Das antike Schlachtfest der Gegenwart. Händels Orest an der Komischen Oper Berlin.

Wegweisendes und verstörendes Theater haben Sebastian Baumgarten, Thomas Hengelbrock und ihr Team aus Händels ohnedies bereits ziemlich offener, teils gestückelter Oper gemacht. Dabei sei einmal dahingestellt, ob es sich um eines der musikalisch inspiriertesten Stücke dieses Komponisten handelt: zu den modernsten – um es s o, nämlich globalisierend zu sagen: n a c hmodernsten – gehört es gewiß.
Die Geschichte selbst ist hinlänglich genug bekannt, um selbst bei sturstem Festhalten am autonomen Werkgedanken die Einführung abermaliger Varianten nicht nur zu erlauben, sondern zu gebieten. Dem sind die Mitwirkenden auf mitunter hinreißende, in jedem Fall ausgesprochen theatralische Weise gefolgt. Damit die Bühne der teils zu erschütternden, teils brechtsch zu Erkenntnissen zu verhelfenden Zuschauerseele auch nahe genug an ihr dran ist, wird das Orchester h i n t e r die Szene verlegt und ist – genau das meint episch, wenn man den Begriff auf Musikdramatik verlegt – Teil des Geschehens selbst, sei es als Bühnenbild, sei es als Ausweis: Hier wird etwas gespielt – nicht etwa soll Hollywoods Illusionsästhetik bedient werden.
Das ist das eine.
Nun das andere.
Baumgartens Inszenierung macht unmißverständlich klar, daß nicht etwa nur die Antike – in ihrer eigentlichen, nicht humanistisch beflorten Form – barabarisch war, sondern daß unsere Gegenwart, sie ganz besonders, es ist – auch wenn uns die Wohlstandsgesellschaft darüber hinwegtäuschen will. Immer wieder finden sich in Robert und Roland Lippoks Bühnenbild Hinweise darauf. Dieses ist durch hochgeschickten Einsatz, nein, eben nicht von Videoapparaturen, sondern von versetzten, ja dreimal verschachtelten Filmprojektionen, ebenso variabel und ortlos wie der moderne Raum selbst. Darauf wird auch in den ins Libretto eingestreuten Zitaten eingegangen, man muß sagen: es wird expressis verbis, einmal sogar von einer daraufhin ziemlich schnell liquidierten Terroristin, formuliert. Verblüffend, ja schlagend ist, daß Hengelbrock mit der Begleitung der oft gesprochenen, nicht gesungenen Rezitative eine Balalaika und ein Akkordeon betraut, die beide dann schon mal Stimmungen vorgeben, ausgehaltene dräuende Töne und/oder Akkorde, die auf irritierende Weise zur Barockmusik passen und genau zeigen, wie synkretistisch sie selber schon dachte und wie frei von allem kapitalistischen Urheberdenken.
Mit Recht läßt sich also sagen, Hengelbrock und Baumgarten hätten Händels Ansatz nicht nur modernisiert, nein, sie sind ihm eigentlich e h e r treu als jede historische Aufführungspraxis sein könnte, selbst wenn sie wollte. (Man darf allerdings bei solchen Sätzen die geschichtsästhetische Dynamik nicht vergessen : historische Aufführungspraxis richtete sich ursprünglich ihrerseits gegen den Schmock des breitflächig-falschen Romantisierens und wurde erst lange später zum Konsum-Fetisch.) In dieser Inszenierung wird jeglicher hübsch konsumierbare Historismus mit Elektras, möchte man nach dem dortigen Bürgerkrieg sagen, Schlachtbeil des Balkans ausgetrieben: die verwahrlosten ortlosen Orte der Peripheriestädte gleichermaßen wie die Gefängnisjacken Guantánamos bekunden Zeitgenossenschaft.
Das ist durchaus nicht geschmackvoll, gewiß nicht, sondern bezieht sich, auch im ausgezeichneten Programmheft, auf Heiner Müllers Europa-Konzeption, die, wenn auch anders schattiert, für nahezu sämtliche Kontinente gilt, die von der Globalisierung erfaßt worden sind. Daß der humanistische Rationalismus abgehalftert hat, wird allerdings bereits in der Personpsychologie klar: Orest ist nicht etwa ‚geworfener’ als Thoas, und Iphigenies Blutlust nicht geringer als die des Folterpolizisten Philoktet. Selbst die Liebesbeziehungen sind entsetzlich gestört; man weiß nicht recht, welchen P r e i s Hermione denn zahlen würde, gäbe ihr endlich jemand Sicherheit. Orest aber selbst, ein Schlächter wie Achill, ist viel zu grob, um auf Liebesbezeugungen auch nur adäquat reagieren zu können.
Viel mehr wäre und ist hier zu schreiben über eine exzellente Idee, die noch exzellenter ausgeführt wurde und selbstverständlich einige Buhs abbekam. Anspielungen auf Kounellis’ Elektra-Bühnenbild an der Staatsoper nebenan vor ein paar Jahren, das in knappen Bildfolgen zeitecht eingespielte Gesicht des zum Tode verurteilten Pylades’, die erschütternden Stadtlandschaften, eine Frau, die das Blut und die Knochen der Hingerichteten kocht usw. – man verläßt die Aufführung und weiß, man hat großes kathartisches und zugleich episches Theater gesehen. Daß die viele andere Stücke Händels oft begleitende emotional-‚innige’ Erschütterung dennoch ausbleibt, hat einerseits mit der Musik selber zu tun, die zwar – unter Thomas Hengelbrock sowieso – temperamentvoll und oft auch schön, selten aber wirklich anrührend, selten einzig ist – wie mit dem Sujet des sich fort- und fortsetzenden Schlachtfestes unserer aller Zivilisationsgeschichte: Kein Zeugnis sei der Kultur, schreibt Benjamin, das nicht zugleich eines der Barbarei ist.
Das zeigt dieser Orest.

[Geschrieben für >>>> Opernnetz.]

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