Freitag, der 20. Januar 2006.

6.12 Uhr:
Grad hoch, hab zwanzig Minuten für d i e s hier, dann ist der Kleine zu wecken. Da er diesmal, des Schnees wegen, ohne Rad hier ist, werden wir für den Schulweg länger brauchen als sonst: Wie gestern nachmittag beim Heimweg setz ich den Jungen auf den Gepräckträger meines Fahrrads, er hält sich am Sattel fest, und ich schiebe. (Seit das andere Rad gestohlen wurde, können wir den Kindersitz nicht mehr nutzen; aber es wäre ohnedies wohl ein wenig riskant, bei diesem Wetter zu radeln, wenn der Kleine hinten sitzt. Solche Risiken nimmt man für sich, nicht aber für ein Kind, das nicht entscheiden kann.)

Gestern, nachdem die Jungens im Bett war, mit Katanga zusammen vier weitere Folgen der zweiten Staffel TWIN PEAKs (David Lynch) gesehen, ich bekomme die Folgen als Fernsehkopien, kann deshalb keinen Link legen; es gibt sie nicht offiziell. Mein Erstaunen und mein leise schauderndes immer stärker werdendes Interesse bestätigt jetzt seinen Grund: Da auch d i e s nämlich die Geschichte eines Mißbrauchs ist, eines (n o c h) muß ich sagen wahrscheinlich frühen, der in einem durch die junge Frau wie geradezu selbstgesuchten Mord endete, einem Selbstmord als Mord (den ich, a n d e r s dynamisiert, auch von meinem Bruder glaube). Das künstlerisch Großartige dabei ist, daß die Struktur der Erzählweise psychotisch ist, so als hätte Lynch aus den verschobenen Wahrnehmungen jeweils des Opfers u n d des (gespaltenen) Täters gefilmt, mehr noch: als hätten sich die Psychosen auf dieses ganze Städtchen Twin Peaks und seine Bewohner und sogar auf die Ermittelnden übertragen; das geht sofort los, wenn sich Special Agent Cooper dem Ort auch nur nähert. Dabei ist die Kameraführung selbst auf der Oberfläche so nüchtern (=“realistisch“), also pragmatisch, wie eine Soap, während die Inszenierung mit Genres spielt: Posse, Kitsch, Alltag. Alles hat aber das Verschobene Verzerrte; das Unheil entfaltet sich in ungefähren Grenzen, deren Konturen sich nie endgültig ausmachen lassen. Es war spät, als wir jeder zu seinem Sohn ins Zimmer und zu Bett gingen, wir sprach noch ein wenig, und mit Gedanken an TWIN PEAKS wache ich wieder auf. – Nachher mehr, es ist halb sieben, ich will den Jungen wecken gehen.

7.30 Uhr:

Zur Schule.Ankunft bei der Schule.

8.28 Uhr:
[Piazzolla, Marìa de Buenos Aires.]
Wir waren viel zu früh in der Schule, weil der Junge, was ich nicht wußte, heute mit der Klasse zum Eislaufen fährt und erst 8.30 Uhr dasein sollte. Nun ja, er hatte Lust auf den Frühhort.
Es ist ganz erstaunlich, wie man selbst beim Schieben des Fahrrads ins Schwitzen kommt; es geht ziemlich auf die Oberarmmuskeln, und den Schnee zu durchfahren dann ebenfalls. Jetzt sitze ich in der Arbeitswohnung, Teewasser sitzt auf, und ich muß gleich einen zweiten Pullover überziehen und einen Schal um den Hals legen; ich höre >>>> zur Vorbereitung auf Sonntag abend >>>> Pizzollas Tangooper. Eigentlich hatte ich ****** fragen wollen, ob sie mitkommen möge, da ich neben der Presse- auch eine Steuerkarte habe. Aber nach dem Vorfall von letzten Sonntag nachmittag tu ich das nicht mehr. Möglicherweise begleitet mich der Profi, mal sehen.

(Komme grad nicht ins Netz, keine Ahnung, warum. In der Kinderwohnung ging es noch; ich bekomme eine Fehlermeldung wegen der Konfiguration. Eigenartig. Jetzt laß ich das Modem sich erstmal neu konfigurieren. – Jetzt, 9.16 Uhr, geht es wieder. Zwischenzeitlich habe ich WOLPERTINGER-Bilder eingescannt, aus dem Handskizzenbuch, in das sie eingeklebt sind. Ich führte es seit 1985. Die Bilder werd ich nachher in Die Dschungel einstellen.)

9.36 Uhr:
… und ein s e h r schöner Brief einer Leserin ist gekommen, die ohnedies schon, wie für ein Abonnement, monatlich einen kleinen Betrag anweist. Sogar ein kleines feines Wortspiel betreibt sie: „Wieso werben Sie nicht ausdrücklich auf den Dschungelseiten und via E-Mail-Verteiler um Mäzene auf “Abonnement”-Basis? Sie schreiben immer wieder, wie stark Ihre Internetseite frequentiert wird. Ich will einfach nicht glauben, dass da nicht mehr Leute
dabei sind, die mal ein paar Euro im Monat “abdrücken” könnten. Wer für Tsunami-Opfer spenden kann, hat sicher auch noch was für “Zunami” übrig.“ Aber das ist es n i c h t so, was mich an diesem Brief freut, sondern:(…) Außerdem habe ich zwei kleine Kinder, und dies zusammen mit meinem Beruf macht meine freie Zeit für das “Kunstschöne” so knapp wie noch nie zuvor in meinem Leben. Seit der Geburt meines zweiten Sohnes vor einem halben Jahr habe ich nur ein einziges Buch von Anfang bis Ende durchgelesen (nicht mal eines von Ihnen). Aber ich schaffe es immerhin, jeden Tag in die Dschungel und noch auf ein paar andere interessante Internetseiten zu schauen. Und wenn es nur Sekunden sind, diese Phasen des geistigen Luftholens im rigoros durchgetakteten Alltagsbetrieb, aber dann ist er zur Stelle, der bürgerliche Schönheitswille, mit einer großen Verlässlichkeit. Dann WILL ich mit jeder Faser, dass mich jemand inspiriert, mich daran erinnert, was Schönheit ist.
Ich bin Ihnen sehr dankbar für diese Seiten. (…) Das ist für mich etwas Kostbares, eigentlich Unbezahlbares. Es kann passieren, dass ich einen halben Nachmittag lang, während ich den
Kinderwagen durch den Supermarkt schiebe und anschließend den größeren Sohn bei einem Spielkameraden abhole, über etwas nachdenke, was Sie in den Dschungeln sagten.
Das gibt mir wirklich das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun und nicht nur einer idée fixe hinterherzuhetzen. Danke.

15.09 Uhr:
[Bruckner, Achte. Unter Klemperer.]
Wie s c h ö n dieser Bruckner-Satz, nun der dritte, ist!

[Ich arbeitete a n dem und konversierte ü b e r >>>> das Gedicht, korrespondierte mit Emails, kopierte für SAID das Hörstück, das er gerne haben wollte, schrieb ihm einen postalischen Brief, unter anderem wegen des nächsten PEN-Kongresses, saß und sitze an Paralipomena, durchblättere das alte WOLPERTINGER-Handbuch und finde lauter Ansätze, die vergessen waren, Aphorismen, nie ausgeführte Szenen, Gedankenskizzen…allein d a s zu fleddern, ergäbe ein weiteres kleines Buch.)

16.31 Uhr:
[SUCHT: Bruckner, VIII., abermals dritter Satz. Nachdem der vierte zuende war.]
Den Kleinen in die Musikschule gebracht, durchgeschwitzt, man ist anfangs immer zu dick angezogen. Nasser Niederschlag hat sich in den Schnee gemischt. Wenn das heute nacht friert, ach, liebe Leser, hallo!
À propos (Nr. 1), eine nächste Mail, nachdem ich sehr sehr sehr sehr vorsichtig mal in das online-Bankkonto schielte und eine neue Dauerüberweisung von 15 Euro als Abonnementspende für Die Dschungel fand, und nachdem ich sofort eine Mail schrieb, die so zwischen Scham und Dank hin-und herchargierte und mit der flapsigen Wendung abschloß, welch ‚blöde Situation’ das sei: Blöde ist die Situation ganz und gar nicht, nur sehr ungerecht. Wenns gerecht zuginge, dann würdest Du jetzt, währen Du das liest, irgendwo am Pool liegen, oder sonstwas, jedenfalls hättest Du diese Sorgen nicht. (…) Das Spazieren und Verweilen in Deinen Dschungeln gibt mir viel – ich wünschte, ich könnte mehr tun. (…)“Bei der Vorstellung, an einem Swimmingpool zu arbeiten, hab ich dann doch gelacht. Völlig unvorstellbar! Ich hab viel zu viele Ameisen im Hintern und oben nicht ganz unähnlich wimmelnd Ideen, um derart Ruhendes auszuhalten. (Oder aber, wie jetzt, ich sitze am Schreibtisch und halte, mitsingend, >>>> Selbstgespräche).

À propos (Nr. 2): >>>> Else Buschheuer lesen!

18.08 Uhr:
So Momente des Stolzes. Wenn der Vater seinen Jungen von der Musikschule abholt, und eine Mutter sagte zu ihm: „D e r Junge ist aber klug! Der kann ja schon lesen!“ (Sie hatte den Kleinen, als sie draußen auf i h r Kind wartete, auf Wunsch der Lehrerin zur Toilette gebracht. Er war nicht mit ihr zu den Damen gegangen, sondern nach einem kurzen Blick bei HERREN, sagen wir:, eingekehrt. „Woher weißt du denn, welche Tür du nehmen mußt.“ „Wieso? Das steht doch da.“)
Hab den Laptop aufgebaut und den Rattenkäfig saubergemacht, mit Felix gespielt, jetzt läuft er zwischen Legos, Weihnachtsbaum und verschiedenen Schränken hin und her. Und eben klingelt Katangas Junge, der meine pest zur Tür, öffnet, zieht die Stiebel an und flitzt runter. Gepoltergetrappel, Schreie des älteren, Schreie des jüngeren, Lachen, Toben. Sò. Beide im Kinderzimmer. ‚Black Beauty’ im Cassettenrecorder, und zugleich beginnt die Sternenschlacht der Raumschiffe von Lego. „Ich erfinde jetzt eine neue Folge von STAR WARS“, sagt mein Bub, „die siebte Folge, Papa. Sie heißt: Der Planet der Toten.“ Er mischt seinen Kleinen Vampir nun munter mit den Jedis. Kinder sind kämpferisch; sublimiert wird Ehrgeiz daraus.[Bruckner, III. Unfaßbar, daß es mal einen Tag gäbe, an dem ich Bruckner Mahler vorziehen würde. Jetzt g i b t es solche Tage. An denen mich WelterklärungsMusik einfach nur nervt, Feier und Trauer aber tragen. Bruckner war, völlig anders als ich, ein Mensch ohne jede Hoffart, er war schon fast beklemmend bescheiden. Da hat es etwas Ungeheures, etwas auf gewaltige Weise Demutvolles, daß er über die Partitur seiner Neunten schrieb: Dem lieben Gott gewidmet. Alleine dieses kindliche “lieber Gott” macht einen stumm.]