Donnerstag, der 15. Dezember 2005.

5 Uhr
Trotz des einen Gases Wein und der zwei Gläser Bier und also leichten Kopfschmerzes komme ich – allerdings aufgrund des folgenden Wunders – um 4.30 Uhr hoch. Also das Wunder geht so: Ich ewache neuerdings immer schon ein erstes Mal um vier, egal, wann ich ins Bett ging; so eben auch diesmal. Bin mir dann aber nie k l a r darüber, wie spät es ist, schaue also auf den Wecker. Nein, das ist das Wuner noch n i c h t. Aber dann: Der Wecker klingelt um halb fünf, ich will ihn ausstellen, da liegt er am Boden. Ich nehme ihn hoch, das Gerät zeigt 4.10 Uhr an. Was mich irritiert. Aber der Sekundenzeiger bewegt sich ja gar nicht. Erst jetzt stelle ich fest, daß beim Herunterfallen die Batterie hinausgesprungen ist, der Wecker also gar nicht funktionieren konnte. Dennoch hat er pünktlich geklingelt. Ohne Batterie. Ich meine, so etwas gäbe auch Ihnen zu denken.

Momentlang, als ich auf die Toilette ging, den Gedanken erwogen, das Wunder jetzt auszunutzen und mich noch einmal hinzulegen für eine halbe Stunde. Ließ das aber sein und sitze jetzt hier in der Arbeitswohnung am Schreibtisch, den latte macchiato neben mir und beginne, ARGO weiter umzuformulieren. Und Ihnen zu schreiben, liebe Tagebüchler…denn sehen Sie: in den nächsten Tagen werde ich nur wenig dazu kommen, ich weiß ja nicht, wie es mit kostenfreien Wlans bestellt ist in Siegen… na, die Sorgen machen wir uns heute noch nicht.

Sò, raboti. In zwei Stunden radle ich los, ****** zur U-Bahn und meinen Jungen zur Schule zu bringen. Ich hab in der Kinderwohnung noch paar Wundertüten; vielleicht bring ich ihm als Trostpflästerchen eine mit (er soll gestern abend vorm Schlafengehen wegen Jonathans Tod wieder geweint haben).

8.22 Uhr:
Ein Ei kocht, Brötchen liegen auf dem Küchenbrett bereit, zwei Seiten ARGO sind bereits getan, draußen war ich nun auch schon: Es ist schön, das gemeinsame Kind gemeinsam zur Schule zu bringen.

11.37 Uhr:
[Puccini, Turandot. Nagano.]
Wir bekommen S c h n e e zu und über Weihnachten! Ah da staub ich in Gedanken schon einmal den Schlitten ab und sause mit meinem Jungen die Berliner Hügel hinunter!

16.10 Uhr:
ICE BERLIN-HAGEN, auf der Fahrt nach Siegen. Hinter Hannover.
Etwas geschlafen, davor und jetzt wieder ARGO. Dicht kommt mir der Text vor, ich arbeite fast nur an der Rhythmisierung der Sätze. Vieelleicht braucht es d a s manchmal, um die richtig beurteilend Distanz zu bekommen: anderswo zu arbeiten.
Dabei ein kleines Lehr- und Trainingsstück in zu lernener Mongamie. Mir gegenüber hat sich eine ausgesprochen attraktive, schmale, hochgestreckte, seltsam dunkle Blondine um die 30 gesetzt; in mir sofort der Flirt-Imuls, auch in ihr; wir lächeln, werfen Blicke, die verstohlen nur t u n. Dann wird mir klar, was ich wünsche. Ich sehe das Desktopbild meines Computers an, sehe ******, die auf unseren Jungen blickt – und zieh mich zurück. Zurück in die Arbeit und in die Sehnsucht. Seltsam ist das, treu sein zu wollen, zum ersten Mal, und ganz ohne Grund.

Eine andere junge Frau hinter verwendet, ihr kleines Kind auf dem Schoß, das Wort „kurzweilig“. Versehentlich ist in Hannover ihr sehr jung wirkender Vater nicht mehr aus dem ICE gekommen, ein hagerer, gegerbter Mann voller Leben… er hat mit Gleichmut reagiert, fast mit Freude, nun noch eine Stunde mehr mit der Tochter zu sein.

16.37 Uhr:
[ICE ff.]
Mußte eben über den eigenen Text auflachen… vor Überraschung… diesen Einfall hatte ich völlig vergessen: daß ich einen Salon des Berliner SPASTIKONs „Salon Westerwelle“ nenne. (Schon das SPASTIKON ist eine Frechheit, ich geb es ja zu: Spastikon wurden um die vorletzte Jahrhundertwende Theater für hysterische Anfälle genannt. In Buenos Aires rezitiert man darin Lürik.)

22.43 Uhr:
Hotel Best Western, Siegen. Jarrett, Nagoya Concert.]
Langes Gespräch mit Schnell, sehr persönliches, sehr trauriges, zu bewältigendes; dann Literaturbetrieb, dann Literatur-als-Kunst. Gut gegessen, Wein getrunken. Nun im Hotel. Vorher bin ich noch einmal um die direkt benachbarte Siegerlandhalle herumspaziert, aus der Publikum quoll. Ich wollte wissen, was gegeben worden war. Nieselregen, das Areal ist groß, „es fieselt“ nannte Schnell, bevor er heimfuhr, diese Art des Niederschlags. Nirgendwo Plakate für den heutigen Abend. Reisebusse aber. So frag ich zwei Frauen, die herauskommen. „Was gab es denn?“ „Die zehn Tenöre“, sagt mir die untersetztere der beiden. Und die Freundin: „Es war sehr schön.“ „Oh, das ist fein. Prima. Haben Sie eine gute Nacht“, sage ich. Und will jetzt mit dem sprachlich einfach großen Malaparte-Buch – 7/8 der deutschen Gegenwartsliteratur laß ich dafür stehen, meine eigene eingeschlossen – noch unten in der Bar ein Bier trinken, bevor ich schlafen gehe. Auch hier aber wird gelten:morgen früh um 4.30 Uhr aufstehen und etwas an ARGO tun.Um 7.30 dann frühstücken und um 8.30 wird man zur Uni abgeholt. Dort erst werd ich dies alles dann einstellen können.

23.26 Uhr:
Malapartes „Die Haut“ ist großartig. Die Legende des Buches hat mich schon seit langem verfolgt, immer wieder tauchte es auf. Als ich nun in diesem Oktober auf der Buchmesse Frankfurt in einem Kunstband über Neapel einen Auszug las, da hatte ich schon gewußt: Das ist ein R i e s e. Ich werde ihn politisch wahrscheinlich nicht mögen, wahrscheinlich ablehnen sogar, aber er wird von furchtbarer Bedeutung für mich sein.
So nun ist es.

…und ich schaue die Talkshow mit Michel Friedman, und Michel Friedman spricht der F o l t e r das Wort: „Müssen wir nicht lernen, daß wir foltern müssen, um die Verbrechen zu verhindern.“ Es ist nicht zu fassen.