Sonnabend, der 12. November 2005.

4.46 Uhr:
[Elgar, Cellokonzert.]
Wird etwas chaotisch heute, dadurch daß der Kleine bei seiner Mama und nicht ganz klar ist, wie, ob und wann ich ihn zu mir holen kann; gleichzeitig aber mit Robert HP Platz und Thierry Brühl heute das Opernrojekt besprochen wird. Insofern ist auch mein DTs heute ein wenig unverläßlich – für mich selbst, für Sie ist das ja wenig wichtig. Und nach Berlin fliegen muß ich auch erst noch einmal wieder. Kann sein, daß mich A. hier heute früh noch besucht und abholt und hinfährt; sie meldete sich erst gestern abend und dann nochmal nachts, als ich bereits ins Bett ging. So ist jedenfalls unser für Stuttgart ins Auge genommenes Wiedersehen in den Neckar gefallen.
Kurz noch zum >>>> Neuen Kunstmuseum. Der Glasbau habe den Stuttgarter Stromverbrauch um 10 % ansteigen lassen; zudem werde das Dach bald undicht werden, da eine solche Konstruktion bekanntermaßen nicht auf längere Dauer isoliert gehalten werden könne. So kamen sofort die Kritikpunkte, als ich meine Begeisterung über den Bau mitteilte. Man hat manchmal den Eindruck, es ist für die Leute eine bestätigende Befriedigung, wenn etwas schiefgehen sollte und sie das dann so schlechtmachen können, wie es ist. Es würde ihnen gar nicht gefallen, wäre es gut.

Trinke Tee, weil vergessen wurde, die KaffeepulverTütchen zu ergänzen; auch stand heute morgen noch keine Tasse von gestern schmutzig am Scheibtisch. Komisch, an welchen Luxus man sich so gewöhnt. (Dafür benutze ich Teebeutel zwei- bis dreimal. Das hab ich während der Recherchen zum verbotenen Buch in Polen so gelernt.)

8.08 Uhr. Flughafen Stuttgart:
[Akustisches Gemenge. Dallapiccola, Partita. Aus den Laotop-Lautsprechern. Pop. Aus den Lautsprechern des Dury-Free-Shops. Verhaltenes Reden er wenigen Fluggäste, die sich bereits an den Abteilungen der Gates eingefunden haben.]

Bin – wie meistens – viel zu früh am Flughafen. Kann aber hier, in der klaren Sonne, die durch die weiten Scheibenfronten fällt, das Tagebuch weiterführen; was ich in dieser weise eigentlich selten getan habe. Doch ist es sehr entspannend, dem Klangdurcheinander sowohl zu lauschen als auch ihm noch eigene geliebte musiken beizugeben und dies alles durchs schnelle trappelnde Tippen auf der LaptopTastatur zu rhythmisieren.
Eine Seite ARGO bekam ich heute früh tatsächlich wieder hin; in der nächsten Woche werde ich die Stretta des Dritten Teiles und damit ihn insgesamt abschließen. Dann wirds an die Überarbeitung gehen, Erstellung einer Ersten Fassung, bevor ich mit dem Vierten Teil werde neu ansetzen können. SOEBEN WIRD HAPAG LLYOD NACH PALERMA AUFGERUFEN, UND ICH HABE SOFORT DIE VIA MARQUEDA VOR DEN AUGEN, DIE POLITEAMA, DIE SCHWEREN RIESENBÄUME MIT DEN HUNDERTEN LUFTWURZELN IM PARK.

Denke ich an das NetzkunstSymposion zurück, so bleibt bei allem Interesse eine grundsätzliche Fremdheit, deren Wesen sich nicht nur insofern von der des übrigen Literaturbetriebes unterscheidet, als daß hier eher offen diskutiert wird, neugieriger sozusagen auch aufeinander. Doch künstlerisch verkörpere ich offenbar einen ausgesprochen unzeitgemäßen Character. Sätze wie von Suter („den Künstler als Künstlergenie gibt es doch nicht mehr, dieses Konzept kann doch niemand ernstlich aufrechterhalten“) liegen mir gänzlich quer; ich denke sofort an Leute wie Ives Klein, wie Anselm Kiefer, wie Thomas Pynchon, William Gaddis, wie Cortázar usw. und fühle mich in dieser Reihe verpflichtet; eine Vorstellung von Kunst als nicht-transzendente, konzeptuale Anweisungskette und entsprechend dem Künstler als dem, der sie ausführt, ist mir völlig fremd, ebenso wie der Gedanke an das Kunstwerk als demokratisches Produkt. Nichts gegen Teams in mehrfachen Zusammenhängen, wirklich nicht: Dichter/Programmierer, Schauspieler/Regisseur/Autor, Dirigent/Musiker/Komponist – dies alles ist völlig unbestritten, aber die künstlerische Vision ist an e i n e n Körper gebunden, an d e s s e n Geist: Man gäbe anders das Unbewußte auf, wiewohl es wirkt. Zugunsten einer Flächigkeit, Ober-Flächigkeit, einem funktionalen Konzept aus Reiz-/Erfüllungsmustern. Das wäre (und i s t ) eine Art Selbst-Maschinisierung; der menschliche Kommunikationskörper probt die Koexistenz mit autonom denkenden und also autark handelnden Maschinen.Und sie tut es so, wie die Programmstruktur des ÖffentlichRechtlichen Rundfunks den PrivatSendern nachgelaufen ist: voreilend lakaien. Hiergegen ist, meine und vertrete ich, die unbedingte Leidenschaft eines persönlichen Willens zu halten. Jedenfalls fragte ich mich gestern abend immer wieder: „Wo ist das E r s c h a u e r n? Wo bleibt das Karthartische, wo bleibt der R a u s c h, wo bleibt ie B e g ei s t e r u n g? Was ich sah und hörte, war alles interessant, nachvollziehbar, handwerklich teils perfekt, aber nie ging etwas über sich hinaus, nichts Transzendierte, nichts verursachte Gänsehaut, Erschrecken, Liebe, Begehren – alles war auf eine furchtbar nüchterne weise normal; ich bin versucht, von ‚korrekt’ zu sprechen. Eine Kunst, wie jemand sich dem Anlaß gemäß k l e i d e t. Es fehlt an Ekstase – von wenigen Beispielen abgesehen, etwa einem russischen Lautdichter und Rezitator, der begeistert w a r. Und ich frage mich, ob nicht diese Ekstase, die ich i m m e r erreichen will mit meinen Arbeiten, die ich aber auch spüren will an anderen – ob nicht diese Ekstase gerade nicht mehr gewollt ist. Weil sie einem das ohnedies absurde Konzept der persönlichen Autonomie zerschlägt, das zugleich doch über die Hypostasierung eines arbeitsteiligen Verfahrens und der freiwilligen Beugung unters (selbst)verordnete Konzept vorgeblich außer Kraft gesetzt werden soll. – KLATSCH: Brille fällt hin, rechtes Glas zerspringt. Jetzt geht v i e l e s dahin: Die geschliffene Sonnenbrille vor anderthalb Wochen auf der Buchmesse verloren, die neuen Tageslinsen von Apollo Optik aus FFM sitzen nicht gut, sind wie Sand in den Augen, ich werde sie entsorgen müssen, nun auch noch die Normalbrille kaputt (aber ich hasse Brillen ja eh); irgendwas muß ich mir einfallen lassen wegen nun auch wieder d i e s e r auf mich zukommenden Kosten. Na ja. – Bis hier aufgerufen wird, noch ein wenig in ARGO hineinschauen, vielleicht auch während des Fluges. Ich stell den Laptop einfach auf standby.

9.23 Uhr. Im Flieger: Boeing 737, Reihe 21, Platz A.
Aus dem Fenster schauend: Am Boden links unter mir wird schwarzschattig flirrend die vibrierende Heißluft reflektiert, die aus den Turbinen strömt. Strahlendes Reisewetter, es könnte weiter in die Ferne gehen, nicht heim. Dort allerdings warten *** und der Junge.

Fluglust, lethargisch in Müdigkeit wie in eine Decke eingeschlagen. Es ist das erste Mal, daß ich während eines Fluges in den Laptop schreibe. Imgrunde tu ich’s auch nur, damit es in Den Dschungeln dokumentiert ist – obwohl ich’s ja später erst einstellen kann. Einen Hotspot hat der Flieger nicht; ich hab’s eben probiert und hätt das – Kosten hin, Kosten her – sicher auch probiert. Sollten meine Finanzen wieder einmal stimmen, würd ich mich wegen einer StaellitenNetzVerbindung übers Mobilchen informieren (oder ich finde vielleicht einen Sponsor für sowas). Sinnig übrigens: Grimkowski gab mir für die SWR-Matinee am 1.1.2006 einen 6-Minuten-TextAuftrag: Tips für Wie werde ich ganz sicher Millionär? Ich hab aber auch s o f o r t zugesagt.

Noch was. Es scheint als Einkommensquelle für Autoren gängig zu werden, daß sich Firmeninhaber oder deren Erben einen Roman über die Geschichte ihres Unternehmens schreiben lassen; Burkhard Spinnen hat sowas gemacht, Eisenhauer sitzt auch grad an solch einem Auftrag, und am letzten Samstag, in der Sauna, erzählte ein Badegast ebenfalls davon: 50 Euro pro Stunde werde ihm gezahlt. – Abgesehen von der Abstrusität solcher Unternehmen bin ich mir nicht ganz sicher, ob ich sowas überhaupt könnte. DIE NACH STUTTGART DIE BODENSICHT NEHMENDE GESCHLOSSENE WOLKENDECKE BRICHT SCHÄRENARTIG AUF. ALLES FREI JETZT, BESONNT.

11.30 Uhr:
Zurück in der Arbeitswohnung.

17.24 Uhr:
Weinen.
Habe vorhin völlig die Fassung verloren, mich vor lauter Schmerz nicht mehr im Griff gehabt, als wir uns trafen, ***, der Junge und ich, als ich wieder zurückgewiesen wurde. Weinend fuhr ich davon. „Ich habe dich lieb! Ich habe dich lieb!“ rief mir mein Kind hinterher, mehrmals und noch mal. Das Gesicht dieses Jungen, der gar nicht begriff, der nur noch Angst vor Verlust war, werde ich nicht mehr vergessen.
Das Gespräch mit Platz und Bruehl wegen der Oper entsprechend gedrückt; was geht mich das alles eigentlich noch an? Obwohl RHPP noch bis morgen hier bleibt und sich auf einen Abend mit mir freute, hab ich ihn jetzt stehenlassen da am Gendarmenmarkt. Ich möchte schlafen, irgenwie vergessen. Sitze hier, starre vor mich hin, weiß nur, so geht es nicht weiter. Was hatte ich alles gehofft! Und habe es wahrscheinlich mit eigener Hand vorhin zerstört, mit eigener Seele. „Du stellst deine Literatur über alles, über jeden Menschen, über jede Beziehung.“ „Nicht über mein Kind!“ „Auch über dein Kind! Mit sowas will ich nicht leben.“
Weinen.

6 thoughts on “Sonnabend, der 12. November 2005.

  1. “Doch künstlerisch verkörpere ich offenbar einen ausgesprochen unzeitgemäßen Character.” ja. mir fällt dazu die “sturm und drang”-epoche
    vor rund einem viertel jahrtausend ein.

  2. “KLATSCH: Brille fällt hin, rechtes Glas zerspringt. Jetzt geht v i e l e s dahin: Die geschliffene Sonnenbrille vor anderthalb Wochen auf der Buchmesse verloren, die neuen Tageslinsen von Apollo Optik aus FFM sitzen nicht gut, sind wie Sand in den Augen, ich werde sie entsorgen müssen, nun auch noch die Normalbrille kaputt (aber ich hasse Brillen ja eh); irgendwas muß ich mir einfallen lassen wegen nun auch wieder d i e s e r auf mich zukommenden Kosten.” … und wie wäre es mit lasertechnischer korrektur der sehkraft?

    1. Lasertechnik Zitat glagolica: “… und wie wäre es mit lasertechnischer korrektur der sehkraft? “
      Finger weg davon! Ich mußte in der Vergangenheit einige Beiträge über diesen Sachverhalt drehen. Die Industrie verschweigt erfolgreich ettliche Überkorrekturen die zu lebenslänglichen, starken Sehfehlern führen. Was Frau Buschheuer krankheitsbedingt an einem Auge erdulden muß, hätten Sie, Herr Herbst, dann aus Eitelkeit sich freiwillig und teuer (um die 3500 Euro) an beiden Augen eingehandelt. Es gibt auch schöne Brillen. Und wenn die Gläser zu dick oder zu schwer sind, so helfen hochbrechende, sehr dünne, superleichte Kunststoffgläser. Da merken Sie keine Brille auf der Nase und die Kosten betragen nur ein Viertel bis ein Drittel der operativen Korrektur. Und dann vielleicht eine günstige Brillenglasversicherung abschließen – kostet um die 6 Euro für zwei Jahre.

    2. “… helfen hochbrechende, sehr dünne, superleichte Kunststoffgläser.” … merci vielmals, Herr Stromberg,
      so werde auch ich bei denen bleiben, bzw. die bei mir …
      o b w o h l ich sie auf meiner nase spüre

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