Freitag, den 16. September 2005.

4.52 Uhr:
[Schreker, Die Gezeichneten.]

Filterkaffee, absurdes Kinderwohnungs-Morgenarbeits-outfit: froh, gestern nacht d o c h nicht zu Zigaretten gegriffen zu haben, sondern gegen den Entzugsdruck, der nun so deutlich psychische Gründe hatte, hartgeblieben zu sein. Jetzt ist die schlimme Stimmung nämlich fort, einfach weggeschlafen, vielleicht auch davongeträumt, und ich will arbeiten. Offenbar ist tatsächlich nichts weiteres zu tun, als ‚Begegnungen’ zu meiden, dann hält sich etwas Solches schon aus.
Hab anderthalb Stunden für ARGO, bevor der Junge zu wecken ist.

Wenn ich so nach draußen schaue: Heute wird der erste Tag sein, an dem ich meine paar Kilometer durch den R e g e n laufe. Aber auch das ist, mit Rilke zu sprechen, im Recht.

5.30 Uhr:
[Worüber ich mir klarsein sollte – das fällt mir während der Arbeit ein, als dächte etwas in mir parallel einen ganz anderen Zusammenhang weiter: Ich habe die gleiche Sehnsucht nach Wiederherstellung der doppelten Eltern-Repräsentanz in mir wie mein Junge; darin, symbolisch gesprochen, b i n ich mein Junge. Das Scheitern meiner Liebe, aus der dieses Kind hervorging, greift in das Scheitern der Beziehung meiner Eltern und w i e d e r h o l t es; es ruft meine eigene kindliche Sehnsucht nach Familieneinheit wieder aus dem Verdrängten heraus, die sich nun mit der Sehnsucht meines eigenen Jungen verzahnt: insofern repräsentiert eine Sehnsucht die andere. Die Wunde wird ihm, das ist absehbar, ebenso lebenslang bleiben, wie sie mir geblieben ist; und der alte Schmerz wird spätestens dann reaktiviert werden, wenn er seinerseits ein Kind aus einer scheiternden Liebe hat. Es ist dann immer ein zweifacher Schmerz; man teilt ihn nicht, sondern in Vater und Sohn verdoppelt er sich. Und so fort durch die Jahrzehnte und Generationen. Insofern ist auch dieses Leid ein allegorisches: Realisierung und vorübergehende Erfüllung eines M u s t e r s.]

6.01 Uhr:
Irgendwie fiel mir eine sprachliche Wendung ein, die Marcus Goltz’ SZK mit Reinhard Heydrich in Verbindung brachte; beide stehen/standen ja polizeilichen Geheimdienst-Organisationen vor. Als ich dann bei google herumsuche und mir Heydrich anschaue, bekomm ich einen gewaltigen Schreck: So hatte ich mir, allerdings in der dunkelhaarigen Version, Marcus Goltz immer vorgestellt. Nun ist Goltz kein Massenmörder, sondern hochmoralischer Pflichtmann, der seit Ende des zweiten Anderswelt-Buches obendrein mit dem Widerstand gemeinsame Sache macht; aber mir stellt sich die Frage: Wie hätte sich Goltz (der, darin in auch „demokratischer“ Geheimdiensttradition, durchaus schon Gegner hat ‚beseitigen’ lassen) entwickelt, wäre das System, unter deren Politik er antrat, ein diktatorisches gewesen – wäre also Ungefugger tatsächlich ein Mörder des politischen Größenwahns? Das ist eine realistische Frage, die auf uns selbst zurückstrahlt: Wie wären w i r gewesen, wie hätten w i r gehandelt? Also: Wie s i n d wir?

13.43 Uhr:
[Händel, Lotario.]
Gelaufen, geschlafen, Espresso-Wasser sitzt auf. Die Arbeit in Sachen ARGO war heute insgesamt n i c h t sehr ergebig: etwas mehr als eine Seite geschafft. Mich treiben HOFFNUNG & TROTZ an; geht mir für jene der Grund und für diesen die Kraft verloren, bricht auch die Ideenfülle in die Knie. Allerdings muß ich zugeben, daß ich neben der normalen (ausformulierten) Typoskript-Arbeit ein ganzes weiteres Kapitel skizziert habe. Das befriedigt aber nicht. Deshalb werde ich nachher einen Brief an *** schreiben und erklären, weshalb ich von weiteren Treffen Abstand nehmen m u ß; wenn einer von beiden liebt, der/die andere aber nicht, und liebt der eine in solcher Intensität und so wenig bürgerlich-pragmatisch, gibt es – Kind hin, Kind her – keine andere Konsequenz. Es hilft dem Kleinen ja nichts, wenn ein Elternteil zugrundegeht oder an Depressionen handlungsunfähig wird. Insgesamt ist jedenfalls für mich eine Einheit von Gefühl und Trieb offenbar nicht herstellbar. In diesem Punkt hat meine Psychoanalyse offenbar ebenso versagt wie in Sachen Verarbeitung von Trennungen.
„Haben Sie eigentlich noch ein Sexleben?“ fragte in einer Mail kürzlich EvL. Ich antwortete: „Nein, wundert Sie das?“ Das werde ich nun wieder ändern. Wenn sich die Seele verzehrt, ist das wirklich kein Grund, daß sie auch den Körper darben läßt.

Dann rief Dr. Filz vom Südwestrundfunk wegen des >>>> Stuttgarter Netzkunst-Symposions an. Er hat sich wohl in Der Dschungel festgelesen und möchte nun ein längeres Radio-Gespräch darüber mit mir führen. Wir haben auf den 28. September terminiert, hier in Berlin. „Wie schaffen Sie diese M e n g e n?“ fragt er. „Es scheint einem die Rede zu bestätigen, so etwas gehe nur mit sozialer Depravation einher. Und wenn man in Den Dschungel dann liest, bestätigt sich das eigentlich auch.“ Woraufhin ich sehr lachen muß. Er scheint einen ganz durchsichtigen, saftlosen Intellektuellen mit wirbelsäulentechnischem Haltungsschaden vor Augen zu haben. „Neinnein“, beruhige ich ihn, „ich habe s c h o n Freunde, habe Frauen, es ist halt einfach nur – Arbeit.“ Von ARGO erzähl ich da besser erst gar nichts. Und muß noch einmal lachen, was sehr wehtut: Ich habe nämlich vom wiederaufgenommenen Training einen solchen Bauch-Muskelkater, daß jedes sich auf der Couch Herumdrehen zum Quieken schmerzt.

À propos ist hier eine an meine Leser gerichtete Entschuldigung fällig: Ich bin derzeit so tief in ARGO drin, daß es mir sehr schwerfällt, Die Dschungel-Hauptseite in der von Ihnen gewohnten Frequenz weiterzubedienen. W a s läuft, ist das Tagebuch, sind auch bisweilen ein paar der Paralipomena – aber für die umfangreicheren Rubriken ist die Kraft grad anderswo zu gebunden.

22.58 Uhr:
[Kinderwohnung.]
HOSTAGE gesehen, DVD, mehr ein Zufall, weil ich Bruce Willis so mag, dem ich ein bißchen, dem mein Junge aber s e h r ähnlich sieht. Und dann ist es eine sehr kämpferische Drei-Personen-Familien-WiederZusammenführungsgeschichte; kämpferisch ist sehr gut, denn man kann etwas tun. Es gibt nichts Fürchterlicheres, als nichts tun zu können. Gar nichts Fürchterlicheres. Den Tod zu riskieren, das ist wirklich nicht das Problem. Aber nichts riskieren zu k ö n n e n, warten zu sollen und aller Wahrscheinlichkeit nach umsonst, zivilisiert am Leben vorbeileben zu sollen – das ist die Hölle.

0.01 Uhr:
Streit mit Buschheuer. „Furzen Sie mich nicht an“, schreibt sie, gänzlich auf Haltung vergessend, in Ihrer Mail. Ich hatte nur geschrieben, ob jemand noch etwas von mir bringe oder nicht, sei mir gegenwärtig völlig schnuppe (sie hatte einen Kontakt zu Krachts Zeitschrift „Der Freund“ initiiert). Also werde ich auch d i e s e n Krieg aufnehmen, es ist mir momentan so ziemlich alles egal. Wenn selbst die F r e u n d e sich abwenden. Hab zuviel getrunken und bin vielleicht sehr ungerecht. Kann sein. „Keine Mails bitte“ schreibt sie zum Abschluß, was ja soviel heißt wie: „Behelligen Sie mich nicht weiter.“ Okay, ich werde damit also die MDTFEB-Reihe einstellen; den direkten Kontakt zu Stockhausen hat eb ja nun über Kracht.

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