen. Das geht tief, und ich glaube, die Menschen, die mich kennen, wissen das. Eine Person, die ich einmal liebte, habe ich nie zu lieben aufgehört, auch dann nicht, wenn die Liebe, die „Beziehung”, vorüberging. Mein Wolpertinger-Roman ist Do gewidmet und er wird es bleiben. Da ist es deutlich. Aber es gibt auch Stellen, die anderen, die ungenannt blieben und auch nicht genannt werden w o l l t e n, gewidmet sind, doch wenn sie lasen, wußten sie und wissen. Die nächsten Freunde wissen’s sowieso a u c h; für alle anderen spielt es keine Rolle.
      Des weiteren. Ich habe gelernt, daß man einander sehr v i e l zumuten kann, auch wenn das nicht allgemein so gehalten wird. Ich habe gelernt, daß man damit leben kann, daß der geliebte Mensch – oder die geliebten Menschen – auch andere Menschen lieben können, und zwar begehrend lieben. Daß das nicht wehtut, wollte ich nicht behaupten. Ja, es tut weh, aber es ist so. Man ringt, man schnappt nach Luft, man quält sich… alles das: ja. Aber ist man hindurch und hat seine Liebe erhalten, wird man frei, vielleicht erst eigentlich für diese Liebe. Außerdem glaube ich nicht, daß, wenn denn eine Illusion nur stark genug ist, irgend eine Realität ihr etwas anhaben könnte. Man sieht das bei gläubigen Menschen. Ich habe oft darüber gestaunt und habe dann angefangen, es sehr zu achten. Viele von denen bekommen sogar die deterministischen Wissenschaften und ihren Glauben in einen Kopf und ein Herz.

      Zudem, ich bin Schriftsteller; wer mit mir zusammengeht, weiß das; im allgemeinen kennt man dann auch meine Bücher und liebt sie vielleicht sogar. Verhielte ich mich plötzlich, sagen wir: verschwiegen, änderte sich mein Character, und es wäre dann zu fragen, ob nicht damit die Person, die eine liebt, verschwände. Das ist wie mit den Dingen, die uns an geliebten Menschen nerven; irgendwann, haben sie sie weggesteckt, fehlen sie uns.

      Ich weiß, das ist eine ungefähre Antwort. Aber sie entspricht dem Stand meines Wissens und meines Glaubens. Wobei Ihr Beispiel mit dem Sohn, das ja auch mich betrifft, n o c h ein anderes ist. Ich kann mir von dem meinen nicht vorstellen, daß er den Raum verließe, es sei denn, ich sagte ihm: Das ist nichts für dich. Bisweilen sage ich ihm: Das ist n o c h nichts für dich. Ich bin mir sicher, er wird es nachholen.

      Melusine:
      Ich kann Ihre Sehnsüchte fühlen, auch wenn sie nicht die meinen sind. Es könnte aber sein, daß es meine eines Tages werden. Und zu dem Haß ist wohl zu sagen, daß es ihn ganz offenbar gegen mich gibt. Das ist nicht erst eine Dschungelerscheinung. Es gab ihn schon, als ich in den Kindergarten kam, er durchzog meine Schulzeit und hat sich, als ich erstmals publizierte, auch für die Literatur eingestellt. Viele haben mir oft gesagt: du hast einen Verfolgungswahn. So gut wie alle von denen haben sich nach einiger Zeit revidiert, weil sie miterlebten, bzw. mitbeobachten mußten, daß dieser Haß da ist. Eine mir sehr nahe Frau hat neulich allerdings bemerkt: „Wer dich aber liebt, der liebt dich immer und auf den ist immer Verlaß.” Das stimmt. Und ist vielleicht sehr viel mehr, als die anderen Menschen haben. Übrigens werden Sie wahrscheinlich sehr schnell mitbekommen, wie sich dieser Haß auch auf unsere jetzt begonnene Konversation stürzen wird. >>>> Wie Sie lesen können, wurde für einen ersten Angriff schon behauptet, ich hätte Sie erfunden. Falls es nun darüber hinaus noch dazu kommen sollte, daß jemand Ihren Sehnsuchtsnamen mißbraucht, als nächster sog. „Gast”, werde ich das nicht verhindern können. Aber ich kann versuchen, es zu erspüren und dann entsprechend wegzulöschen. Falls Sie sich mißbraucht fühlen sollten von sowem, dann melden Sie sich bitte kurz über das Kontaktformular >>>> der fiktionären Website.

      Ein letztes Wort noch zum Männerkörper. Ja, ich bin gerne begehrt und ich mag es, dieses Begehren auch herbeizuverführen. Wäre diese Spiellust verbreiteter – man kann auch sagen: wäre der Körper verehrter als er ist, wäre er bewußt -, es stünde insgesamt besser um uns. Und zwar um b e i d e Geschlechter. Selbstverständlich haben auch Frauen diese Augenlust, Frauen sehen sehr gerne die Adern, wenn sie vorstehen, auf männlichen Unterarmen an, sie sehen gerne Muskulaturen spielen, sie haben gerne Markanz. Nicht alle, aber viele. So haben sie mir erzählt, und es gibt keinen Grund, ihnen nicht zu glauben. Tatsächlich g i b t es schöne Männerkörper, s e h r schöne Männerkörper, ich selbst kann sie bewundern, auch wenn ich sie nicht begehre, weil ich – wie ein homosexueller Freund einmal seufzend konstatiert hat – „nicht einmal ein bißchen bi“ bin.

      Ich setz mich ans Ufer einer Ihrer Seen, schließe die Augen und versuche, Sie unter Wasser singen zu hören.

      Ihr
      ANH 

    19. unter wasser lieber herr herbst,

      wie froh bin ich, dass dieses missverständnis über verrat und verraten sich hat auflösen lassen. so dämlich möcht´ ich auch in meiner anonymen „melusinen“-gestalt nicht erscheinen, dass ich moralisierend den geheimnisverrat brandmarke…und freilich haben sie recht, das sich die von mir als verrat bezeichnete wahrhaftigkeit der schrift gegen das leben vom schreibenden gar nicht vermeiden lässt (sehen wir mal von lore-romanen etc. ab). das weiß ich doch. drum wind´ ich mich doch so…

      wenn sie sagen können: die mit mir geht, die weiß doch darum, , dann löst das sicher nicht alles, aber es senkt doch das gewicht des „verrats“, weil er gleichsam angekündigt ist. und es kann ja auch schmeichelhaft sein, „gegenstand“ zu werden, sich verwandelt zu sehen in bleibendes.

      was aber, wenn das nicht gilt? wenn diese lizenz zur wahrheit nicht gegeben und in anspruch genommen wurde, die in einem verqueren pakt die „gesellschaft“ dem „autonomen“ künstler verliehen hat: der kann und muss mensch sein, damit der bürger sich a l s mensch fühlen kann, kunst konsumierend – ach, verzeihen sie, ich polemisiere! der vertrag zwischen bürgerlicher gesellschaft und künstlerexistenz lässt einen verkehr zwischen beiden zu (auch auf geschlechtlicher/sexueller Ebene), wenn diese fronten geklärt sind: wer sujet ist und material (zuweilen geschmeichelt sogar dadurch) und wer subjekt und schöpfer – muse und meister. dann schließlich tritt heran der lesende, schauende, räsonierende bürger, staunend, sich in dieser oder jener rolle stellvertretend verstehend, tritt zurück und schließlich wieder hinein in sein als-ob-leben. (die muse – übrigens – bedauert er, während sie – die bürgerin – sie beneidet, warum bloß??? das wissen wir schon!)

      so geht das. gut. oder auch nicht. missversehen sie mich bitte diesmal nicht. ich beschreibe dies nicht als eine (an-)klage. nur als beobachtung. dass in den beschriebenen verhältnissen die geschlechter-parität nicht (immer) gewahrt werden konnte in unserem kulturkreis, ist ja mehr als offensichtlich.

      nun, ich hab´sie nicht – die lizenz.
      die wahrheit (über mich) ist jenen, denen ich loyalität schulde (merken sie – ich bin protestantin – noch eine differenz), nicht zumutbar. so sing ich in der tiefe. es drückt schwer auf die lungen:“batgirl goes underground“ (1985) http://www.google.de/ig?hl=de&source=iglk#max9

      und doch…

      entschuldigen sie, das ist alles ein wenig wirr. war aus und habe vielleicht zuviel getrunken. illusionen sind stark. ja. und schön. und böse. wie algen schlingen sie sich, bis man sich kaum mehr bewegen kann. bewundern sie die illusionisten nicht. manche sind nicht nur auto-aggressiv…

      über männerkörper heute nichts mehr. vielleicht später.

      gute nacht.

      melusine

    20. Melusine, „die mit mir geht“, das hab ich lange nicht mehr gelesen, das sagten wir in meiner Jugend über die Freundin, daß „sie mit mir geht“; ein seltsamer Klang des weichen, warmen Verlustes, sogar eines schönen, haftet dran. Und ist doch nicht von Nichts abgelöst worden, sondern „einfach“ von Anderem, das nicht selten seinerseits schon längst den schönen, warmen Verlust kennt. Was wir dann Reife nennen.

      „Bürgerin und Muse“ (ich habe >>>> heute morgen eine Neigung zum Doppelpunkt, deshalb:): wie hat das zueinanderzugehören gelernt und ist doch einst „La dame mercy“ der Troubadours gewesen (auch>>>> die o h n e Gnade, 1424; das Netz erlaubt uns neue Formen der Meditation); schließlich die femme fatales des fin de siècle, zu denen sicher auch schon Cosima Wagner, Nietzsches Schwester Elisabeth, aber auch Lou Salomé gehörten; muß man sich fragen, ob es vorbei mit diesen Musen ist oder finden sie nicht doch aber- und abermals wieder in dieser Studentin, jener Zahnarzthelferin oder in irgend „einer“, mit Baudelaire gesprochen, „die vorüberging“, in die Gestalt, schlagen aber, wenn das zu intim geäußert wird, mit den demokratischen Fäusten der Correctness ausgesprochen juristisch zu? Ich habe ja meine Erfahrungen damit, >>>> eines meiner wichtigsten Bücher war davon betroffen, ist es, freilich in unterdessen milder, akzeptabler Form noch immer. Doch aber die Muse ist nicht totzukriegen, weder von einem Rechtssystem, so gerecht es tatsächlich immer auch sein mag, noch von den ja doch einsichtigen Haltungsregeln der Geschlechtergleichberechtigung.
      Dies ist meine Antwort auf ihr was, wenn diese lizenz zur wahrheit nicht gegeben und in anspruch genommen wurde?: Es ist dies egal. Man kann sich nicht nur nicht wehren, wenn sich die Muse – >>>> im keltischen Irland eine Vampirin – einem zubeugt, noch, wenn sie in eine Frau schlüpft, die eigentlich nur Strümpfe kaufen gehen wollte, das müssen gar keine von Fogal sein. Na klar, so etwas schrammt wie Fingernägel über die Tafel in einem Klassenzimmer durch unser aufgeklärtes Bewußtsein, das sich zum Ziel seiner Lebenstüchtigkeit das Profane gewählt hat und für die Bedürfnisse des Herzens den Kitsch, der eben n i c h t so schrammt, sondern wie Kaugummi gekaut werden kann, und ist der Gechmack weg, spuckt man ihn aus. Es gehen die Dinge oft nicht schmerzlos zusammen, aber sie sind doch. Indem ich mir das klarmache, weiß ich, daß ich allein schon dadurch, daß ich lebe, nicht darum herumkomme, andere zu verletzen – nämlich dann nicht, wenn ich’s emphatisch tun will. Es ist so, ja, ich nehm es inkauf, nehme dann auch Folgen inkauf, vor denen ich allen Grund habe, mich zu fürchten: soziale Deklassierung, Beschimpfung, sogar, das für mich immer Schmerzlichste, Trennungen. Ich hab es aber nicht in der Hand, in wen die Muse schlüpft, so wenig wie die zu ihrer Erscheinung Ge-, ja Benutzte selbst.

      Eben noch eines, bevor ich Sie in Ihren Bettenseen weiterschlafen lasse: Ich glaube nicht daran, daß zwischen Künstlern und Gesellschaft ein Vertrag geschlossen wurde; der bis dato wirkende Vertrag wurde im Neunzehnten Jahrhundert von den Künstlern gekündigt; viele von ihnen sähen ihn allerdings heute gerne neu geschlossen. Zu denen gehöre ich nicht. Man wird objektive Widersprüche, die in einem sehr alten Sinn „ideale“ sind, nicht juristisch zuschmieren könen; es wird da immer etwas Klaffendes bleiben, das durchaus beide Seiten bedroht, aber für die eine d a s Element ist, in dem sie lebt; tut sie es nicht, verliert sie ihr Existenzrecht.

      Haben Sie bitte einen zärtlichen Morgen.

      ANH

    21. miteinander gehen – vertraglich, verträglich wie unsere missverständnisse uns voran (oder seitwärts?) treiben… ganz wörtlich gemeint hatte ich es hingeschrieben – eine, die ein stück weit mit ihnen geht (wo, wohin, wozu auch immer). aber ja – unbewusst vielleicht blitzte auch bei mir die erinnerung auf an schulzeit und „miteinander gehen“. heute sagen die jugendlichen „in einer Beziehung mit“ – da könnte man in die kulturpessimistische kerbe hauen, denn poesie wohnt d e m ausdruck nicht inne. aber ich mag die kulturpessimisten nicht leiden.

      muse – meister – bürgerin: einmal war sie die herrin, die sich seinem gesang unterwarf, dann wieder hinaustrat und ihrem hof vorstand. so hätte es nicht bleiben können? aus dem meister-sänger wurde wilhelm meister, der kann sie sich nicht denken ohne mitleid, trägt er doch immer seine bürgerliche erziehung mit sich herum, die in der muse, die sich ihm hingibt, die prostituierte wiedererkennt, die zu verbrauchen oder zu erretten ist. im bilde stillgestellt bleibt diese muse als leiche zurück, wenn er weiterzieht. so muss es nicht sein, oder? wenn sie nicht mehr herrin sein kann, soll er sie tanzen lassen und nicht ruhig stellen. den blick zurückspiegeln muss sie können, den er ein publikum auf sie werfen lässt. das geht…man(n) kann so schreiben. ich glaub´, sie können es…

      (diese form hier – das „vernetzte“ schreiben – ist auch eine weise, die „rückspiegelung“ herzustellen – noch kann ich mir nicht vorstellen, wie das texte verändern wird und das lesen… – wie trennen sie zwischen den verschiedenen schreibformen?)

      über lizenzen und verletzungen: s i e brauchen die lizenz doch gar nicht einzuholen, sie haben sie schon, denn wer „mit ihnen geht“, der/die weiß doch in der regel, dass sie schreiben und geschriebenes veröffentlichen. und weiß sie es nicht, dann war es nur ein vorübergehen und in den meisten fällen wird sie sich nicht erkennen und keine verletzung entstehen. ihr sohn, schrieben sie, würde kaum den raum verlassen. kennt er sie anders denn als einen, der grenzen – auch schreibend – auslotet? was sie schrieben, schaute er ihnen über die schulter, das überraschte ihn vielleicht, überforderte seine aufnahmefähigkeit, aber könnte es sein vaterbild in frage stellen, ja zerstören? das glaub´ ich kaum. die situation, die ich beschrieb, ist gänzlich anders. mein sohn (und niemand) sieht in mir, was ich schreibe(n wollte – wenn ich´s könnte oder wagte). an anderer stelle schrieben sie über ina hartwig, sie sei ganz offenkundig nie besessen gewesen. ich bin´s, aber ich verberg´ es gut. sie würden keinen finden, der es glaubte.

      – es ist dies unterwasserleben – zweifellos – persönlicher feigheit geschuldet. doch glaub´ ich auch, dass „der vertrag“, dessen existenz sie für die gegenwart leugnen, hier eine rolle spielt. noch wirkt die lizenz im „bürgerum“ fort: das recht des künstlers ein wahr sprechender narr zu sein. weil dort, wo die sich treffen, die führen, man immerhin noch weiß, dass die moral, die man den massen verordnet, bloß zwecken folgt. man amüsiert sich über die rosamunde-pilcher-verfilmungen, aber man glaubt ihnen nicht. man hat seine buddenbrooks (wenigstens die!) gelesen und geht in die oper. sicherlich, diese führungsschicht löst sich auf. wir werden analphabeten als vorstandssprecher deutscher banken erleben.

      ich schweife ab – wo ich herkomme, weiß man von der (meinethalben überkommenen) lizenz nichts. neben der bibel stand da nur ein buch (götter – gräber und gelehrte). die wahrheit ist: wir gehören zusammen. die wahrheit ist: wir machen es uns gemütlich. die wahrheit ist: wir muten uns nichts zu, denn wir haben uns lieb. (piep.piep). darüber könnte man böse werden. aber nicht s o „böse“ wie sie. man könnte sich aus dieser süßklebrigen wärme nur durch morde befreien. aber es wären morde an mägden und knechten. das ist doch auch schäbig.

      trennungen sind schmerzlich, schreiben sie. das glaub´ ich. es tut auch weh zu bleiben. ich wurde nie verlassen. ich blieb immer. treu wie gold („für die bedürfnisse des herzens den kitsch“) es schrammt trotzdem. man bleibt nicht ohne schuld, so oder so. es ist eine frage der haltung (in einem soldatischen sinne – sanitäter oder mek – ), keine der moral.

      wieder nichts über männerkörper – der meine braucht schlaf, um weiterhin als schauobjekt zu taugen.

      Melusine

    22. Liebe Melusine, ich hatte versucht, Ihnen zu antworten, dann >>>> kam so vieles dazwischen, daß erstmal nur ein Entwurf liegenblieb. Nicht >>>> das aber hielt mich ab, ihn fertigzustellen, sondern etwas, das ich, wenn auch schon recht scharf formuliert, im letzten Eintrag meines heutigen… ach, jetzt bereits Arbeitsjournals von gestern >>>> doch immer noch nur angedeutet habe.

      Ich will versuchen, meine Antwort morgen, also heute fertigzustellen. Ich möchte sie nicht einfach nur dahintippen… Auch in Zeiten des Kampfes, vielleicht gerade in ihnen, muß Zeit für die Schönheit sein.

      Ihr
      ANH
      http://www.albannikolaiherbst.de

    23. Liebe Melusine, es gibt keine Gründe: zu klagen – wohl aber Gründe für Klagen. Dies kleine Wortspiel umschreibt ganz gut meine eigene Haltung gegenüber Kulturpessimisten, ja gegenüber Pessimisten überhaupt und gilt unbedingt, sofern diese nicht, das schrieb ich schon in einem vorigen Brief, von Schicksalsschlägen gezeichnet sind, derer es sich de facto nicht erwehren ließ; es gilt also nicht gegenüber geschundenen Leuten aus Lagern, gegenüber als Kinder schwer Mißbrauchten, gegenüber Krebskranken usw. Debatten hingegen um Achtstunden- meinetwegen Zwölfstundentage usw halte ich für so lächerlich wie es auch Aufregungen über ein angeblich schlechtes Schulsystem sind. Wer lernen w i l l, der lernt und erboxt sich auch in autoritäreren Strukturen als die unseren sind, was er will. Man hat ja hierzulande manchmal den Eindruck, man müsse die Menschen verführen, daß sie sich bilden… ja manipulieren müsse man sie. Meine Haltung ist da entschieden: dann sollnse halt doof bleiben. Und all die Pessimisten ohne Not: jessas, wenn einer dauernd so übers Leben klagt, weshalb geht er dann nicht? Wir alle haben die Wahl. Wobei dieses „ich habe eine Beziehung mit Corinna” auch überhaupt nichts sagt, außer, daß man eine irre Angst vor dem Pathos hat, ohne das aber Liebe gar nicht möglich ist. Was soll eine profanierte Liebe denn sein? Eben, Beziehung – nur daß ich „Beziehungen” auch zu meinem Bäcker habe, zur Berliner Straßenreinigung, zum Postboten und meiner Hausverwaltung. D a wäre es in der Tat zuviel verlangt, es wohne Poesie dem inne.

      Das zu d e m Komplex.
      Das Nächste nun zu der Muse:

      Unterwarf sie sich je? Sicher nicht. Sie war bei den Troubadours die Unerreichbare, und das blieb sie auch als Prostittuierte. Wenn Sie Bretons Nadja lesen und Arbeiten Louis Aragons aus der Zeit, es ist die n a c h dem Fin de Siècle, werden Sie spüren, wie auch durch die Käufliche so etwas wie Unantastbarkeit strahlt. In der großen Camille Paglias Buch „Die Masken der Sexalität” gibt es eine Betrachtung des Striptease, die mit dem Satz endet (ich zitiere aus der Erinnerung, habe das Buch jetzt nicht hier; bin grad in Frankfurtmain): „Noch die nackte Tänzerin nimmt eine letzte Verschwiegenheit, ein letztes Geheimnis mit sich heraus.” Wobei Muse, pragmatisch gesprochen, erst einmal Projektion ist; deshalb läßt sich das so gut spiegeln; unpragmatisch gesprochen, könnte da etwas sein, das ihr „eigentlich” äußerlich ist, aber in sie hineinschlüpft und sich in ihr realisiert, und zwar egal, ob sie das will oder nicht, egal, ob sie sich ihrem Künstler „hingegibt” oder er sie, in einem männlichen Bemächtigungsakt, „nimmt”. Was Sie über Wilhelm Meister schreiben, sagt ja doch, daß er gar keine Muse h a t, sondern das, jetzt muß ich lachen, „Musige” gerade abwehrt, also das Musische, indem er meint und versucht, es zu domestizieren.
      Ja, sicher ist auch das Netz, insoweit in ihm Poesie versucht wird, ein Tanzplatz der Musen; ich denke, das Medium ist da ganz ohne Bedeutung. Indes die Trennung zwischen verschiedenen Schreibformen in allererster Linie eine pure Frage des Handwerks ist. Dieses erhalten wir n i c h t von den Musen, das ist einfach nur Arbeit, Lernen, Basteln, Lernen, Experimentieren, Lernen, auch Auswendiglernen, sich trainieren usw. Die Muse sorgt für das, was – und ob etwas – darüber hinausgeht.

      Nachgeklungen hat in mir, und er klingt immer noch nach, Ihr Satz „aber ich verberg´ es gut. sie würden keinen finden, der es glaubte”. Das ist ja schon fast eine Geschichte… keine neue, denken Sie an „Belle de jour”, aber eine, die weder je ihren Reiz verloren hat noch daß sie ihre Bedeutng verloren hätte. Ich denke manchmal, es ist sogar ein Prinzip – ein sehr weibliches im übrigen, wenn wir unter „weiblich” verstehen, wozu diese eigenartige Mischung aus Unterdrückung der Frau und heimlich, und zwar bis heute, durchgehaltenem Matriarchat geführt hat.

      …. später, nämlich nachmittags: Tropen, Papageienschreie, Kaimane…-:

      „- es ist dies unterwasserleben” schreiben Sie. Auch ich jetzt >>>> schreibe unter einer Art Wasser (15.56 Uhr), das unentwegt von oben auf mich sprühfein hinuntergeht; mein Laptop, wäre er, wie ich wollte: organisch, dankte es mir. Das wird er selbstverständlich n i c h t tun. Also halte ich es mit dem „Vertrag”, aber wissen Sie: – eben darum, weil ich glaube, daß die, die führen, längst vergessen haben, man folge nur Zwecken; sie selbst halten die Verträge unterdessen für Ontologie und haben sie selbst an einer Stelle unterschrieben, die dem Vertragsnehmer zugedacht ist. Und auch bei Buddenbrooks und Oper täuschen Sie sich, glaube ich. Es sind nur noch wenige Führungspersonen, die in die Oper gehen, die meisten, indeed, gehen zu Madonna; man vergißt immer schnell den Generationenwechsel, gerade auch ablesbar an Veröffentlichungen aus Kulturredaktionen. Machen Sie sich einfach bewußt, daß Kulturberater Gerhard Schröders zu seinen Kanzlerzeiten Müller-Westernhagen gewesen ist, nicht etwa Daniel Barenboim oder gar Helmut Lachenmann. Die meisten Machtmanager dieser Republik werden von denen allenfalls mal gelesen haben, von Lachenmann wahrscheinlich nicht mal das.

      Ich finde aber, es wird jetzt Zeit für die Männerkörper. Sie dürfen auch gerne Flossen haben. Wobei mir Ihr Abschlußsatz durch- und durchging.

      ANH,
      dessen Antwort nun d o c h etwas länger gebraucht hat, um formuliert zu sein.

    24. Vom SEE Lieber Herr Herbst,

      Sie sahen die Gründe auf dem Grunde des Sees – und haben Recht: keine Gründe zu klagen. Wohl aber für den Klagegesang der Weiber…

      Und: Haken wir „Beziehungen“ ab! Es gilt: keine zu unterhalten. Unterhalten wir uns. Prodesse et delectare. Doch haben wir uns – korrigieren Sie mich, wenn ich mich irre – von d i e s e r AUFKLÄRUNG recht weit entfernt. Nur gegen sich selbst gewendet kann sie – wie stets – gerettet werden. Lassen wir die Vernunft schlafen – und (von uns?) träumen..

      Fast, nur fast verursachten Sie mir – „Komplexe“, mein Lieber, wenn Sie mich fragen: „Unterwarf sie sich je?“ (Es geht um die Muse, erinnern Sie sich?) Schrieb ich denn, dass sie sich IHM unterwarf? Sie unterwarf sich, schrieb und meinte ich, seinem GESANG. Und was ist denn der Gesang, das Lied, der Text andres als ihrer beider gemeinsames Kind. Dem, entstanden aus jener göttlichen Zeugung, gibt sie sich – in der Tat – hin. Auf dessen kleinste Regungen lauscht sie, sachte glättet sie die Decke, in die beide es hüllten, verleiht mit ihrem Lächeln dem Kinde die Gewissheit der Liebe, mit der es hinaustritt in eine – nicht selten feindliche – Welt. So kann es bestehen. Oder zumindest darauf hoffen. Des Vaters Stolz hingegen teilt sie nicht. Sie tritt zurück, um in ihrem Reich wieder zu herrschen. ER hingegen prägt dem Kinde seinen Namen auf. („Der Vater ist immer unsicher“, wispern die Alten.)

      Dies Bild ist nicht originell, beileibe nicht. Entworfen hab´ ich´s wie eine „Neue Melusine“, die mit gewaltiger Sanftmut das Ungebärdige sich gefügig zu machen sucht. In Wahrheit aber lässt sich der MUTTERMORD, den ich hier so zart verbarg, nicht umgehen. Hören Sie diesen Gewährsmann zum „Gebrauch der Musen“:„Die Schöpfung nämlich gebiert in ihrer Vollendung den Schöpfer neu. Nicht seiner Weiblichkeit nach, in der sie empfangen wurde, sondern an seinem männlichen Element. Beseligt überholt er die Natur: denn dieses Dasein, das er zum ersten Mal aus der dunklen Tiefe des Mutterschoßes empfing, wird er nun einem helleren Reich zu danken haben. Nicht wo er geboren wurde ist seine Heimat, sondern er kommt zur Welt, wo seine Heimat ist. Er ist der männliche Erstgeborene des Werkes, das er einstmals empfangen hatte.“ (Walter Benjamin, Denkbilder)

      (Ihnen – übrigens – danke ich, ganz ohne Ironie, sondern aus vollem Herzen, dass Sie immerhin das andere „hellere Reich“ nicht schlicht der „dunklen Tiefe des Schoßes“ gegenüber stellen, sondern seine ganze Obszönität in grellem Neonlicht ausleuchten. So les´ ich Ihre Texte. Und daher schätze ich sie.)

      Gleichviel: Soll das „Werk“ entstehen, so muss sein Schöpfer, sich in der Vereinigung mit der Muse ein Weibliches einverleiben mit dem er forthin – ohne dunklen Mutterschoß – zeugen kann. Und die Mütter? Verbannt in die Tiefen, ins dunkle Reich. So weit hinunter steigt kaum einer mehr. Goethe wusste darum. Sein „Wilhelm Meister“ nicht. Freut mich, dass Sie über ihn lachen müssen. Kaum einer tut´s, dabei ist´s die einzig´ angemessene Reaktion auf diesen entsagenden Toren (und sein domestiziertes, sinn(en)-entleertes ideales Frauenbild, die blutleere Natalie).

      Es bleibt aber dabei: Wer schöpfen will, der braucht jenes Andere, der muss in einem gewaltsam-zärtlichen Akt sich das Gegengeschlecht einverleiben. „Die Muse“, schreiben Sie, „sorgt für das, was – und ob etwas – darüber hinausgeht.“ (über das Handwerk). D A S also verdankt sich, folgten Sie mir, der Erledigung (Entledigung?) der Mutter mit dem „dunklen Schoß“.

      (Werden Sie nicht ungeduldig – ich komme noch zu den Männerkörpern…)

      Wie aber soll und kann jetzt eine vorgehen, die selbst mit solchem „dunklen Schoß“ versehen ist? Der fehlt ein Anderes. Männliche Musen. VATER – Stellvertreter. Mordopfer-Kandidaten. (Sehen Sie, ich halt´ meine Versprechen. Schon bin ich da – bei den Männerkörpern!) Was nun? (Kennen Sie männliche Musen? Ich stellte die gleiche Frage neulich einem Freund und spontan nannte er Frida Kahlos Diego Rivera – Da materialisiert sich das Thema: Schauen Sie ihn an und erklären Sie mir, wie aus dem Blick auf diesen Körper Schönheitsfunken schlagen sollen… Nun, das ist jetzt ein bisschen böse. Ich will mich bessern!) Selbst wenn es hinreichend Kandidaten gäbe (und Schöne dazu), hülfe es nicht, wenn der, die´s betrifft, jeder Zug zur Domina fehlte. So kann die sich das männliche Element nicht einverleiben.

      Daher: Ein Männliches entsteht in ihr, wo diese Frau sich einem Mann in seiner Schwäche leiht. Wie ein Mann neben und hinter ihm steht. Oder alleine bleibt (haben Sie bemerkt, wie viele große Dichterinnen Tanten sind und keine Mütter?) Und so erklärt sich auch, warum es keine (oder kaum) Magazine für Frauen gibt, auf deren Titeln moderne Davids zu sehen wären, in ihrer strahlenden unversehrten Schönheit. Es richtet sich auf solche Vollkommenheit kaum das Begehren. Den ganzen Körper einer Frau werde ich immer mehr würdigen als den eines jeden Mannes. Am männlichen Körper dagegen entzündet sich das Begehren am Kontrast zwischen Kraft und Versehrung. Eine kleine Wunde, eine Narbe, eine Unvollkommenheit, deren Berührung ersehnt wird. Oder den Ausschnitt, den Torso, dessen sehnige Muskeln aufs Ganze verweisen, ohne es zu sein. Eine mit zartem Haar beflaumte, doch kräftige Hand auf einer Sessellehne, lässig aufgelehnt. Die Betrachtung könnte das Blut in die Wangen steigen lassen. Nicht aber (wie es einer Freundin einmal geschah), wenn der Geliebte in völliger Nacktheit -am besten in Yoga-Baumhaltung -erwartungsfroh im Türrahmen steht.

      Das ewige Matriarchat, von dem Sie schreiben, ich glaub´ hierin liegt seine Macht: dass kein Mann über das Begehren einer Frau verfügt, sondern es als Gnade erfährt. Sie erschaut in ihm, was ihn begehrenswert macht. (Männer dagegen scheinen doch sehr ausgeliefert an die „Primärreize“, denen sie triebhaft verfallen – doch sicher lässt sich da auch einiges kultivieren…)

      Für das Kunst-Kind indes, das aus der Vereinigung mit einer männlichen Muse entstehen könnte, gelten andere Bedingungen: kein Vater wird ihm den Namen aufprägen, keine Mutter ihm eine liebendes Lächeln mit auf den Weg geben. Es ist ein Kind der Gnade und Sie werden – denke ich – öfter sehen, dass es eine Versöhnung erstrebt zwischen Leben und Kunst, dass es sich nicht auf- und ausstellt, sondern verströmt. Darin liegt eine Gefahr. Es könnte untergehen.
      Doch, Gott sei Dank, hier gelten keine Regeln. Und es kann auch ganz anderes entstehen. (Und´s andere Frauen geben, wie´s andere Männer gibt.)

      Die wenig neue Geschichte, die Sie sich für mich (und meine Besessenheit) ersinnen, sollten Sie nicht glauben. Ich werde hier nichts zu Ihrer Aufklärung beitragen. Nur soviel: Ich entblöße mich n i e, allenfalls lasse ich mich entkleiden.

      Ich grüße Sie, atmen Sie tief durch, legen Sie eine eiserne Lunge an und tauchen Sie tief.

      Ihre Melusine

    25. Liebe Melusine, Sie schreiben „nicht aber, wenn der Geliebte in völliger Nacktheit im Türrahmen steht”,

      wobei ich nicht weiß und es mir dezentermaßen auch nicht ergooglen möchte, was denn eine Yoga-Baumhaltung sei, so daß ich nur hoffen kann, sie lasse das Glied da nicht tun, was es eben nicht sollte in solcher Situation… Sei’s drum. Ich halte dagegen, daß ein durchgebildeter Männerkörper, sieht man ihn von hinten, allemal schöner ist als i r g e n d einer einer Frau. Gefahrlos darf ich dies schreiben, da mir homoerotische Neigungen weitestgehend abgehen; das hindert ja nicht den ästhetischen Blick. Und hat nicht Ihre parzellierte, ja parzellierende Sehensweise ebenfalls etwas vom männlichen Gebanntsein durch Primärreize, zumal es um deren Kraft s o uneingeschränkt auch nicht gut bestellt ist? Was etwa soll mir eine abgetrennte weibliche Brust, und wäre sie noch so vollkommen? Gewiß, im Katholizismus, zu denken an Agathe, hat sie Fetischcharakter angenommen, aber kann sie, auf einer Tafel serviert, Erektionen befördern? Mitnichten, Melusine. Auch gibt es Frauen, die eine Schulterbeuge haben, an denen man Atemnot vor Lust bekäme, wäre da nicht… ach, wäre da nicht das mißglückte Gesicht, welches ich, wenn es geglückt ist, für das Aphrodisiakum-schlechthin halte, ganz schnell gefolgt von schmalen Hälsen, Füßen und Händen mit jenem Perlmuttlack, den nur Banausen „Nägel” nennen, weil Banausen Banausen eben sind.
      Aber schreiten wir auf den Körpern nur weiter. Es gibt auch schöne Mösen, das Chthonische legt sich die Sanftheit eines sich spaltenden Vordrängens um, je klarer der Spalt, desto entschiedener ist sein Sog. Und der Gestaltreichtum der Schwänze, in diesem Fall ist Phalli das treffende Wort, gleicht dem der übrigen Botanik; es gibt Stinkmorscheln darunter, indessen Schwertlilien a u c h – ganz unabhängig von Volumina und „Längen” und also anders, als es ein bedrückendes Einschüchtern noch heute den jungen Mann glauben lassen will. Wer jemals eine Frau sagen hörte, daß „er” und w i e schön „er” sei, weiß, was ich meine. Es gibt Frauen, die von „perfekten Hoden” sprechen, womit sie eben nicht Funktionalität meinen, sondern sie treffen ein ästhetisches Urteil, eines über Kunst: nicht anders bewundert man die malerische Größe eines Faltenwurfes, etwa bei den Flamen. Nein, Melusine, auch ein Männerkörper kann in seiner Gesamtheit zum Verfallen schön sein, ohne aber notwendigerweise Erregung auszulösen, zu der es, wie bei dem Frauenkörper, seelischer und pheromonaler Wirkstoffe bedarf. Wir Männer stehen auch nicht vor >>>> ihr, die man IHr schreiben muß, erigiert. Ohnedies ist da ein selten benanntes Geheimnis um die Erregung von Männern: um sie, allerdings nur kurz, zu erlangen, bedarf es keines guten Aussehens, sondern der Situationen, oft solcher, in denen Macht und Übertretung ineins gehn, beidseits; für das genetische Programm ist das genug. Prodesse et delectare wäre vielleicht auch hier anzuwenden, wenn auch aus Sicht der Art in umgekehrter Reihenfolge. Da haben Sie also ganz recht: Ich stelle ein angeblich „helles” männliches Prinzip, in das „wir” erlöst würden – auch nach dem Wir wären Anführungsstriche zu setzen -, einem vorgeblich „dunklen” Weiblichen nicht entgegen, ich halte auch wenig vom „dunklen Schoß”; wer in die Samenröhre kröche, hätte es gleichfalls nicht hell. Dennoch bleibt ein Geheimnis, das alle Chirurgie nicht öffnet, noch daß es das sezierte; in meinen >>>> Elegien schrieb ich darüber so:Berührten wir Dich, wir entweihten unser, der Männer, Geheimnis: ein schales, nicht dunkles Mysterium. Deshalb nur lassen wir Dich in der selbstherrlich bitteren Blüte so stehn und umschwirrn Dich wie Flügler, die wissen und Vorsicht, äußerste, wahren vorm Licht. Aus Notwehr er­stand unser Geist und nimmt jetzt den Meißel und haut Dich in Stein.Es ist ein Geheimnis auch, daß die, die es tragen, es längst nicht mehr wissen, oder doch nur wenige wissen es. In Pynchons Gravity’s Rainbow geht der Erzähler darauf ein:Die Mütter (…) hängen über das Kinderkriegen einen Schleier des Geheimnisvollen. (…) Die Wahrheit ist, daß sie nicht wissen, was in ihnen vorgeht; (…) dieselben Kräfte, die den Bomben ihren Weg vorschreiben, den Tod von Sternen befehlen, die Wind und Wolkenbrüche lenken, haben sich auf irgendeine Stelle in ihrem Becken gerichtet, ohne ihre Zustimmung, um wieder ein bedeutendes Zufallsereignis herbeizuführen.Dieselben Kräfte… zu denen auch das gehört, was Sie „Obszönitäten” nennen, was aber ich den Mysterien zuschlage. Obszön sind für mich korrupte Menschen, obszön ist die Bigotterie, nicht aber welche wie auch immer schäumende Lüsternheit; a l l e Lüsternheit hat etwas von dem Wahnsinn, der nicht den uninteressantesten Kulturen seit jeher heilig war. Noch unsere Marienprozessionen gehen auf Dionysos zurück, freilich von einem Patriarchat gebunden, das Entgrenzung auf keinen Fall zulassen mag.

      Da sind wir dann bei den M(el)us(in)en, aber Sie fragen um ein Feld, über das ich mir in meiner männlich-machistischen Begrenztheit nie einen Gedanken machte: wer ist die Muse einer Frau, der – die Komik hebt ja d a schon den Finger: – Muserich? – Ich weiß es nicht. Es fällt mir schwer, mich in jemanden einzufühlen, die einmal monatlich blutet, geschweige in eine, die zumindest prinzipiell, in den meisten Fällen aber tatsächlich zum bergenden Körper eines anderen Ichs wird, und zwar oft mehrmals; will sagen: ich glaube nicht einmal, daß solch eine Einfühlung möglich ist. Deshalb kann ich Ihnen zu männlichen Musen nichts sagen; sie klingen schon devot, was für mich, einen sehr gerichteten Spezialfall, schon dann kaum erträglich ist, wenn ich solche Männer sehe. Ich halte Geschlechterindifferenz für eine Lüge, die mit sexueller Schwäche bestraft wird, zumindest werden die Himmel- und Höllenkreise nicht ausgeschritten – in Ihrer Sprache: man schwimmt auf der Oberfläche und taucht nicht. Da müssen die Melusinen hinauf, anstatt daß sie einer unten wegraubt (die Ähnlichkeit von Raub und rape ist mir nicht erst seit den Sabinerinnen bekannt).
      Ich müßte also fantasieren. Meine Form der Erkenntnisfindung geht nahezu immer so: Wenn ich etwas verstehen will, schreibe ich eine Geschichte, die in sich stimmt. Aus ihr lese ich die Ergebnisse ab. Das bedeutet, daß ich an die ästhetische Wahrheitsfindung glaube; sie hat sich oft auch als praktisch erwiesen, als praktikabel nämlich. Ich probiere derlei ja aus. Also ich denke, daß auch die Damen mit Domina-Zügen schwerlich eine (!) Muse in der weichen Männlichkeit finden; w e n n es um Einverleibung des Männlichen geht, dann eben des Männlichen, also des Männlichen-als-Idee-und-Innenbild – wobei es klar ist, daß wir die „reinen” Formen ohnedies nicht finden. Mir selbst, der eine starke Neigung zu erotisch devoten Frauen hat, die dennoch fordern, wäre eine auch in allen übrigen Lebensbelangen devote Frau ausgesprochen unangenehm: ich finde Heimchen nicht begehrenswert. Erotische Devotheit schließt Selbstbewußtheit und Stärke nicht aus, ja wird überhaupt erst durch die Differenz berauschend. Deshalb glaube ich n i c h t, daß in der Frau das Männliche entstehe, wenn sie sich, wie Sie schreiben, einem Mann in seiner Schwäche leihe; in der Szene nennte man sowas „topping from the bottom”; das funktioniert wirklich nur bei Schein-Dominanten und ist meiner Erfahrung nach agierender Notwehr verdankt, die sich eine Stärke doch wenigstens auf ein Objekt projezieren will; wenn sie so wollen: ein Akt bewußter Selbsttäuschung. Wie ich auch meine, daß das Problem moderner Davids in ihrem Schwulsein begründet ist, nicht etwa in einem Mangel an männlichen Schönheiten, die zugleich das Bedürfnis nach der Wunde befrieden. Der narbige Krieger, ich weiß schon, der Schnitt über einer Braue, gewisse Asymmetrien. So schreibt Poe aber auch über weibliche Schönheit: es gebe keine erstrangige ohne eine gewisse Unverhältnismäßigkeit in ihren Proportionen. Ich weiß auch aus eigenem Erleben: Zahnlücke, verschieden große Ohren, Narben, ja… nichts zerstört die männliche Schönheit so sehr wie Zahnspangen. Und wen wir bei alle diesem vergessen nicht dürfen, ist e r, der Vater. Sie deuteten schon an. Aber ihm, vielleicht, gelte, umfangshalber, ein nächster Brief. Und dann, Neue Melusine, möcht ich doch gegenfragen, ob nicht auch sie, die Frau, männliches Begehren als Gnade erfährt; darüber frei verfügen, allenfalls, kann sie e i n Mal; danach, wenn sie es nicht anderweitig bindet, wird er das nächste Wild erwittern. Was nun aber Ihre Entblößung anbelangt, so besteht die eigentliche Kunst des Verführens darin, die Frau, die sich von ihm entkleiden l ä ß t, so zu entkleiden, daß er nicht eine Hand rührt und kaum einmal ein Lid.

      Auf dem Weg hinauf zum Wasserspiegel:

      Ihr
      ANH

    26. Sie am Spiegel erwartend mit dem Lid zuckend, lese ich, unsicher und meine Wägung wohl nicht ganz auf der Hand, Sie hätten Ihren Namen seinetwegen gewählt. Offensichtlich gibt es zu viel Vergangenheit in Ihnen, zumal ich nicht wissen kann, ob es stimmt, daß Rainald Goetz Ihren Rat scheut, sei’s aus literatur-familiären, sei’s aus grundsätzlichen Gründen. Sie scheinen Genaueres zu wissen, denn ich habe schon ein Problem mit der, auf das Literarische Weblog bezogenen Begrifflichkeit „Rat”. Beraten werden kann, wer beraten werden will oder wofür man gebeten oder aufgefordert wurde, nicht davon zu beraten. So etwas ist in Der Dschungel geschehen, jedenfalls nicht ohne Absicht. Daß dies bereits anders gesehen wurde, und zwar mit dem heftigsten Vorwurf, der sich denken läßt, ist nicht auszuschließen; ich müßte Entsprechendes – sagen wir – verinnerlichen. Zudem werden Sie zugeben, daß in Hinsicht auf Ihre Vergangenheit „nicht gerührte Hände“ einen sehr seltsamen Klang haben, ja, es ist sogar so, daß mir, geschlossenen Auges, dieses unbewegliche „Lid“ beinah eine Offenbarung sein müßte. Wiederum, daß sich unsere Musen des öfentlichen Lebens habhaftbar machen, Entblößungen geradezu herausfordern, unterscheidet sie von „gnadenhaften“ Huldigungen jenseits der Geschlechterrollen. Ich sehe Sie noch nicht, der Weg zum Spiegel ist weit und „achten“ Sie auf Ihren Atem.

      Herzlichst Ihre Melusine

    27. @MelusineB. Die Schimäre vertat sich, ein garstger Nix war’s, der sich durch blutende Stirnen verriet, an denen sich zu versuchen ihm selber der Mut fehlt. Tiere riechen die Angst bei den Menschen.

    28. VERMEIDUNG DER ENTKLEIDUNG ? Lieber Herbst (ich lasse den „Herrn“ weg und hoffe so teilzuhaben an Ihrem Frühling – der sich aber, wie ich höre, verspätet…)

      wie schwer Sie es mir machen, diesmal zu antworten. Absichtsvoll versuchen Sie mit Ihrer Antwort mich so zu verführen, dass ich mich doch entblöße bzw. Sie mich – ohne sich zu rühren – entkleiden können. Dagegen werde ich mich – verteidigen. Und: ein wenig bewegten SIE sich doch. Das wird ein Tanz. Ich will versuchen, die Figuren so auszuführen, dass ich Ihnen nahe komme und doch immer a n g e z o g e n bleibe. Verstehen Sie?

      Ihr Anfang wunderte mich – dass Sie gerade diese Stelle herausgriffen, um mir so – vorgeblich nonchalant – zu widersprechen: „Sei´s drum. Ich halte dagegen…“ Was störte Sie, dachte ich, an der „völligen Nacktheit im Türrahmen“ (und der Yoga-Baumhaltung, die Ihre Schamhaftigkeit hervortrieb)? Etwa die „Fülligkeit“, die der Klang des Wortes „völlig“ evoziert (bei mir zumindest, aber ich kenne d e n Mann auch)? Ich glaube nicht. Sie wollten mir durchaus einen „durchgebildeten Männerkörper“ vorstellen. Oder hätten gewünscht, dass ich ihn mir vorstelle… War es das? Ich habe noch einen anderen Verdacht, der aber weit hergeholt ist und den ich daher (noch?) nicht äußern werde. „Gefahrlos“ dürften Sie von den Männerkörpern mir schwärmen, schrieben Sie, da Ihnen homoerotische Neigungen fremd seien. Nun, Sie dürften mir das auch schreiben, wenn die Ihnen bekannt wären! M i r sind sie – bekannt (doch – bisher – nur die „Neigungen“).

      Immerhin führt uns dies zu einer wichtigen Unterscheidung: der begehrende und begehrliche Blick und die Schau der Schönheit sind n i c h t identisch. M i r wird indessen immer die Vorder- oder Rückenansicht i r g e n d e i n e r Frau schöner erscheinen, als die eines – wie immer durchgebildeten – Mannes. Dass es so ist, halte ich für eine – durchaus nicht seltene – Deformation des weiblichen Blickes in unserer Kultur: dass wir „geschult“ sind, die Schönheit eines Frauenkörpers zu e r k e n n e n, die eines Davids aber ausschließlich Winckelmanns Homoerotik zuschlagen. Sie, scheint es, sind von dieser Deformation frei – oder doch nicht, da Sie sich so sehr gegen alle Homoerotik abgrenzen.
      Ich jedenfalls kann den Anblick einer schönen Frau mehr genießen, als den eines schönen – Mannes. Wer, welcher Mann, ist so schön wie – sagen wir – Penelope Cruz? Ich kann aber auch, beim Schauen auf eine Frau i n B e w e g u n g ganz flirrig werden vor Begehren. Ach, eine Frau zusammengerollt in einem Sessel, die sich entrollt und ausstreckt… Und entblößte Schulterbeugen, ja…

      Aber Recht haben Sie, dass die „parzellierende Sichtweise“, die Zerstückelung der Körper, an der sich mein Begehren des Mannes entzündet, dem Objekt der Begierde ein Unrecht tut. Kann es je anders sein? Was ich meine, ist: Gibt es einen begehrenden Blick jenseits der Pornographie? Schönheit allerdings entsteht so nicht, das stimmt. Die erkenne ich am Mann – mehr noch als bei Frauen – überhaupt erst in der Bewegung. Grazie. Bei Männern ist Grazie verhaltene Kraft, Verzögerung, Anspannung – Sprung. Keine stampfenden Fußballerwaden (obwohl auch hier manche gefallen können). Auch in den Gesichtern geht es weniger um die ebenmäßigen Züge, denn um die Mimik, die entzücken kann. Eine Falte über der Stirn, ein schief gezogener Mund…Und selbst Cary Grant wäre nichts ohne die Grube in seinem Kinn…Aber auch hier: Es ist selten das ganze Gesicht, dem ich verfalle. Die Augen sind es – zuerst.
      Von Mösen – weiß ICH nichts, ich haben, denken Sie bloß, noch keine g e s e h e n – s o gesehen. Schwänze – jetzt komme ich dahin, wo ich meine, dass Sie mir böse sind (weil Sie´s schon ahnten) oder werden. Sie verachten, weiß ich, die Prüderie. Bin ich prüde? Weil ich über Schwänze nicht r e d e? Keine Angst habe ich vor Nacktheit, auch stört mich in der Öffentlichkeit das Sprechen über Schwänze, Mösen und Ficken nicht. Dagegen vermeide ich das Reden darüber, wo ich intim bin. Das heißt: Ich bin nicht prüde mit geschürzten Lippen, sondern: mit offenem Mund.
      (Das wirft – für mich – die Frage auf, wie ich HIER schreibe: öffentlich oder intim. Eine seltsame Form ist das: Was wir hier schreiben, schreiben wir einander und doch nicht einander, sondern all denen, die es lesen (wollen). Und können es doch nur schreiben (zumindest gilt dies für mich), weil es gerichtet ist – an EINEN. – Ich kehre mit dieser Überlegung – merken Sie´s – an den Ausgangspunkt unserer Korrespondenz zurück. Und entdecke eine neue Dimension… Sie haben Erfahrung mit dieser Form, ja es ist wohl die Ihre. Ich muss lernen und üben… Wir werden sehen.)

      Recht gebe ich Ihnen, dass es die Mysterien sind, die aller Kunst erst den Zauber verleihen. Und im tiefsten Grunde bleibt es wohl unsere Sexualität aus der sich alle Mysterien nähren. Dass sie nicht bloß Zeugungstrieb ist und auch als solcher uns u n b e g r e i f l i c h bleibt, treibt uns dazu, den Meißel in die Hand zu nehmen und den Stein zu behauen. – Doch das „uns“ ist falsch. ER nimmt den Meißel und haut SIE (in den Stein). Das Bild ist gut, weil es die Gewalt offenbart, die hier geschieht. Auch Frauen aber, wie Sie Pynchon zitierend zeigen, bleiben sich hierin fremd und manche wollen der Fremdheit Ausdruck verleihen. Doch haben sie oft keinen Meißel zur Hand und wenn doch, dann kein DU, das sich meißeln lässt. „Muse-rich“ – in der Tat – wer könnte sich an so einem entzünden. (Ich musste gleich an Unkerich aus der Lurchi-Serie von Salamander denken und der könnte unerotischer kaum sein. Aber nett!) Der Gedanke, dass eine Frau eine Entsprechung zur Muse ersehnen könnte, kam Ihnen wirklich nie?
      „Ich weiß es nicht.“ – schreiben Sie. So geht´s mir auch. Ich verstehe Ihre Einwände gegen das Bild, das ich – hilfsweise – entwarf: die Verleihung an seine Schwäche. Nein, das geht wirklich nicht. (By the way: Was heißt denn hier „topping from the bottom”? – Da ich d i e Szene nicht kenne.) Es geht überhaupt nicht. Ich verstehe jetzt, dass auch einer Frau als Muse nur eine Frau taugt. Eigentlich habe ich´s immer gewusst. Meine Schwester…
      Vielleicht braucht eine Frau ein Männliches nicht, um zu schöpfen. Oder sie hat es immer schon, als mögliche Mutter eines Sohnes? Ein gefährliches Gebiet, das ich diesmal nur streifen will. Wie auch die Väter. Ich hatte dazu etwas geschrieben, doch ist es – Ihrer Lockung folgend – ent-blößend geworden und daher lass ich es weg. Diesmal. Und schreib es anders. Ein nächstes Mal.
      Unsere Erfahrungen, stelle ich fest, sind nicht nur im Umfang sehr von einander unterschieden. Ich räume ohne weiteres ein, dass die Ihren an Zahl und Formenvielfalt die meinen sicher weit übertreffen – doch sehen Sie: Ich habe Gnade nie gebraucht. Wer e i n Mal mich wollte, der wollte mich – nachher – nicht mehr gehen lassen.
      Schreiben Sie mir über „Situationen, …, in denen Macht und Übertretung ineins gehen“. Das interessiert mich. Raub, rape, rapture…
      Liebe Grüße von DRUNTEN
      Melusine

    29. ein hohes lied auf die schönheit der männer, schnellstens 8 Ich beschwöre euch, Töchter Jerusalems, wenn ihr meinen Geliebten findet, was sollt ihr ihm berichten? Daß ich krank bin vor Liebe. –
      9 Was ist dein Geliebter vor einem anderen Geliebten, du Schönste unter den Frauen? Was ist dein Geliebter vor einem anderen Geliebten, daß du uns also beschwörst? –
      10 Mein Geliebter ist weiß und rot, ausgezeichnet vor Zehntausenden.
      11 Sein Haupt ist gediegenes, feines Gold, seine Locken sind herabwallend, schwarz wie der Rabe;
      12 seine Augen wie Tauben an Wasserbächen, badend in Milch, eingefaßte Steine;
      13 seine Wangen wie Beete von Würzkraut, Anhöhen von duftenden Pflanzen; seine Lippen Lilien, träufelnd von fließender Myrrhe;
      14 seine Hände goldene Rollen, mit Topasen besetzt; sein Leib ein Kunstwerk von Elfenbein, bedeckt mit Saphiren;
      15 seine Schenkel Säulen von weißem Marmor, gegründet auf Untersätze von feinem Golde; seine Gestalt wie der Libanon, auserlesen wie die Zedern;
      16 sein Gaumen ist lauter Süßigkeit, und alles an ihm ist lieblich. Das ist mein Geliebter, und das mein Freund, ihr Töchter Jerusalems! –

      m schaut auf meine hände und sagt, du bist ein mann, dein ringfinger ist länger als dein zeigefinger, stand in der gala. schwules mädchen also. kein wunder, dass bi-männer auf mich stehen, schreibt die gala.
      und schaute ich gestern augen, so frug ich mich, welche farbe, welche farbe denn nun, ich schau, muss noch einmal nachschauen, es ist nie braun, nie blau, nie grün, die iris, ein stand fruchtkapillare, jede einzelne angefüllt mit anderem finish, tempera und bootslack.

    30. @diadorim Wie eigenartig: Das Hohe Lied hatte ich neben mir liegen, als ich schrieb. Und habe dann doch nicht daraus zitiert. Aber schön ist es: „seine Schenkel wie Säulen von weißem Marmor.“ – Aber ICH wünschte doch, ER bewegte sich.

      Ein „schwules Mädchen“ bin ich nicht. Die Augenfarbe verrate ich nicht.

      Melusine

    31. oh, er bewegt sich, in einem schauraum, bei bionade, in einem rahmen aus perlen, er bewegt sich, er bewegt sich, an den geräten, die schnell heissen, und die zeit fließt manchmal in tropfen.
      schwules mädchen. vielleicht bin ich eins. ich habe graue augen.

    32. @MelsuineB. Auch ich werde, selbstverständlich, antworten, nicht aber mehr schaffe ich es >>>> davor. [Diese Bemerkung auch nur, weil sich diadorims (sehr schöne, finde ich, sehr tänzerische) eher Beifügungen als Kommantare hier dazugesellt haben.]

      Und nun gehen wir los, mein Sohn und ich.

    33. Liebe Melusine, „ohne sich zu rühren”, also mich zu rühren, können Sie nicht meinen! Wir rühren uns hier beide, allein, indem wir schreiben; ich rührte mich doch nur dann nicht, ließe ich alleine Sie die Konversation weiterführen. Und wirklich, Sie schränkten das schon ein mit Ihrem „ein wenig”, was mir dennoch ein wenig zu wenig Einschränkung ist.

      Was mich an der Yoga-Tür störte? An sich wollte ich das Bild, das mir vor Augen stand, nicht deutlicher zeigen, allein der Komik wegen, die in der Andeutung liegt; überspannt man sie, wird es zotig oder albern. Nein nein, an einen „vollschlanken” Herrn dachte ich mitnichten, vielmehr an die Gravitation und was sie bei auf dem Kopf stehenden Männern falsch bewirkt. Diese Art der Bekleidung müssen Sie auch mir zugestehen, wenigstens einstweilen, um einen späteren, selbstverständlich sittlichen Tauchgang (Badehose, Schwimmflossen, Taucherbrille und Schnorchel) nicht ganz auszuschließen. Ich bin fast prinzipiell gegen Ausschlüsse, auch wenn ich mich gern dazu hinreißen lasse, die Regeln des Standardtanzes zu befolgen, welche Sie bekleidet lassen.

      Ich ginge, grenzte ich mich von der Homoerotik nicht ab, einen schwierigen Weg; wo ich dies nämlich n i c h t tat, gab es immer wieder berufliche Konflikte; außerdem gefällt mir meine männliche Homophobie schon deshalb, weil das Gegenteil so modern wurde, man hat als Schwulenfreund so z u sehr das Gefühl, Teil eines großen aufgeklärten Ganzen zu sein. Ich mag auch einem Ball nicht hinterherrennen, wenn das schon neun andere tun und die zehn der Gegenseite, und außenrum sitzen Horden aus Flachmann, Bierdunst und Fleischwurst, die alle laut johlen… Will sagen: wenn etwas so sehr allgemein ist, so „in” ist, dann habe ich den Instinkt, daß etwas nicht damit stimmt und man gut daran tut, auf Distanz zu gehen. Das sollte man zu j e d e r Massenbewegung, es ist völlig wurscht, ob sie links, linksliberal, konservativ, rechts ist. Das ist ja der Vorteil an allem Elitären: daß es zur Massenbewegung nicht taugt, also auch nicht zur Bewegung von Massen. Womit ich schon bei Frau Cruz bin, die, obwohl dunkelhaariger südlicher Typus, ich als Venus nicht ansehen kann; da ist etwas Primitives an ihr, etwas Grobes, das das Bild sehr stört, ein Mangel an ausgefeiltem Character – wohlgemerkt, bitte, ich spreche von ihr als Bild, nicht persönlich, die ich auch gar nicht kenne; mein persönlicher Umgang mit Stars ist ausgesprochen begrenzt. Doch wenn schon, dann hielte ich Frau Cruz entschieden Frau Schneider entgegen, Romy Schneider, auch und besonders Charlotte Rampling, Stéphane Audran, unter den Blondinen vor allem Lauren Bacall, stark auch die Béart aus La Belle Noiseuse und vor allem aus Vinyan; ihr habe ich sogar begonnen, >>>> einen Gedichtzyklus zu schreiben. Ich mochte die Maruschka Detmers von „Teufel im Leib” und wie Godard sie in „Prénom Carmen” in Szene setzte. Auch der spitzigen Perversion Nastassja Kinskis, nicht der Kind- sondern der unterdessen reifen Frau (ich spreche weiterhin von der Erscheinung, nicht dem, was jemand „wirklich” sei), gewinne ich einiges ab, das nicht ohne Gefahr ist. Frau Cruz dagegen ist mir zu – mit einem Wort: „normal”, als daß sie sich auch nur von ungefähr als Muse eignete. Ich nenne alledie Namen aber nur, weil Sie mit sowas angefangen haben. Wobei ich gestehe, auch von der Jolie benommen zu sein, von ihrer Neigung zur Tätowierung etwa, der ich ansonsten eher fremd gegenüberstehe.
      Mitunter werden der begehrende Blick und Schönheitsschau freilich d o c h identisch, nur schließt sich das bei Stars, meine ich, aus, es sei denn, man wolle sich lächerlich machen. Nicht so auf der Straße. Da gilt sehr oft Baudelaires À une passante; in mutigen Zeiten gebe ich den Impulsen nach und schaue nicht nur hinterher. Was nun die weibliche Blickschulung anbelangt, meine ich, es genüge schon vollkommen, um sie zu wissen: woraufhin frau aus ihr ausbrechen kann. Ich lebe in einer Stadt, in der dergleichen nicht selten geschah – ja: es gibt auch Jägerinnen. Man behält von denen, war man das Wild, Narben zurück, die zu tragen überaus stolz macht.
      Die andere Frage, die Sie stellen, möchte ich umdrehen: gibt es einen begehrenden Blick i n der Pornographie? Eher nicht, meine ich, sondern der begehrende Blick, der sich auch ausdrückt und dann handelt (was immer bedeutet, daß man riskiert), findet sich viel eher dort, wo er als vermeintlich Pornographisches in ganz andere Zusammenhänge eindringt; überhaupt da erst bekommt das vermeintlich Pornographische pornographische Kraft. Man spürt sie, als nicht direkt Beteiligter, sehr genau immer daran, daß etwas ins Rutschen gerät, daß Konventionen gefährdet werden usw. Die Pornographie a l s Pornographie bestätigt aber die Konventionen, ja i s t Konvention. Nur deshalb konnte die „berüchtigte” Szene in „Teufel im Leib” so wirken; innerhalb eines Pornos wäre sie öde und geradezu harmlos gewesen. Insofern, damit etwas schön und begehrlich sei, braucht es den fremden Zusammenhang. Nichts ist öder als die Massierung schöner Frauenkörper auf einer Modenshow, nichts weniger erektiv als ein Catwalk.

      Nein, Melusine, ich verachte die Prüderie nicht. Ich bemitleide sie. Doch weiß ich Mittel, sie aufzuheben, ja ihre gebundene Energie ins entbundene Gegenteil zu verkehren. Nichts anderes meint doch, wir bleiben beim Thema, Verführung. Das Wort „Führung” steht da drin, etwas im alten Sinn Männliches, das sich aus der Gegenwehr kultivierte; wies ich nicht darauf schon hin – : „wären sie uns gleichgestellt, sie wären uns überlegen”? – Um ketzerisch zu sein und Ihnen ketzerisch „topping from the bottom” zu erklären: die Suche nach der genetischen Kraft, die frau – ob tatsächlich oder symbolisch, ist einerlei – an das Ei läßt; frau muß schon sehr denaturiert sein, um in sich Schwäche fortpflanzen zu lassen. Nun gibt es aber solch männliche Dominanz nicht mehr oft – ein Kollateralschaden wahrscheinlich der Frauenbewegung -, vor allem nicht da, wo auch Geist ist, einfach weil Geist immer auch Skepsis bedeutet und Skepsis nicht gerade zu Taten anspornt; also projeziert frau Dominanz in etwas hinein, das es nicht ist, leitet sie aber gestisch oder mit Blicken oder mit Seufzern an, es zu werden – oder doch in einer Weise ihr Vorschein zu werden, die das Bedürfnis wenigstens einigermaßen befriedet.

      Ja, wem schreiben wir? Für mich ist diese Frage unerheblich, ich unterhalte mich in meinen Büchern ohnedies permanent mit idealen Lesern. Bücher seien nur dickere Briefe an Freunde, formulierte Jean Paul, unterschlug allerdings, daß es diese Freunde wahrscheinlich – so, wie man sie möchte – nicht gibt. Deshalb variiere ich den Satz: Bücher sind Briefe an andere Bücher und an deren ideale Leser. Das gilt für ein Literarisches Weblog genauso, und auch für eine in ihm geführte Konversation. Von Kafka wissen wir, als wie sie gefährdend ein sie durchbrechender persönlicher, physischer Kontakt empfunden werden kann. Wir wissen es unterdessen auch aus vielen Chats, die sich der Partnersuche widmen: es wird der Partner im Kopf viel mehr als der im Bett gesucht, auch wenn das Bett – aber ein ideales – nicht selten das Zentrum solcher Konversationen ist. Ein echtes Bett da hineinzuwuchten und dann de facto zu Sache und Wollust zu kommen, beendet sie oft. Was ist uns wert? müssen wir fragen. Wobei in unserem Fall, daß andere mitlesen, eine Art Schutz ist: die weiteste Form der Anonymität ist in der Öffentlichkeit zu realisieren, und zwar selbst dann, wenn man, wie ich’s tu, mit seinem Klarnamen auftritt. Ich trete auf – in jedem Fall. Das Literarische Weblog ist eine Bühne. Mehr oder minder gesichtslos sieht uns das Publikum zu: seine Gesichtslosigkeit geht auf uns über. So bleibt das wirklich Intime erst wirklich intim. Versteckten wir’s im Dunkeln, es würde mit Kraft ans Licht gezerrt.

      Ja, die Gewalt. Je älter ich wurde, desto weniger kann ich noch glauben, daß i r g e n d etwas, sofern es denn leben will, ohne Gewalt auskommen kann, sowohl erfahrene wie selbst ausgeübte. Wir können und sollten diese Gewalt nicht leugnen, sondern kultivieren – wie etwa der Tango immer ein Messer zwischen den Zähnen des Geschlechterkampfes hat, ohne es aber wirklich zu nutzen -; sie zu leugnen jedenfalls, führte i m m e r zum Mißbrauch. Sowie soziale Macht mit ins Spiel kommt. Verdrängungen kehren wi(e)der – als gälte der Energieerhaltungssatz auch hier. Er gilt. (Gälte er übrigens nicht, dann würden wir erstarren: Entropie).

      Von dem, worum Sie mich dezidiert baten, Ihnen davon zu schreiben, möchte ich erst einmal absehen – expressis verbis absehen, weil ich glaube, daß sich solche Dynamiken nur zwischen den Zeilen angemessen mitteilen; wir versuchen hier ja keine Art wissenschaftlicher Abhandlung, vielmehr kommt ein Verständnis übers Geschehen zustande…. dann erst, i s t geschehen, hebt es sich sinnvoll in die Reflexion: „Wie konnte ich nur..?!” Dann entstehen Romane wie >>>> MEERE. Darin, glaube ich, finden sich viele Ihrer Fragen beantwortet – auf die poetische Weise, die ihnen angemessen ist. Wie konnte ich nur wollen..?! – Erst dann, Melusine, wollte man – und es geschah -, sind die Abwehrprozesse gütig (i.e. „menschlich”) beiseitegelegt.

      Heute also ohne Raub:

      ANH, der das Licht liebt.

    34. Lieber ANH!

      Der tiefe See, Deutschlands tiefster, wie ich glaube, den ich mir zur Wohnstätte ausgesucht habe (nachdem in dem Haus am Ufer eine Andere, die ich liebe, die Herrin ist), dieser See also, scheint´s, zieht von unten aus seiner Tiefe mich beizeiten so sehr hinab, dass ich das LICHT von oben kaum mehr erkennen kann. Wer lange nicht geschrieben hat, sehr lange nicht, den kann´s überwältigen, was da hinabgesunken ist – unbeschrieben. Das gilt – wie ich erkennen muss – auch, wenn man nicht – wie Sie – ums Leben, um zu leben, für den Lebensunterhalt schreibt.

      —————–

      Lese ich, was Sie über Ihre Gründe schreiben, sich gegen Homoerotik abzugrenzen, so glaube ich, dass ich doch ganz die gleichen geltend machen kann für das, was ich „Prüderie“ genannt habe und doch eigentlich keine ist. Das allfällige Geschwätz über Sex auf allen Kanälen ist so sehr m o d e r n, das ich mitredend zu sehr das Gefühl hätte, Teil des großen nicht-aufgeklärten Ganzen zu sein. Das Schweigen hier – das Hoffen und Verlangen, dass die Körper selber sprechen – empfinde ich als Gegenwehr.

      D e m Ball also mag i c h nicht hinterherrennen (ich renne sowieso nie, sondern lasse rennen). Aber die „Horden“, die Sie so verächtlich beschreiben, unter die misch ich mich (den Fischschwanz gut verborgen) gelegentlich gern. In der Horde, Herbst, links und rechts, vor und hinter mir sind überall – Menschen. Die johlen nicht alle nur laut und sind nicht, keiner – hören Sie hin! – (all) gemein. Ich verstehe Ihre Scheu (ich möchte es lieber als solche verstehen, und so tun, als habe ich die Verachtung nicht gespürt) gegenüber Massenbewegungen. Wo es politisch wird, teile ich sie unbedingt. Es ist immer gefährlich, sich zu einzulassen, die eigene Grenze zu überschreiten und sich zu verbinden. Gerade das kann geschehen, wenn Sie sich einer „Masse“ eingliedern, aus tausend Körpern ein Körper wird und eine Stimme. Dann schwingt eine ungeheure Kraft auf, die kein Einzelner so erzeugen kann. Eine Welle entsteht, man ist ganz DA und völlig außer sich. Eine Übertretung – und insofern eine sexuelle Erfahrung.

      Gegen solche Erfahrung wollen Sie sich immunisieren, Sie haben entschieden, so nicht DA zu sein und bei sich zu bleiben. Das kann ich respektieren und ich verstehe die Gründe auch. Anders dagegen geht es mir mit ihrer Abwehr gegen alles, was vielen gefällt. Es kommt mir vor, als reichte es Ihnen schon, ein Bild, ein Lied, ein Buch herabzusetzen, wenn es „beliebt“ ist. Als könne per se nichts taugen, was ein großes Publikum findet. Das ist alles POP und Pop ist Mist. Punkt. Basta. Machen Sie es sich hier nicht zu einfach? Ist das als Unterscheidungskriterium, als Qualitätsmerkmal genug? Der Werther war ein „Bestseller“ – und berührt mich immer noch. (Nicht immer angenehm, übrigens.) Es will doch jede, jeder, der schreibt, malt, musiziert, wenn er, wenn sie es denn ernsthaft betreibt, gelesen, gesehen, gehört werden. Welches Glück ist es dann, wenn es gelingt, auch die vielen zu erreichen, zu berühren, die sonst ausgeschlossen werden und abgespeist mit dem verklebten, abgestandenen, breiigen Müll, der sich überall ausbreitet. D e n verteidige ich hier nicht.

      Anders als Sie habe ich die vorgeblichen E l i t e n (ich weiß schon, dass Sie das Wort anders meinen), immer mehr verachtet als die Massen. Etwas Elitäres, ich nenne es lieber Solitäres entsteht nicht aus der Behauptung und der Abgrenzung, der Setzung von „Distinktionsmerkmalen“, dem Einsatz von „sozialem Kapital“, sondern aus der Tiefe, dem Schöpfen da unten, wo wir uns alle gleichen – und deshalb wird, was in großer Kunst „gesagt“ wird, eben nicht für blasierte Eliten gesagt, sondern für a l l e. Auch wenn´s nicht alle „verstehen“.

      ————–
      Ach, wie uncharmant Sie über Frau Cruz schreiben, m e i n e Schöne. Ich glaub´, was Sie an Ihr nicht mögen, ist gerade das, was mich anzieht: das Erdige, Bäuerliche. Bedenken Sie, Herbst, i c h komme auch aus der Tiefe eines Elements, das Meerschaumige ist nur die Erscheinung am Licht. Unten herum kleben die Algen und der Tang. Ich mag´s, wenn man das einer Frau noch ansieht, dass sie „zupacken“ kann. – Nun, da werden wir uns kaum einigen. (Sie vergaßen – wahrscheinlich eben nicht zufällig – in ihrer Reihung Fanny Ardant. D e r könnte ich Gedichte schreiben.). An meiner „weiblichen Blickschulung“ auf den Mann hingegen – erkenne ich – müsste ich noch a r b e i t e n (aber das ist ein sehr hässliches Wort in dem Zusammenhang).

      Was Sie über den begehrenden Blick schrieben, war mir sehr lehrreich: „der begehrende Blick, der sich ausdrückt und handelt“ – den werfe ich nicht. Es gehört, ganz offenbar – ich habe das nur nie gesehen – , zu meiner Prägung nicht zu handeln, sondern handeln zu lassen. Es berührt mich eigentümlich, dies aufzuschreiben und zuzugeben. Aber es ist wahr. Und eine Wahrheit, wie ich finde, die mich nicht entkleidet – und folglich hier erscheinen kann. M o d e r n – im oben erwähnten Sinne – wäre es nun, mir zu raten, wie dies zu überwinden sei. Das will ich nicht. So ist es. Und es gefällt mir gut. Da muss ich keine Andere sein. Ich jage nicht. Aber: Rotkäppchen im tiefen Wald auf der SUCHE nach dem Wolf…

      (Neben der Ver-Führung, lieber ANH, gibt es auch Ver-Fügung – und Ein-Fügung. Barock statt Gotik.)

      Lieber Herr Herbst, ich habe MEERE gelesen. Ein Zufall ist es, dass ich diesen Blog „gefunden“ habe (obwohl ich nicht an Zufälle glaube). Ihre Bücher (nicht alle, aber einige) lese ich schon länger. Sie sind vielleicht sehr überrascht, wenn Sie erfahren, was mich in MEERE am meisten berührte – und wirklich t r a f. Darüber eben kann ein Autor nicht verfügen, wie seine Sätze gelesen werden. „…wir hätten die Geburt ohne einander kaum durchgestanden…“ Sie haben die Szene der Geburt mit der „Blutschlacht“ verbunden – und das l e u c h t e t mir so sehr ein…

      ………….
      Ich kann da nicht weiterschreiben. Und diesmal hat es andere Gründe, mein Verstummen. Diesmal geht es nicht um Verkleidung und Verbergen – Es ist so: die Leugnung der Gewalt – an dieser Stelle – kann einen Erstickungstod bewirken. Er ist nur fast eingetreten. Aber die Stimme ist nicht zurückgekehrt. Sie murmelt, ist kaum zu verstehen.
      ………….

      Ich liebe das Licht auch, aber nicht immer traue ich ihm.

      Melusine

      P.S. Der Vater, der Vater – ich denke viel an IHN. Und werde ein andermal darüber schreiben.

    35. @Melusine. „Schreiben“ ist >>>> dort als e m p h a t i s c h e r Ausdruck verwendet, deshalb hab ich ihn kursiviert. Er spielt semantisch im übrigen mit dem Idiom „auf einen Brief antworten“, und nicht „auf Melusine schreiben“ steht da, sondern eben „auf den Brief schreiben“, mit der Kursivierung und dem Bedeutungsspiel.

    36. Liebe Melusine, die Algen und der Morast, wer wäre ich, die zu leugnen, ja ihnen entgegenzustehen? Das tue ich nicht, bin viel zu schlammig selbst, wenn ich wühle… und ich w ü h l e, wenn ich mich einlasse. Wir sind ja organisch und eben n i c h t nur Geist. Das zu wissen und es auch zu leben, stärkt ihn, denn organisch, letztlich, ist auch er und hängt an der Nabelschnur; zwackt man sie ab, wird er ausgezehrt siechen und schließlich sterben. Erde gibt uns Geist, nicht ein Gott, nicht Engel, nicht irgend ein sonstiges blutloses Gedächtelchen. Nein, das war es nicht, was ich einwandte gegen die Ihre. Zumal die Ihre ja eine Ihre-in-der-Vorstellung ist, wie „die Meinen” nur in meiner Vorstellung. Mein Einwand ist vielmehr, daß unsere Vorstellungen bereits industriell gefertigt werden. Hier liegen mein Verdacht und meine Distanz.
      Nein, nicht weil etwas allgemein beliebt sei, halte ich es schon für schlecht. Tatsächlich halte ich es aber für einen Grund, ihm zu mißtrauen. Dann prüft man und bestätigt oder verwirft. Aber erst dann. Zu viel Unheil ist über Fantum geschehen, zumal in Deutschland, das Millionen Fans andere Millionen in die Kammern hat wissend schicken lassen. Hitlerdeutschland war in allererster Linie ein Ergebnis von Fans; daß die USA heute und seit Jahren permanente Völkerrechtsverstöße begehen können, ebenfalls. Hitlerdeutschland war Showbusiness; daß ich deshalb so empfindlich bin – überempfindlich, sagen viele -, liegt auch an meiner familiären Herkunft; es liegt aber mindestens ebenso an meinen persönlichen Erfahrungen mit Gruppen, sei’s in der Schule, sei’s im Freizeitbereich; und es liegt, selbstverständlich, an Menschen, die mich geprägt haben, ob nun persönlich-direkt oder über meine Lektüren. Nein, Hitlerdeutschland ist, wenn ich es argumentierend benenne, k e i n Totschlagargument, sondern eine gefühlte Verpflichtung, die ich zu tragen habe; es ein Totschlagargument zu nennen, ist bereits die neue Show, das neue Business, das darüber hinwegschieben will, daß jenes Unternehmen der Manipulation, welches wir heute PR nennen, in direkter Linie von Goebbels stammt: Lehren seiner Strategien. Schon deshalb habe ich die Fluchtbewegung in die Arme des Siegers, die vor allem über die Musik lief und englischsprachig war, nicht mitgemacht; ich halte sie für eine falsche Erlöserbewegung, wie ich Erlöserbewegungen insgesamt für falsch halte.
      Sie haben recht: der Einzelne ist erst einmal „nur Mensch” und als solcher wert, aber sowie er in die Masse taucht, hört es auf mit dem Einzelnen; er reagiert dann auch völlig anders, als sitzt man beisammen und spricht. Deshalb macht mich, was auf Massen wirkt, mißtrauisch. Da höre ich sehr genau hin. Dann fälle ich mein Urteil, in dem ich mich selbstverständlich auch irren kann. Genau hinzuhören, bedeutet zu vergleichen, in Beziehung zu setzen undsoweiter. In vielen Fällen kann mir da auch Pop gefallen: Ich liebe Joni Mitchell, ich war eine Zeit lang versessen auf Johnny Cash, ich hänge bis heute an Konstantin Wecker, ich verehre bis heute Hannes Wader, wiewohl ich politisch anders gesonnen bin und war; ich liebe Paolo Conte; es gibt der Beispiele viele, für die ich mit einigen Massen unisono bin. Wiederum – wenn ich etwa >>>> diadorims Konzertkritiken lese (ich lese sie gerne, sie schreibt viel zu wenige) – kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, das sei gar kein Pop, auch wenn es so genannt ist, sondern irgend etwas, das den Pop zu seiner Inspiration nimmt, so, wie manch großer Komponist das Volkslied sich hernahm. Denken Sie an Schubert. Nein, der hat k e i n e Volkslieder geschrieben…. (Ausnahme etwa ist Brahms’ Gutenachtlied: d a s ist ein Volkslied… geworden). Und auch bei sogenannter Klassischer Musik gilt für mich der Pop-Vorbehalt. Erst einmal. Da nun immer wieder gesagt wird, Pop sei mehr als das Phänomen der jeweiligen Kunstform, sondern er meine auch die damit verbundene Kleidung, das Gebaren usw., so will ich Ihnen erzählen, als wie erlösend ich es empfunden habe, daß die Alltagskleidung Einzug in die Musentempel hielt; ich, der ich immer gerne Anzüge trug, war einer derjenigen, die die klebrig verkrustete Bürgerlichkeit unterliefen und in Jeans und Pulli zum Konzert erschienen. Unterdessen ist das üblich geworden, also ehre ich bisweilen wieder durch festliche Kleidung, was ich zu hören bekomme. Mittlerweile stimmt da die Mischung fast immer, und die Konzentration geht in der E-Musik auf s i e und nicht auf das ganze Gesellschafts-Zeug drumrum. Das Sie offenbar mit dem „Elitären” verbinden. Elitäres ist aber nicht notwendigerweise, wahrscheinlich sogar in den seltensten Fällen, mit Reputation und/oder Geld verbunden. Wenn ich von Eliten spreche, meine ich Ernst Bloch. Die, mit Aragon gesprochen, beaux quartiers können mir gestohlen bleiben. Was aber eben nicht heißt, daß ich Arbeitersiedlungen fevorierte, auch Friedenau meide ich lieber. Da lebt mir zu viel Gesetztes.

      Ja, ich unterschreibe das sofort:und deshalb wird, was in großer Kunst „gesagt“ wird, eben nicht für blasierte Eliten gesagt, sondern für a l l e. Auch wenn´s nicht alle „verstehen“Sie variieren hier, ohne es wahrscheinlich zu wissen, einen frühen Aufsatz >>>> Gerd-Peter Eigners, dessen Lebenswerk soeben die neue Ausgabe der >>>> horen ehrt. Ich habe die Stelle in meinem darin erschienenen Aufsatz zitiert:Kunst wird nicht gemacht für jene, die Muße haben und ein Vergnügen am Kunstwerk; Kunst wird gemacht für jene, die k e i n e Muße haben und k e i n Vergnügen am Kunstwerk.Radikaler kann man kaum sagen, was auch ich meine. Es geht nicht um Selbstbefriedigung von Eliten. In einem ungefähren Sinn unternimmt Kunst, wovon Freud schrieb, wo Es sei solle Ich werden. Die Analogie ist nicht präzise, aber schwirrt in dem Raum, der von Kunst gefüllt wird. Eliten, die es sind, sind nicht blasiert. Sie sind wütend.

      Jetzt sind wir in der Theorie, das hatte ich an sich nicht vor, dort zu landen; andererseits gehört sie ins Leben dazu; wenn wir es schaffen, mit ihr statt gegen sie zu tauchen, kommen wir, davon bin ich überzeugt, dem, was Leben sei, zumindest was es an Qualitäten mit weitem Herzen schenkt, sehr nah. Nur ist das, sagt Paglia, kein Spaziergang im Grünen, es ist keine Sommerfrische, sondern da kleben genau Algen und der Schlamm dran, von dem Sie mir erzählten.

      Man schreibt, Melusine, wenn man Kunst meint, nicht für den Lebensunterhalt. Der ist, wenn’s gutgeht, Nebenerscheinung. Man schreibt um sein Leben. So auch liebt man, begehrt man – beides muß nicht identisch sein, es kommt auch getrennt voneinander vor und hat auch dann alles Recht dessen, was leben will. Dabei finde ich Ihre zugegebene Passivität, die ja keine ist, sondern „gehandelt zu w e r d e n” genießt, völlig legitim. Weshalb es überwinden, wenn es Ihnen Lust gibt? Wir haben keinen Anspruch zu erfüllen, auch nicht den, auf Biegen und Brechen emanzipiert zu sein – oder das, was gemeinhin drunter verstanden wird. Ich habe viel zu viel Erfahrung mit devoten Frauen, auch mit masochistischen Frauen, um nicht auch deren Form, ihr Leben zu wenden, tief achten zu müssen. Sie alle haben Gründe, und zwar gute – wie ich die meinen, auf der anderen Seite zu stehen. Unterm Strich gilt Manfred Hausmanns wundervolles Gedicht, das mit den Zeilen endet

      Die Ferne ist es nicht und nicht die Nähe.
      Ach, immer lebt das Innigste allein.
      Laß uns, wir gut es auch, wie schlimm es um uns stehe,
      laß uns barmherzig zueinander sein.
      Ich habe dieses Gedicht, das zu den mir liebsten-überhaupt gehört, in Der Dschungel bereits mehrfach zitiert. Im übrigen bin ich davon überzeugt, daß Rotkäppchen i m m e r gefunden wird, vorausgesetzt, es ist für die Zähne bereit.

      Jetzt schnür ich noch einmal um Ihren See herum und schweige ein bißchen. Nein, Melusine, ich bin nicht wasserscheu.

      Ihr
      ANH

    37. Nah und Fern Lieber ANH,

      dieses Mal bin ich so einverstanden mit Ihnen, dass es mir schwerfällt, den Widerspruch oder doch zumindest die Differenz zu erzeugen, an dem, an der doch jedes Gespräch sich letztlich entzündet. Das Streben nach R e i n h e i t („reine Vernunft“ gegen „reine Erfahrung“), der Versuch ein G a n z es (der Mythos vom Eros) künstlich, d.i. durch Kunst wieder herzustellen, hat mich immer eher misstrauisch gemacht. Goethe selbst hat sich hierin überlistet. Wo er nach Klassik – in diesem Sinne – strebt (wir sprachen vom unfreiwillig komischen „reinen“ Paar Wilhelm und Natalie), da tanzen ihm die Frivolen Friedrich und Philine dazwischen. Deshalb ist Goethe „groß“. Es gibt eben – und soll´s auch nicht geben – keine r e i n e Liebe und keine r e i n e Kunst, denn wenn es sie gäbe, verleugneten sie ihren Ursprung und töteten sich selbst. Wo immer dagegen so was Reinliches scheinbar gelingt, da bietet es sich zur – wie Sie das nennen – industriellen Verwertung und Fertigung geradezu an. Da wird´s Dekor. Und schlimmstenfalls „gemütlich.“

      Trotzdem liegt hier ein Problem verborgen (oder auch offen zu Tage), dass alle „autonome“ Kunst betrifft. Verdacht und Distanz gegen diese „Kulturindustrie“ drückt die Kunst (und ich meine jetzt bildende Kunst, Literatur und Musik) gern durch „Schwerverständlichkeit“ und eine Verweigerung jeden „Gebrauchswertes“ aus. Man soll sie nicht nutzen dürfen, nicht daheim und nicht in Gesellschaft, nichts lernen und sich nicht „gut unterhalten“ (Sie erinnern sich an: „prodesse et delectare“?). Die Kunst will nicht (mehr) „dienen“. Und was ist geschehen? Sie diente mehr denn je als Distinktionsmerkmal der oberen Kasten, die sich ihren Brecht-Lieder-Abend gefallen lassen. Dagegen richteten sich seit je mein Verdacht und meine Distanz. Aber die teilen Sie ja.

      Es war immer wieder ein Anliegen der Avantgarden (nehmen Sie die Situationisten oder die Dadaisten, auf je unterschiedliche Weise auch Beuys und Warhol), die Kunst zurückzuholen ins Leben (und dessen Unreinheit) und die vielen (nennen wir sie nicht „Massen“) teilhaben zu lassen. Diese Teilhabe kann offensichtlich nicht in kontemplativem Museumsbesuch aufgehen, sondern erfordert die Gelegenheit zur Mitwirkung: zu Gebrauch, Umwidmung, Umgestaltung. Wie wenn es als Schutz gegen die Kälte die Wand bedeckt, ein Schau- und Schmuckstück ist, belehrt, verehrt und erzählt: der Teppich von Bayeux (http://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Normans_Bayeux.jpg), eine Stickarbeit, deren Schöpferinnen (?) wir nicht kennen.

      Aber wir können nicht zurückgehen (und ich will´s auch nicht), sondern müssen nach vorn. Neue Formen finden: zum Beispiel literarische Blogs. So beginne ich, die Sie als Buch-Autor kannte, Ihr Projekt zu verstehen. Es ist eine Gratwanderung, wie Sie – als Autor – hierbei kenntlich bleiben können. Es ist halt kein Zufall, dass die N a m en der Kunst-Handwerkerinnen von Bayeux nicht auf uns gekommen sind.

      Auch die von Ihnen so viel gescholtene „Pop“-Musik (für Ihre Schelte müssen Sie ja offenbar auch viel einstecken; vielleicht macht´s Ihnen deshalb soviel Spaß immer wieder diese Grenzlinie zu ziehen; Sie können hier sicher auf Reaktionen rechnen) verstehe ich, wo sie mehr ist und sein will als Berieselung und Betäubung (der „Massen“) als avantgardistische Kunstproduktion, die darstellt und reflektiert, wie wir leben, arbeiten, lieben. Wirklich gute „Pop“-Musik ist zudem – wie alle Kunst – selbstreflektierend und setzt sich mit den eigenen Produktionsbedingungen auseinander. Immerhin – geben Sie zu – lieben Sie Joni Mitchell (ja!) und erwähnen Johnny Cash (kommen Ihnen nicht die Tränen, wenn Sie ihn „Hurt“ singen hören?). Hannes Wader allerdings berührt m i c h peinlich, doch das liegt weniger an ihm, als an meinem Benehmen zu jener Zeit, als „wir“ (Sie freilich nicht) Hannes Wader hörten. Daran erinnere ich mich nicht so gern…Sehen Sie, lieber Herr Herbst, ich glaube, in diesen pauschalen Vorbehalten gegen „Pop“ (die Sie ja auch schon ein wenig aufgelöst haben), verbirgt sich nichts anderes als bei mir hinter der jahrelangen Abwehr gegen die Oper und fast alle klassische Musik. Das war halt, was „die anderen“ hörten, gegen die man sich abgrenzen wollte. Bei mir waren´s die „Großbürgerlichen“, die sich „für was Besseres halten“. Da wollt´ ich mich nicht anbiedern. Es war dumm. Und hat mich um viele Erfahrungen gebracht, die ich jetzt erst nachzuholen beginne. Ich staune und lerne und weine – in der Oper (für deren Besuch ich mich übrigens durchaus aufwändig kleide, um die Aufführung auch hierdurch zu ehren).

      Nie würde ich Ihnen entgegenhalten, der Hinweis auf den Einsatz der „Masse“ durch die Nationalsozialisten sei ein „Totschlagargument“. Es kann – meine ich – überhaupt keine Teilhabe an „Massenveranstaltungen“ in Deutschland geben ohne ein Bewusstsein hiervon. Das begleitet mich i m m e r. Wir sind Erben. Und dieses Erbe kann man nicht ausschlagen. Man tritt es an. Mit allen Verpflichtungen. Eine Konsequenz könnte sein, alle Massenphänomene zu meiden. Dann hielten Sie aber nur sich selber „rein“. Ihren Ekel (denn das ist es doch?), den kann ich sogar verstehen, manchmal empfinde ich ihn auch. Dann denke ich: Du musst genauer hinschauen, was hier eklig ist. Es ist nicht das „Fantum“. Es ist die ANGST, aus der heraus die Schwachen (in Geist und Herz), sich gemeinsam eklig stark fühlen wollen, um jemand zu verletzen. Man kann den Unterschied sehr gut fühlen, zwischen einer Masse, die aus FREUDE etwas erzeugt und einer, die aus ANGST handelt. Die Angst stinkt. Und – in der Regel – weichen die Ängstlichen schnell zurück, wenn sich ihnen jemand entgegenstellt, sogar wenn´s eine kleine Frau ist (am ängstlichsten sind ja meistens Männer). Daraus kann man was lernen: dass es nämlich mehr geben muss, die aus Freude leben, denn aus Angst – das ist in Deutschland, offensichtlich, schwer, immer noch. (Mir hat hier die Lektüre von Norbert Elias geholfen, zumindest ein wenig zu verstehen.)

      „Man schreibt“, schreiben Sie mir „wenn man Kunst meint, nicht für den Lebensunterhalt….Man schreibt um sein Leben.“ Ich weiß. Und doch – ich möchte mich mit dieser Entgegensetzung, Unterscheidung nicht abfinden. Ich kann – ganz uneigennützig, denn ich schreibe weder ums Leben noch um den Lebensunterhalt – sagen: Ich wünschte, dass Künstler nicht arm wären. Zumindest nicht s o arm, wie es die meisten sind. Muss man sich Marktgesetzen „unterwerfen“, wenn man auf „den Markt“ reflektiert? Das hat immer so schnell den Geruch des „Unanständigen“, wenn einer Geld will für die Kunst, weil die Kunst ja in dem Sinn keine „Arbeit“ sein soll. Aber doch ist, für die, die sie produzieren. Sie wissen das alles viel besser als ich. Die Kunst kann nicht demokratisch sein, das ist mir klar. Aber das heißt doch nicht, dass eine demokratische Gesellschaft „ihre“ Künstler verhungern lassen muss. (Gut, ich verstehe schon, dass bereits in dem Possesivpronomen das ganze Problem ausgedrückt ist. Und eine Lösung habe ich auch nicht.)

      Froh bin ich, lieber Herr Herbst, dass Sie zwischen devot und masochistisch unterscheiden. (Im Übrigen betrachte ich mich selbst durchaus als Feministin, wenn ich auch nicht von mir – oder irgendjemandem – glaube, man könne „emanzipiert sein“.) Zum Masochismus gehört der Sadismus und – unabhängig von jeder konkreten Praxis, über die ich mich weder äußern kann noch will –halte ich Sades zwanghaftes Sprechen vom Verbrechen für gescheitert. Sade ist, in einem kaum zu überbietenden Maße, ein Moralist: Er entwirft in seinen Schriften einen ausgefeilten Kodex von Verhaltensregeln (gerade als Gegensatz zum brüchiger werdenden Kodex bürgerlicher Gesellschaft). Indem er diesen unablässig rechtfertigt, beraubt er die Verbrechen jedoch ihres Sinns (den sie doch nur als Verbrechen hätten). Daraus geht der Zwang zur – ermüdenden – Wiederholung hervor. Es kommt und kann auch nie zu dem kommen, was Foucault „transgression“/Übertretung genannt hat. Und erst dort, durch das Eintreten in die LEERE, die sich erst j e n s e i t s der Sinnsuche offenbart, beginnt — etwas Neues. Vielleicht.

      Auch ich verabscheue die Erlösungsbewegungen. Aber ich glaube, dass wir alle Erlösung brauchen. Oder zumindest B a r m h e r z i g k e i t. Es ist ein sehr schönes Gedicht. Danke.

      Seien Sie gegrüßt, aus der Ferne, so nah —

      Melusine

    38. Liebe Melusine, nah und ferne gehen so oft ineinander über; es ist rein eine Frage der Perspektive. 26. 3.
      Jedenfalls für den G e i s t.

      Nur das Schwierige ist anregend;
      nur der Widerstand, der uns herausfordert,
      kann unser Erkenntnisvermögen
      geschmeidig krümmen, es wecken
      und in Gang halten.
      José Lezama Lima, Die amerikanische Ausdruckswelt

      Ich setze das Zitat nicht hierhin, weil Lezama Lima noch irgend Gewicht in der öffentlichen Wahrnehmung hätte, sondern weil ich glaube, daß er recht hat und nicht nachformulieren möchte, was schon gut bei ihm steht. Wobei Brecht kein gutes Beispiel ist: keiner ist, abgesehen von den Gedichten, „handlicher” als er. Gerade die Brecht-Lieder leben doch von ihrer agitatorischen Allgemeinverständlichkeit und stehen geradezu auf der anderen Seite Schönbergs Herzgewächsen gegenüber, denen Hans Wollschläger ein leider nie vollendetes Buch schrieb. Es stellt sich in der Kunst ohnedies nicht die Frage, nur im Kunstgewerbe, für wen etwas sei; allerdings war es – oder schien zu sein – in den experimentellen und/oder seriellen Künsten, wie >>>> Dieter Schnebel zu recht moniert hat, eine Zeit lang en vogue, nicht-eingeweihtes Publikum von vornherein auszuschließen. Das hat „der” Kunst nicht gutgetan, und zwar auch dann nicht, wenn es mitnichten zugunsten elitär-begüterter Kreise geschah; diese hatten für die, so drückt es der bis heute mißachtete >>>> Allan Pettersson aus: „seriellen Exerzitien” der Neuen Musik mindestens s o wenig übrig wie die „Arbeiterklasse”.
      In der „Hoch”-Literatur haben wir für das Phänomen, auf das ich mich hier beziehe, eine mindestens ebensolche anorektische Doktrin gehabt; erst die Südamerikaner, auch schon US-Amerikaner wie Gaddis lösten sie für weniger enge Kreise auf. Will sagen: das alles hat sich zu großen Teilen in einer Lebensfeindlichkeit ausgedrückt, die ich gern als Meaculpismus verspotte. Es war also, insgesamt, eine Kunst für definierte, nicht aber elitäre Gesellschaftskreise im pekuniären, bzw. Macht-Sinn; man kann sagen: es sind Glasperlenspiele gewesen.

      Dagegen standen immer Solitäre, auch hier in Deutschland; ich nenne stellvertretend Arno Schmidt, der ein großer Humorist ist, nenne Wolf v. Niebelschütz, nenne Alfred Vigoleis Thelen, Heinrich Schirmbeck, Hermann Stahl, auch, als Lyrikerin, Christa Reinig. Ich halte es künstlerisch ohnehin für ein Problem, wenn man Zugehörigkeit hat, sei es zu einer „Generation Pop”, sei es zu einer Sozialität, sei es zu einer Glaubensrichtung: so etwas hat immer einiges von Kirche. Und zwar, ja, Bildende Künstler wie Beuys konnten ihre Schüler gut zum „Mitmachen” auffordern, konnten das immer auch zu einem Teil ihrer Kunst machen, doch die letzte „Arbeit” des Verstehens, Einfühlens usw. wird immer im Einzelnen liegen, und jeder für sich selbst wird sich damit auseinandersetzen müssen oder es halt bleibenlassen. Jeder von uns stirbt allein, auch dann, wenn man uns begleitet, vielleicht die Tür zu öffnen hilft: auf die Schwelle treten nur wir selber und gen dann ganz alleine weiter. Genau hier berührt sich der Tod mit der Kunst, sei sie noch so lebendig.
      Weshalb ich nämlich Lezama Lima zitierte: wir können niemanden teilhaben lassen, der nicht von sich aus teilhaben w i l l und sich darauf ausrichtet. Lehrer richten ihn n i c h t aus, jede Pädagogik versagt. Was i s t denn, jenseits seines Werkes, mit den Werken, soweit sie „demokratisch” sind, der S c h ü l e r Beuys’? Ist nicht unterm Strich allein die Behauptung geblieben, so, wie von den anfangs „guten” Absichten des sozialistischen Realismus’ nur eine Behauptung blieb, die schließlich zu Kunstverbannungen, Inhaftnahmen und dergleichen führte? Erst dort, wo draus ausgebrochen wurde, etwa bei Schostakovitsch, ist dann wieder die Kunst da: nämlich als mehr oder minder verschleierter Widerstand und eine, vor allem in seinem kammermusikalischen Spätwerk, ziemlich abgründige Subversion. Daß sie auch „gebrauchbar” sei, spricht nicht gegen sie, da gebe ich Ihnen völlig recht. Ich bin nie ein Feind der „Unterhaltung” gewesen, wohl aber der industriellen, die ich mit dem US-Wort „Entertainment” benenne, im Gegensatz etwa zum „Divertimento”: die Begriffe meinen Ähnliches, aber haben verschiedene Kerne.

      Womit wir beide wohl sehr einverstanden sind, sind die Neuen Formen; es sollten aber Formen s e i n, sowohl in der technischen Hinsicht (Bücher sind ja nur Gefäße) als auch in der der verwendeten Mittel. Deshalb kann ich Ihnen beim Pop so wenig folgen. Verwendet er neue Mittel oder transferiert solche aus anderen Musikformen, vor allem dem Jazz, dann ist es kein Pop mehr; zumindest populär müßte er sein, u m es zu sein. Auf das Gehabe kann es sich wohl nicht beziehen, auf Markenkleidung, Haarschnitt usw. Sonst wäre auch Neue E-Musik Popmusik gewesen, gerade in ihrer strengen Erscheinung, wo alle bis heute nur in Schwarz rumlaufen. Es spricht nicht gegen den Pop, daß man weint, wenn man ihn hört; es spricht gegen ihn, w e s h a l b man da weint, daß dieses Weinen produziert ist und entfremdet wird, Marktkalkül wird, als setzte sich ein Autor hin und schriebe, damit seine Leser was zu weinen kriegen. Tun manche. Dann ist eben auch Pop.

      28.3.
      Persönlich rühren meine Erfahrungen mit dem Pop aber anderswo her. Ich bin ein Außenseiter gewesen, seit ich denken kann: das meint auch, daß man mich schlug. Es gab Schulterschlüsse meiner Grundschul- und Gymnasiellehrer mit ihren Schülern gegen mich. Alledie hörten das, woraus der heutige (den Begriff und das unterdessen totalitäre Phänomen gab es noch in den frühen Siebzigern nicht) Pop geworden ist, auch übrigens meine eigene Familie. Hier hörte man Schlager, meine Mutter hörte Chansons und ein bißchen Beethoven; ich entdeckte „meine” Musik für mich selbst, indem ich die Schallplattentruhe meiner Großmutter durchstöberte und auf eine Reihe „Querschnitte” stieß. Dann kam Svjatoslav Richter nach Braunschweig. Damit waren die Weichen gestellt. Ich war da, glaube ich, dreizehn.In diese Musik grub ich mich ein, sie schützte mich, sie war eine Höhle vor der, kindlich gesprochen, bösen Welt. Kontakt zu anderen, die hörten wie ich, oder doch ähnlich, bekam ich erst in meiner Berufsschulzeit, knapp zehn Jahre später, in Bremen, saß dann unversehens zwischen Stockhausen und Wolf Vostell. Die beiden haben mich enorm geprägt, ich war zum ersten Mal „angenommen”. Aber ich spielte kein Instrument, konnte keine Noten, und zur Bildenden Kunst ist mein Verhältnis, mit Ausnahme Vostells, sehr lange Zeit ein kühles gewesen; wirklich daheim bin ich in ihr bis heute nicht. Statt dessen hatte ich zu schreiben begonnen, übrigens schon früh damit, Figuren aus der Musik nachzustellen; ich kopierte, kann man sagen, kopierte aber in ein andere Medium: nämlich in die Literatur. Damit fing ich mit vierzehn an. Entwickelte eine Traumvorstellung über das, was Dichter seien, ja sogar: eine Gemeinschaft von Dichtern. Nichts davon hat sich eingelöst.
      Nein, mich abzugrenzen gegen solche, die sich für „etwas Besseres” halten, war meine Sache nie; ich kam gar nicht auf den Gedanken, es könne solche „Besseren” g e b e n. Ich dachte ganz umgekehrt: in den Künsten sind alle gleich. Daß sie im Pop nicht alle gleich sind, hatte ich am Leib erfahren. Von hier war der Weg zu Adorno nicht weit, dessentwegen ich nach dem Abendgymnasium nach Frankfurtmain ging, weil ich dachte, es sei von ihm noch etwas übrige. Auch das war ein Irrtum. Es gab nur noch ausgehöhlte Reflexivpronomina, die man chic nachstellt.
      Soviel erstmal dazu. Ich möchte Ihnen einfach nur erzählen, daß ich keine Vorurteile hatte gegenüber populärer Musik, sondern Erfahrungen mit ihr machte, die mich bis heute einen wenn auch sehr biographisch begründeten Abstand nehmen und Massenphänomene insgesamt meiden lassen. Es hat lange gedauert, bis ich wenigstens die Angst vor ihnen verlor, fast, bis ich 48 war. Seither finde ich sie immerhin interessant.

      30.3.
      Skrjabin, Dritte Klaviersonate.
      Aber vielleicht mal wieder zurück an die Seen, Melusine, zurück aus den hohen Lüften, deren Atmosphäre dann doch sehr kühl, sehr dünn ist, zur Erde. Lange Zeit las ich das Wort „Mulch” nicht mehr, das seltsam der Milch gleich, doch dunkler, wie eingefärbt nahrhaft dem, was u n s nährt: Kreislauf. Es blühe schon bei Ihnen, was Sie im Herbst gesät, las ich heute ebenfalls und sehe Sie in Gummistiefeln in der Gülle; ein zweites Ich, das keinen Fischschwanz hat… weshalb Sie mir die Frage gestatten, bitte, wie sich das erste Ich fortpflanzen mag. Undinen, bedeuteten Sie mir, seien Jungfrauen, immer, ausnahmslos, verurteilt, es zu bleiben (auch deshalb geht Andersens Märchen so tragisch aus); wie, Melusine, lösten Melusinen das Problem? Es kommt mir ungefähr so schwierig, nur sehr viel körperlicher vor, als die Frage der demokratischen Ernährung von Kunst. Demokratisch ernährte Kunst m u ß Pop sein, es führt daran, an der Abstimmung mit dem Geld, in einer solchen Gesellschaft nichts herum, das jenseits von Kollegenwirtschaft wäre; daß den Mäzen der Filz ersetzt, ist ein Phänomen der Sozialdemokratie; der Mäzen selber ist eher feudal, quasifeudal: da es s e i n Geld ist, das er gibt, darf er auch frei verfügen. Nicht so bei Geldern der Öffentlichen Hand, die den Handverwaltern mitnichten gehören, auch wenn sie sich anders gebärden.

      Devot. Masochistisch. Wer sagte je, dies sei identisch? Zwar, es kommt in Kombination nicht selten vor, aber ist gewiß keine Bedingung. Ich kenne masochistische Frauen, die von Devotheit weit entfernt sind, ja dominant sind. Auch haben Sadisten mit de Sade nur in den allerwenigsten Fällen zu tun; was sie vielleicht vereint, ist ein Hang zur Zwangshandlung, dessen milde, eben auch fangende Spielart das Ritual ist. Zwangshandlungen zeichnet die Wiederholung, stetige Wiederholung, a u s; mir ist bei diesen Menschen nie ganz klar, ob nicht d a s – Ergebung unters Ritual – schließlich selbst devoter Akt ist, da mögen sie hauen, wie sie nur wollen. Uns aber, wenn ich so schreiben darf… – geht es uns nicht um Formen, wie es der Tanz ist, der seine Regeln zwar braucht, aber groß wird, wenn er sie sinnvoll unterläuft? und die auf der Tastatur einer lockenden Genetik spielen? sie bespielen? Denn darum, bei aller instrumentalen Abwehr, geht es letzten Endes doch immer. Da braucht es so wenig ein Neues, wie Liebe neu definiert werden muß, die immergleiche bis in die Seufzer, und jede, dennoch, ist neu erlebt – selbst von denen, die sie schon zwanzigmal erlebten. Das nutzt sich nicht ab, so wenig, wie die Lippen vom Küssen weniger werden.

      Ob Sie mir wohl Ihre Ufer zeigten, käme ich für einen Tag an den See? Sie entlang der Dünung schwimmend, ich wandelnd über die Ufer? Es wär ja doch keine Gefahr; noch ist das Wasser für Menschen zu kalt.

      Ihr
      ANH

    39. Romane Lieber Herr Herbst,

      als ich las, dass und wie „meine“ (denn meine sind sie ja schon nicht mehr, sobald ich sie hier einstelle) Briefe in Ihr Romanprojekt eingehen sollen, da fragte ich mich, wie und ob ich überhaupt Ihnen weiterschreiben könne, wissend, dass die Figur, die i c h erfand, m e i n e Melusine zum Teil werden sollte einer ganz anderen Melusine, nämlich der Ihren. Das ist nicht ohne Ironie, wenn man bedenkt, wie „unser Briefroman“ begann. Erinnern Sie sich? Es ging darum, dass man schreibend diejenigen „verrät“ (Sie mochten mit guten Gründen das Wort nicht), die man in die Schrift bannt (und damit ja auch „verbannt“ aus einer anderen Welt, nämlich aus jeder anderen möglichen als dieser einen bestimmten, beschriebenen, dann fest geschriebenen, – früher – schließlich gedruckten.) Schließlich aber habe ich mir gesagt, dass mir das ganz einerlei ist, w i e Sie mit d i e s e r Melusine und deren Briefe umgehen. Denn umgekehrt gilt ja auch, dass m e i n e Melusine, als die i c h schreibe, auch ohne S i e besteht (aber durch Sie gewinnt).

      Der (Brief-)Roman, den w i r (das darf ich doch schreiben?) hier begonnen haben, ist ja von der Form her ganz altmodisch und folgt anderen Regeln als jenes Projekt, das Sie sich entwarfen. Er (also „unser“ Roman) ist an einem Wendepunkt angelangt. Würde ich an dieser Stelle nun, nur als Beispiel, die Nennung Brechts in meinem letzten Brief verteidigen oder die „Pop-Musik“ (was ja so pauschal benannt schon völliger Unfug ist), wozu ich nicht übel Lust hätte, so drehten wir uns bloß im K r e i s e. Wir können auf diese abstrakten Fragen (über Kunsttheorie) da heroben in der dünnen Luft sinnvoll und vielleicht mit neuen Einsichten erst wieder zurückkommen, wenn wir die anstehenden „unseres“ konkreten Romans, ich will nicht sagen gelöst, aber doch „angegangen“ haben (das klingt recht aggressiv, ist aber, wie ich finde, angemessen).

      Es ist dies die Stelle im Roman, an der Held und Heldin (wie ich uns jetzt mal ironisch nenne) zurückschauen, sich wechselseitig erklären, wie sie hingelangt sind an diesen Punkt, also s i c h dem anderen interpretieren. (Im „richtigen“ Leben ist das gar nicht viel anders: Man lernt sich kennen, man spricht über „dieses und jenes“, man nimmt Interesse, dann fängt man an, sich zu erklären: wie ich wurde, die/der ich bin.- Sie selbst, in Ihrem letzten Brief, unternehmen dies für Ihre Haltung zu dem, was Sie Pop nennen.)

      Also: es wird noch einmal geklärt, „was bisher geschah.“

      Ich kann das nur aus m e i n e r, also hier: Melusines, Perspektive tun, die Ihre müssten Sie hinzufügen, andererseits liegt sie ja, gewissermaßen in Die Dschungel schon vor. Ja, wie kam es, dass „eine Melusine“ auftauchte in Ihrem Wald? Tatsächlich, ich weiß es nicht mehr. Ich „googelte“ irgendwas, da erschien Ihre Seite, Ihr Name (den ich kannte, wie einige Ihrer Bücher) erinnerte mich an was, ich las mich fest. Schon vorher aber war ich (oder hatte ich?) M e l u s i n e, das Haus am See, die Schwester, die Mark. Von Ihrer Melusine hatte ich nie gehört oder gelesen. Und las auch damals nichts dazu. Ich ging ja planlos vor. Die Frage aber, die da aufgeworfen wurde, wie Leben sich in Geschriebenes verwandelt und was das aus den Lebenden macht (denen die schreiben und denen die beschrieben werden), die fing mich. Und ich schrieb Ihnen dazu. Als Melusine. Weil Kyritz in Brandenburg liegt. Zu meiner Überraschung antworteten Sie. (Ich „kannte“ Sie ja da noch nicht.) Und missverstanden mich. Das wollte ich klären.

      Ich glaube, damit hätte das ganz leicht enden können. Doch ich fügte was hinzu. Weil ich gelesen hatte, mit welchem Vergnügen Sie sich einer jungen Arzthelferin präsentierten. Das fand ich schön, weil es mich länger schon beschäftigte, wieviele Männer (zumindest „unserer“ Generation) kein Interesse nehmen an ihrer eigenen Erscheinung. Und Sie schrieben, ich finde das jetzt nicht mehr wörtlich, also ungefähr sinngemäß, die Lebenswelt jener Arzthelferin und die Ihre seien einander so fremd, dass sich hier weiter nichts ergeben werde. Da dachte ich mir, das gelte für mich ganz ebenso und drum könnte ich, ganz unbefangen, Ihnen diesen Zusatz schreiben. So brachte ich, a h n u n g s l o s, ein „Thema“ in unsere Korrespondenz, das seither immer mitschwingt und von dem sich, von dem wir herausgestellt haben, dass es ganz eng mit jenem anderen (wie Kunst entsteht) verknüpft ist: die Sexualität.

      So verschränkte sich, was wir einander schrieben, mit dem, worum in Ihrem Dschungel alle und alles kreist. Gewissermaßen. Und – gerieten wir uns als Figur u n d Person in den Blick (metaphorisch).Trennschärfe war da nicht immer herzustellen und auch nicht gewünscht. Wer wir also sind – bis hierher – , das ist seltsam verworren: Denn Melusinen sind eine Art und ich bin – jemand.

      Sie schreiben mir, um sich zu erklären (so lese ich das einfach mal), wie Sie „Ihre“ Musik entdeckten und was Sie Ihnen bedeutete, dem verletzten Kind, das Sie waren, dem Mann, der Sie wurden: „In diese Musik grub ich mich ein, sie schützte mich, sie war eine Höhle vor der, kindlich gesprochen, bösen Welt.“ Ich habe Sie verstanden und ich weiß auch, dass jede/r, der/die sich selbst entwirft, dies aus Einsamkeit heraus tut. Es liegt darin verborgen (im Selbstentwurf) immer ein Schmerz. Aber ich habe auch erfahren, dass die anderen, diejenigen, die aufgehen oder sich einfügen in die Form, die schon da ist (die „Gruppenmenschen“ also), dass die – wie vielleicht auch jene Kinder, die Sie schlugen – auf oft höchst traurige Weise ihren Lebenshöhepunkt eben dann haben (als „mobbende“ Kinder oder Jugendliche). Da kommt dann kaum mehr was nach. Das war´s. Von daher gibt´s keinen Grund, ihnen ihre Selbstverständlichkeit zu neiden. Aber ich weiß, dass Sie dies ohnehin nicht tun.

      Wohin ich eigentlich will: mich erklären. Ich war ein sehr behütetes und geliebtes Kind. Die beiden Menschen, die uns (meine Geschwister und mich) gezeugt haben, haben dies zu ihrem Lebensinhalt gemacht: uns Spielräume zu schaffen (größere als sie selbst sie hatten) und eine Haltung zu geben (heute nennt man das „Grenzen setzen“, aber ich finde Haltung passender). Ich habe das nutzen können und bin sehr dankbar dafür. Die Einsamkeit, die zum Selbstentwurf nötigt, die habe ich erst erfahren in der Konfrontation mit „höherer Bildung“

      „Nein, mich abzugrenzen gegen solche, die sich für „etwas Besseres” halten, war meine Sache nie; ich kam gar nicht auf den Gedanken, es könne solche „Besseren” g e b e n.“, schreiben Sie. Da liegt der ganze Unterschied. Als ich mit 16 Jahren aufs Gymnasium kam, schienen mir alle „was Besseres“, so fremd, so selbstverständlich, so selbstgewiss und sicher wirkten „die“. Und ich wusste gar nichts. Kannte nichts. Hatte von nichts etwas gehört. Wusste nicht mal, wie man richtig i s s t. Erst wollte ich sein wie „die“. Aber ich begriff sehr schnell, dass dies unmöglich ist. Und auch, dass ich es gar nicht wollte. Weil viele von ihnen, wie ich bemerkte, eben das nicht hatten: eine Haltung. Eine Idee davon, was m a n einfach nicht tut oder unbedingt tut, nicht um den Schein zu wahren, sondern vor sich selbst zu bestehen. Das ist mein Vater (und auf andere Weise meine Mutter auch).

      Ich wollte Ihnen immer über ihn, den Vater, schreiben, erinnern Sie sich? Aber ich wusste nicht, wie. Ich weiß es immer noch nicht. Nur soviel: Immer wenn ich sehr einsam bin, ist er da. Er kennt mich. Und braucht deshalb nichts zu wissen. In seiner Armbeuge bin ich – noch immer – DAHEIM.

      Ich schreibe Ihnen das, damit Sie verstehen – und nicht missverstehen -, dass ich, dass Melusine, diese Melusine, keine Frau ist, die das Trauma eines ungeliebten Kindes aufarbeiten muss. Viel eher ist sie eine, die sich sehnt, nach jener U n m i t t e l b a r k e i t, die sich in der Liebe des Vaters aussprach (ganz asexuell). Die sie aber sucht auch im Begehren. Keine Regeln. Überwältigung. Ja, nichts „Neues“, aber: aus der Zeit fallen, sich frei geben.

      „Ob Sie mir wohl Ihre Ufer zeigten, käme ich für einen Tag an den See? sie entlang der Dünung schwimmend, ich wandelnd über die Ufer? Es wär ja doch keine Gefahr; noch ist das Wasser für Menschen zu kalt.“

      Das ist nicht wahr, nicht wahr?

      Ihre Melusine

    40. Liebe Melusine, selbstverständlich n i c h t. Aber der Satz ist milde. Er ist gütig. Nicht etwa, weil er uns Wirklichkeit&Wahrheit besser ertragen ließe, denn um so etwas kann es und darf es nicht gehen. Wirklichkeit zu ertragen behauptet ja doch immer, daß sie zu ertragen nicht s e i. Vielmehr, um den Gefahren einen Duft von Sanftheit zu geben, Gelassenheit (wie schwer sie mir nach wie vor fällt!), ohne daß wir doch stets eine Harmonie fantasierten, die zu impotent ist, um neues, weiteres Leben zu schaffen: So ahnen Sie bereits, welcher „Gefahr” mein Satz das Mäntelchen umhing, das früher „ohn’ Harm” genannt worden wäre und wovon das Wort „harmlos” nur noch ein letzter Ausfluß ist. Selbstverständlich i s t „Gefahr”, wollten wir denn, was Leben antreibt und fortsetzt, so nennen. Die Lust – ein Wille, der nicht aus mir rührt, aber drin i s t – ist groß, das weiterzugeben und -leben zu lassen, was Kraft und Begeisterung hat. Allein, die „Gefahr” ist noch eine andere, die ebenfalls nicht aus u n s stammt, nicht aus der vermeintlichen Autonomie, sondern es sprechen – es sprächen – und, wenn wir ließen, w i r k t e n – Konditionen, die wir verstrahlen, ohne es zu merken. Will sagen: immer entscheidet der erste Blick, was geschieht, was, jedenfalls, geschehen könnte. Sperrten wir’s nicht immerzu zu. Ich selbst sperr schon seit langem nicht mehr. So vieles fiel von mir ab: Vertraue deinem Instinkt: das wurde mir Haltung.

      Sie sprechen von Haltung. Ihr Vater gab sie Ihnen mit Liebe. So höre ich, was Sie schreiben. Mein Vater gab sie mir nicht, sondern die Mutter: doch gab sie als Pflicht. Das war immer eckig. Ich habe die Ecken gerundet, wie einer ein Holzstück erst schnitzt, dann schmirgelt und schließlich zum Handschmeichler ölt; es feilte sie, indem ich mich zuließ. Ich hörte, Melusine, und höre. Das ist der Instinkt.

      Nein, es ist nicht wahr.
      Und eben doch.

      Wie sollte ich darauf kommen, Sie hätten ein Trauma aufzu- (in diesem Zusammenhang ein schreckliches Wort) -„arbeiten”? Über das hinaus, was wir alle und jede auf ihre, jeder auf seine Weise „zu arbeiten” haben? Sie beziehen sich auf meine kleine hypothetische Perversionstheorie?Fragte ich denn? Sie ist doch Kunsttheorie vor allem anderen – vergessen Sie nicht, daß in der Theorie sprachlich ein GOtt steckt. Der Vater… sehen Sie? Überwältigung. Ganz asexuell, jedoch „ohne Regeln”.

      Ich nehme Sie mir. Sie laufen indes, eben:, Gefahr, n i c h t genommen, wie ich, abgewiesen zu werden. Es liegt nicht an unseren Willen. Ich nehme Sie mir aber bereits als Figur – was keine Abwertung ist, eher im Gegenteil, wenn Sie sich anschauen, >>>> w e l c h e Figur, welch eine Romanfigur das i s t und wird (immer nämlich schon war). Übrigens ist es nicht meine; vielmehr: s i e nahm m i c h.
      In der Tat sind wir zu Ihrer Eingangsfrage zurückgekehrt und dem, was Sie „Verrat” genannt haben. Aus meiner Sicht ist es nun ganz besonders keiner. Ein Verrat wäre, gingen wir von unserer Autonomie aus, davon, wir seien einzigartig und Monade. Tatsächlich glaube ich etwas anderes. Wenn Sie in Der Dschungel ein wenig nach dem Kontext der ALLEGORIE fahndeten, fänden Sie, was ich meine, schnell. Ich möchte mich nicht allzu häufig wiederholen, ich wiederholte mich sowieso schon zu oft: in mir, durch mich hindurch, realisiert sich etwas wie in und durch Sie. Selbst, wenn wir uns sperren, realisiert es sich, selbst wenn wir die Wirklichkeit, und mit Erfolg, abwehren würden. Und den möglichen Verlust. Wir täuschen uns: es ist a u c h ein Verlust, doch wenn wir vorsorglich verzichten, ist er’s in jedem Fall.

      Also wir werden zu Kunst. >>>> Das Leben als Roman zu begreifen bedingt, daß alle Menschen (und Tiere, und Dinge) Teile des Romanes werden, der ich bin; es gibt da gar kein Entweichen; es ist eine ontologische, geradezu, Antinomie der Interessen: „ontologisch” deshalb, weil ich, wie ich anderswärts schrieb, Roman ganz b i n: nicht denkbar ohne was ich tue. Deshalb ist jeder Kuß, ist jede Ohrfeige, ist jeder Blick in Gefahr (wir bleiben, ja bleiben bei den Gefahren), in die Struktur des Romanes einzufließen, auch jeder Beischlaf selbstverständlich: man muß nur verstehen, daß ihn das nicht erniedrigt. Es erhöht ihn auch nicht, er ist die Rose die Rose die Rose, aber etwas in ihm, etwas aus ihm, wird verwandelt. Verrat ist da keiner, selbst dann nicht, beschriebe ich, wie es an unserer Uferstelle gewesen sein wird, sofern eine wärmende Sonne war, Ihnen nicht nur die Brüste zu entblößen: die der klugen Menschenfrau, nicht der Melusine, deren ohnedies bloß sind. Ich folge ja nur; es sind immer die Frauen selber, und weisen den Männern den Weg: „Ich entblöße mich nie, allenfalls l a s s e ich mich entkleiden”, schrieben Sie und wußten genau, ich ließe diesen Handschuh nicht liegen. Abermals, ja, die Gefahr: Was, wenn er sich n i c h t bückt? Wenn er ihn n i c h t nimmt? Welch eine Verletzung! Was aber, sagten Sie m i r: „Ich hab mich in Ihnen getäuscht, der Handschuh war vergeudet”? Und stoßen ihn weg mit dem Fuß in den Dreck.
      Interessanter als sie, als diese Gefahr, ist jedoch, daß der Roman, der ich bin, den ich schreibe, in b e i d e Richtungen läuft: so, wie das reale Leben ihm zum Reflex wird, wird es auch er für es. Das ist vielleicht sogar die Grundbewegung, die ich an anderer Stelle Realitätskraft der Fiktionen nenne; vielleicht täuscht ein imperatives „Das Leben als einen Roman betrachten” darüber nur hinweg. Ich bin mir selbst noch nicht einig, beobachte und spüre nach…: lebe. Reizvoll ist, höchst reizvoll, daß ich dabei beobachtet werde: wir werden beobachtet. Wir haben Leser, die sich angeregt und ärgerlich und irritiert fragen: wird er sie öffnen? sie sich öffnen lassen? ist dies alles real? Und werden es, was immer wir erzählen, nie wissen. Aber wissen, w a s sich öffnet, wenn es sich öffnet.

      Wir haben einen Briefroman begonnen, damit haben Sie recht, wir haben ihn traditionell, ja ein bißchen altbacken begonnen, und sehr bewußt so; ich mag die kleinen Zopfigkeiten, die Frauen in den Mantel helfen und ihnen voran in die Restaurants treten, aus denen heraus man ihnen die Tür aufhält, um den Vortritt zu lassen; ich mag den Handkuß, der „wahr” ist, sofern er nicht berührt, stehe immer noch gerne am Tisch auf, wenn eine Frau kommt, um sich zu setzen, setz mich erst wieder n a c h ihr… bin, wenn’s ums Geschlecht geht, der Allerunmodernste, der allermodernst ist, wenn es um Kunst geht, und allermodernst bei der Verführung durch Sprache. Indem ich weiß, daß wir Kinder n o c h sekretisch zeugen und mit dem Aufschrein. Das ändert sich, aber ich mag da nicht mittun. Die Pipette hat zwar die Zukunft, die aber wird replikant sein. Deshalb, weil ich dem widerstehe, erscheinen mir die Wasserfraun. Das ist mir die aristokratischste Ehre. S e h r jung kann mein Adel deshalb nicht sein.

      Heute begehen wir Menschen ein Fruchtbarkeitsfest. Das fühlen die wenigsten noch. Es ist Zeit, daran zu erinnern, daß auch Auferstehung letzten Endes nichts anderes meint. Kein Hitler soll mir das kaputtgemacht haben können: Es gab keinen Endsieg, weder der Barbaren noch der Abstrakten: keinen des Wortes über die Körper. Seltsam, daß uns der VaterInUns, sofern er Vater w a r, immer dann antwortet, wenn es die Zeit ist. Mütter dagegen: sie werfen und töten hormonisch.

      Ihr

      ANH

    41. Mütter Lieber ANH,

      Ihr letzter Satz, der tut mir so weh, der ist so verletzend, dass ich
      d a r a u f gleich antworten muss.

      Wenn „es an der Zeit ist“ werden mein Sohn und ich uns anschauen, er wird mich an der Schulter oder der Hand berühren, ganz leicht, wir werden uns verstehen und – er wird gehen. Es gibt auch Mütter, die ihren Söhnen ein DAHEIM sind – und bleiben – auch wenn sie gehen. Und die sie zum Gehen ermuntern.

      Ihre
      Melusine

    42. Mütter Sie kündigten an, sich hierüber noch zu erklären, taten´s aber nicht (außer im Arbeitsjournal, wo Sie es noch auf die Spitze trieben, indem Sie den „hormonischen Müttern“ den väterlichen Geist entgegen setzten). Mich treibt das um.

      Da Ostern der Ausgangspunkt war, sollte man nie vergessen: ohne Karfreitag kein Ostern. Am Kreuze aber hing ER und schrie: Warum hast du mich verlassen, mein Vater? Und DER verdüsterte mit Wolken den Himmel, um den gefolterten Sohn n i c h t zu sehen. Die Mutter aber stand und schaute. So zumindest stelle ich mir sie vor. Keine, die die Augen niederschlägt und in ihr Tuch weint. Nein, in der Stunde seiner Not blickt sie ihren Sohn an. Ist DA. Nicht weil die Hormone es gebieten, sondern weil sie es w i l l – und
      m u s s.

    43. @MelusineB zu den Müttern. Verzeihen Sie, ich wähnte Sie nicht am Ort, sondern in den Seen und Wäldern unterwegs; deshalb schwieg ich noch.
      Sie haben, die Pietà im Herzen, selbstverständlich recht. Aber auch i h r e Brüste werden getropft haben, wenn nebenan der Säugling schrie, und zwar beide, so daß unter eine, indes die andere stillte, ein Schälchen gestellt werden mußte, wie >>>> Thetis das erzählt. Worauf ich hinauswill: Wenn Väter sich eine neue Frau nehmen und mit ihr nächste Kinder zeugen, beißen sie die vorigen tot; dieser Aspekt shakespearscher Königsdramen hält sich durch bis heute: Väter nehmen Abstand von den vorigen Kindern. Es sei denn, sie entscheiden anders: in einem Akt ihres Selbstbewußtseins und -willens. Mütter nicht, Mütters Kinder sind die Kinder immer. Sie sagen es sogar von Maria: weil sie m u ß. Väter müssen n i e.

    44. @albannikolaiherbst „Mütter und Väter“ Ich bin da altmodisch: Ein Vater, wenn er ein Vater i s t, verlässt die Mutter seiner Kinder n i c h t. Und eine Mutter bleibt bei dem Vater ihrer Kinder. Ich weiß, man sieht das heute anders. (Finanzielle) Zwänge sind aufgehoben. Man muss es tun, weil man es w i l l. Als Entscheidung. Das können auch Frauen.

    45. @MelusineB. „könnten“, Irrealis. Ich bin ebenso altmodisch wie Sie, doch wir entscheiden nicht allein. Und was, wenn eine Frau von verschiedenen Männern Kinder hat, was, wenn ein Mann von verschiedenen Frauen Kinder hat? Wir sind Menschen, nicht Moralmaschinen, zu denen „man“ uns freilich gern machte.

    46. Menschlichkeit Grad so menschlich bin ich nicht, bin´s nie gewesen. Und darum, auch darum, ließ ich mich auf den Briefwechsel mit Ihnen ein. Weil die „Moralmaschine“ auch einmal menschlich sein wollte.

    47. Liebe Melusine, ich hatte einen Traum, der Fröschinnen küßte…. – keine Königinnen, nein, sondern Schwäne imgrunde, die sich als solche getarnt hatten: zu gut wissen sie, daß niemand Schwäne verzehrt; wären sie einem mit Flanken von Rehen erschienen, man hätte sie geschossen. Doch wiederum, die menschliche Seele ist heikel und die von Rehen auch: so sehr sie lebenbleiben wollen, nehmen sie’s doch dem Jäger übel, wenn er nicht anlegt, Diana beim Baden nicht zusieht, sondern eben nur Frösche sieht. Zwar sie verbat, daß man sie schaute; schaut einer aber nicht, wird er erst recht Actaeon: sie jagt dann ihn.
      Das braucht in unseren zivilisierten Zeiten weder Pfeil noch Bogen, das braucht allein die Lockung. Also, träumte mir, die Schwänin, die diese Aura von Fröschen um sich gelegt, lege ihr Gefieder vor mir ab. Das hat nicht sie entkleidet, sondern mich. Ich bin’s nun, der quakt. Aber an Land; seinerseits verkleidet, weiß er nur zu genau: steig ich ins Wasser, ertränkt sie mich. Es fällt ihr nicht schwer, von Schwan auf Reiher zu wechseln. Sie ist ein weiblicher >>>> Odo des Wassers aus seiner größten Verbindung. Nervös lief ich am Ufer hin und her, irrte die Blicke über den z u glatten Spiegel. Ich zitterte. Ich wußte, Sie würden sich rächen, unerbittlich, wie nur Frauen sind, hat man ihre Ehre als Frauen verletzt, die aus dem Willen… nein: der Forderung, begehrt zu sein, völlig gemacht ist. Ich denke an Hera, denke an Pallas Athene: K r i e g e werden um Schönheit geführt (heißt es; die Wahrheit war: es ging um das Land; auch das wieder weiblich als erblich). Jedenfalls durfte ich nicht mal ans Wasser zu nah heran; es hatte nie ein „Ja” gegeben, vergessen Sie das nicht, Sie ließen mich verdorren. Im Traum. Im Traum aber fuhr ich hin. Dennoch. Aus Trotz. Aus Überhebung. Ich zog mir den Wolf über. Der Pelz paßte genau, ich konnte sogar die Lefzen schürzen, wenn mich Passanten sahen. Denn die gab es: Ausflügler, lose Jugendliche, schäkernd. Sie alle wichen zurück. Der See aber blieb. Er sah m i c h an, nicht umgekehrt. Solange ich Wolf war, würden Sie sich nicht zeigen. So wagte ich’s und ward verwundbar Mann. Sie zeigten sich dennoch nicht. Keine Regung, kein Kräuseln, nicht einmal ein Fisch sprang. Es war Hochsommer in meinem Traum, die Blätter erzeugten Weißes Rauschen, durch das bisweilen Insekten brummten. So spring doch! dachte ich. Spring hinein und tauche! Ich traute mich nicht, versagte. Ich dachte, du mußt nackt sein, völlig nackt. Wir sprachen, aber daran erinnere ich mich erst jetzt, da ich dies schreibe: – dachte daran, daß wir über Männerkörper sprachen. Allezeit war mir klar, es gehe um ein Opfer. Der Frühlingskönig: sowas. Obwohl Sommer war. Sehr wahrscheinlich hat mein Traum ihn mit Ostern verschränkt, auch darüber haben wir gesprochen: sie sprachen christlich, ich heidnisch. Doch ohne Ansehen.
      Es wurde Abend, Sie hatten sich noch immer nicht gezeigt. Es wurde Nacht. Ganz andere Frauen stiegen aus den Bäumen und wehten zum See, sie hatten die Stimmen von Lerchen, woraus ich erschloß, daß bereits wieder Morgen sei. Durch die Dämmerung, die sich in vorsichtig toscanischem Laurot aus dem See hob, klingelte mein Wecker, und ich erwachte.

      Davon wollte ich Ihnen erzählen und habe ich Ihnen jetzt erzählt.Ich erwachte ohne Erektion, was das ganze Ausmaß meiner Niederlage umreißt: Ich habe den Apfel zu besingen, das fordern Sie. In ihn hineinzubeißen, aber, versagen Sie mir.

      ANH

    48. „Moralmaschinen“ – Pflichten und Liebe Lieber ANH,

      Sie wissen, ich bin unterwegs; ich kann Ihnen auf Ihren Traum jetzt nicht antworten. Aber ich werde es tun. Vielleicht werde ich Ihnen auch einen Traum erzählen. (Bitte glauben Sie mir, so was wie Rache – das ist unter meinem Niveau – und es gibt auch keinen Anlass dazu. Was Irrtum war, war allein meiner.)

      Aber was anderes lässt mir den ganzen Tag keine Ruhe, was ich geschrieben habe. Ich habe mich auf dieses böse Wort eingelassen: „Moralmaschine“, aber das ist nicht wahr. Ich führe kein Maschinenleben. Es gibt keine andere Motivation, die Pflicht zu erfüllen als die Liebe. Es ist „The boring book of love“. Alt, viel älter als wir. Es wiederholt sich. Es ermüdet. Aber es bleibt doch die L I E B E.

    49. Der elfte Brief Lieber Alban Nikolai Herbst,

      meine Antwort auf Ihre Erzählung eines Traumes wird deren einfache und schöne Form, das „Hammermäßige“ und die Weisheit, die eine Leserin darin erkannte, nicht erreichen. Ich dachte, ich könnte Ihnen mit einer Traumerzählung antworten. Aber die, die ich zu erzählen habe, reicht nicht zu sagen, was ich Ihnen sagen möchte. .

      Ich schreibe, weil ich es versprach, obwohl Sie mir sagten, das, was uns trenne, sei irreversibel. Dass ich die Bedeutung, die Sie dem beimessen, nicht ganz verstehe, ist Teil des Problems. Inzwischen habe ich einsehen müssen, dass mein – zu unbedachter – Umgang mit Worten in Ihrem Blogs, denen Futter gibt, die Sie „schlachten“ wollen (um in deren Metaphorik zu bleiben).

      Es ist von Anfang an ein Ungleichgewicht gewesen, zu Ihren Lasten: dass Sie mit Ihrem Namen einstehen, für das, was Sie schreiben, ich aber nicht. So schrieben Sie mir auch und ich habe das wohl verstanden: ANH, „der das Licht liebt“. Wie öfter schon, zwingt mich die Korrespondenz mit Ihnen auch hier, genau auf mich zu sehen. Ich trage den Namen eines Anderen. Und ich fühle mich verpflichtet, in seinem Namen nichts zu tun, wofür er nicht gerade zu stehen wünschte. Es geht hier nicht in einem banalen Sinne um eine Form von „Betrug“ in der bürgerlichen Ehe. Er könnte, wenn er wollte (er will es nicht) alles lesen, was ich Ihnen schreibe. Ich habe, ganz am Anfang unserer Korrespondenz, vielleicht erinnern Sie sich, versucht dies zu beschreiben: Wenn jemand entschieden ist, etwas nicht zu wissen, dann wird es „Verrat“, ihn – öffentlich – damit zu konfrontieren. Schon während ich dies schreibe, spüre ich, wie heikel diese ganze Konstruktion ist, wieviel Sie (und jeder) dagegen einwenden könnten. Es war ja gerade die Übertretung (von Tabus?) über die wir uneinig wurden. Sehen Sie, ich finde, es ist heutzutage eben auch fast ein Tabu, wenn jemand sich gegen den Terror der Intimität verwahrt. Dem bringe ich Achtung entgegen, auch wenn es mich zwingt, Grenzen einzuhalten, die nicht meine Grenzen wären.

      Die Bilder Ihres Traumes, die berühren mich sehr, aber ich erkenne darin Melusine, nicht mich. Sie versuchten mir zu zeigen (so verstand ich Ihr „Locken“), dass und wie Fiktionen wahr werden können. Diana aber, wenn sie Diana ist, muss den Blick erheben können, statt schamhaft zu Boden zu schauen; die Göttinen rächen sich, wenn einer ihnen zu nahe kommt oder auch sich nicht nahe genug wagt. Ich schrieb Ihnen – trotzig – Rache sei unter meinem Niveau; in Wahrheit aber bin ich zur Rache gar nicht fähig.

      Sie schrieben: „Sie jagt dann ihn.“ Tat ich das? Ich lese, was ich schrieb und ich erkenne, was Sie meinen. Aber es waren die Worte, die mich trieben, Ihre Worte. Dass Sie schreiben können, ließ mich so antworten. Sie waren (und sind) für mich ein Autor, den ich schätze, vor allem „MEERE“, das schrieb ich Ihnen schon einmal, wurde mir wichtig. Dabei habe ich mich nie – vor unserer Korrespondenz – mit der realen Person hinter dem „Autor“ befasst. Ich wusste über Ihre Biographie nichts. Es hat mich auch nicht interessiert. Ich hatte vorher noch nie in einem Blog irgendwas kommentiert. Und ich rechnete nicht mal mit einer Antwort von Ihnen. Auch verkehre ich nicht in Kontaktbörsen-Chats (wie Sie offenbar – inzwischen habe ich mich ja durch Ihren Dschungel geschlagen). Was also für Sie Wiederholung, Routine, Regelspiel ist, für mich war es vollkommen neu. Was immer ich tat, es geschah nicht geplant. Ich hatte kein Ziel. Ich wollte Sie niemals „erlegen“. Weil es keine Koketterie war, als ich schrieb, dass ich nicht jage. Es ist einfach so.

      Deshalb verstand ich Sie auch nicht immer richtig. Ich hörte den Autor. Den Mann sah ich nicht. Auch als ich Sie sah, sah ich ihn nicht. Ich hörte. Es war mir daher ganz recht, als Sie schrieben, es sei nicht gut, ein „echtes Bett dahinein zu wuchten“. Ich hatte gar keine andere Erwartung. Was ich erst langsam begriff: Sie weigern sich, diese Unterscheidung zu treffen. Sie meinen das ernst: Ihr Leben als Roman zu leben. (Ganz wahr kann es aber nicht sein, denn ich hoffe, den Mann der Ponce ließen Sie leben.) Und Sie schafften es tatsächlich mit Ihren Worten, dass die Frau, die nicht Melusine heißt, sich gemeint fühlte. Ganz körperlich fühlte die Ihre Worte, besonders die linke Seite wurde immer empfindlicher.

      Einmal träumte sie sogar von Ihnen. Sie hatten sie mitgenommen in die Oper. Sie trug ein dunkelgrünes Kleid aus roher Seide, das die Arme freiließ. So saß sie vor Ihnen, ganz aufrecht hielt sie sich und wendete nicht einmal leicht den Kopf nach links hinten, wo sie Sie spürte. Den ganzen Körper empfand sie wie taub, weil alle Empfindung sich auf die Hautoberfläche ihres linken Oberarms konzentrierte. Aber – Sie berührten sie nicht.

      Es stimmt, ich sagte nie „Ja.“ Auch deshalb, weil ich meine Versprechen halte. Ich will keine geben, von denen ich nicht weiß, ob ich sie halten kann, ob ich nicht auf halbem Weg wieder umkehrte.

      Lieber ANH, „Meere“ wird mir immer eins der liebsten Bücher bleiben. Noch mehr aber liebe ich inzwischen Ihre Bamberger Elegien. Und ich freute mich sehr, wenn die gedruckt werden.

      Ihre Melusine

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