4.43 Uhr:
[Dallapiccola, Piccola musica notturna.]
Wollte erst, als der Wecker klingelte, liegenbleiben wie gestern, noch eine Stunde bis halb sechs; dann fiel mir ein, ich müsse ja den Jungen um halb sieben wecken und hätte dann gar keine Zeit für die Morgenarbeit – und dann: wenn ich schon so nachdächte, dann könne ich das auch g l e i c h am Schreib-, in der Kinderwohnung hier also am Küchentisch tun. Der Gedankengang war so klar, daß ich problemlos hinaus- und das Hochbett hinunterkam und mich gleich, nach diesem Eintrag und dem DTs, tatsächlich rechtzeitig ARGO widmen kann. Bis halb zwölf hatte ich gestern nacht noch gelesen, dann war Katanga gekommen und wir hatten etwas geplaudert; so war es dann doch halb eins geworden. Ich muß tief geträumt haben, aber nur an den Umstand, nicht seinen Inhalt erinner ich mich. Und an das eigenartig unwohle Gefühl, das mir Ellis’ Buch, das heißt: die Szene, in der es spielt, bereitet. (Grad ein schneller Nebengedanke zu dem Satz, der hiervor steht: Erst wollte ich ihn entschachteln, dann kam, ganz hell, die Überlegung, daß manch ein Schachtelsatz wie eine Decke sei, die man über seinen Inhalt ziehe, um ihn zu wärmen. Hübsch für ein Paralipomenon. Ich führ’s wohl nachher aus.)
8.20 Uhr:
[Arbeitswohnung. Nono, Prometeo.]
Der Winter ist wunderbar hartnäckig, mir gefällt das gut. Kleiner Schneesturm auf dem Weg zur Schule, auf dem Weg in die Arbeitswohnung – und dieses Gefühl von Achtung, das ich gegenüber solcher Klarheit und Entschiedenheit habe, und zwar sogar, w e i l meine Arbeitswohnung nach wie vor ungeheizt ist, w e i l mich das dazu bringt, den Winter zu spüren. Ganz egal, daß ich die Tropen vorziehe, aber auch sie haben ja dieses Insistenz, dieses unerbittlich Klare eines ständigen Daseins, an dem es sich nicht vorbeimogeln läßt; sondern man muß sich dem stellen und einen oft gut-konkurrierenden Umgang damit finden. Ein wenig erinnert mich mein Gefühl an das, was Laurence of Arabia in den Sieben Säulen der Weisheit über den Wüstensturm schrieb. Auch wenn er das in den darauffolgenden Sätzen sehr relativiert, beschreibt es gut eine mir ausgesprochen nahe Lebenshaltung:
Es war ein wahrhaft erstickender Wind, von Hochofenglut, wie man ihn in Ägypten unter dem Namen „Khamsin“ kennt. Als die Sonne höher stieg, nahm er noch zu und füllte sich mit dem Staub der Nefud, jener gewaltigen Sandwüste Nordarabiens, die, obwohl nicht weit von uns entfernt, im Dunst unsichtbar blieb. Gegen Mittag schwoll er zu einem Sturm an von solcher Trockenheit, daß unsere ausgedörrten Lippen aufsprangen und die Haut im Gesicht zerriß, während die Augenlider, körnig von Sand, gleichsam einzuschrumpfen und die in die Höhlen gesunkenen Augen bloßzulegen schienen. Die Araber wickelten sich die Kopftücher fest über die Nasen und zogen sie von oben herunter über die Augen wie ein flappendes Visier mit schmalem Sehschlitz.
Um den Preis, lieber zu ersticken, hüllten sie sich dicht ein, denn sie fürchteten, daß die Sandteilchen die Risse in der Haut zu schmerzhaften Wunden erweitern könnten. Aber ich für mein Teil liebte diesen Khamsin fast, da seine Martern mit einer überlegten und wohlberechneten Tücke gegen den Menschen anzukämpfen schienen und es etwas Aufmunterndes hatte, ihm direkt entgegenzutreten, seine Kraft herauszufordern und seine Gewalt zu übertrumpfen. Ermunternd war es auch, wenn die salzigen Schweißtropfen die Haarsträhnen herunter einer nach dem andern über meine Stirn rannen und wie Eiswasser auf meine Wange fielen.
Ich werde jetzt mein >>>> Paralipomenon über den Schachtelsatz formulieren, das mir allezeit noch im Kopf umging und dann erst mit ARGO weitermachen.
11.37 Uhr:
[Jarrett, Tokyo 2005.]
Bis eben an ARGO geschrieben u n d: Hans Deters aus dem Spiel genommen. Das ist die für mich selbst überraschendste Wendung, die ich mir vorstellen kann. Aber es ist von einer ganz beeindruckenden Notwendigkeit und führt das poetologische Konzept zu einem sich weiter fortschreitenden Ergebnis, das mich momentan sehr frappiert. Zugleich zweidrei Korrespondenzen und, ja, Hunger. Ich überleg die ganze Zeit, ob ich mir ein Brot schmieren soll. Lacht.
16.34 Uhr:
Nun ist es soweit: der erste Zahlungsbefehl, höflicherweise „gerichtlicher Mahnbescheid“ geheißen, ist eingetrudelt: von der AMEX Bank wegen des geplatzten Kredites. Es ist der erste meines Lebens und schon das ein reines Wunder. Nette Summe übrigens: incl. der Kosten 8580,03 Euro. Rücksprache mit dem Profi: „Das kannst du nur durchlaufen lassen, denn der Anspruch an sich ist ja juristisch berechtigt. Halt es durch bis zum Offenbarungseid.“ Okay, werd ich tun. Soviel jedenfalls zur Bereitschaft einer Bank – für google noch einmal: es ist d i e s e:: die American Express Bank in Frankfurt am Main – einem Künstler mäzenatisch beizustehen. War imgrunde zu erwarten. Zu pfänden ist bei mir nichts, „was ich habe, habe ich bei mir“, sagt Sokrates. Gehen wir also wieder an die Arbeit und lassen die Lawine rollen. Wenn ich rechtzeitig mit ARGO fertigwerde, will ich eh zufrieden sein.
23.53 Uhr:
[Strauss, Arabella.]
Absolut keine Lust auf den Ellis gehabt, schon gar nicht, wenn ich an den Mahnbescheid denke und dann von einem lesen soll, der eine Million nach der anderen “macht” und dennoch, anstatt sich auf seine Arbeit zu besinnen, an der Welt krankt. Nö. Spiele sogar mit dem Gedanken, die Rezension abzulehnen. Sollte ich nämlich einen Verriß schreiben müssen (was ich wiederum eigentlich nicht glaube, weil Ellis ja g u t schreibt – nur, w a s er schreibt, ist so öde, dieses ständige Selbstgewichse auf Koks und irgendwelchen PopScheiß und SchickimickiGlamour) — also sollte ich so einen Verriß schreiben müssen, hätte ich allein deshalb ein schlechtes Gefühl, weil der Lektor von Kiepenheuer & Witsch ARGO abgelehnt hat, und ich mag mir nicht nachsagen lassen, ich pißte auf einen Kiepenheuer-Autor aus einem rein persönlichen Grund. Die Leute denken so, sie sind kotzig dumm und halt wirklich korrupt; deshalb ahnen sie nichts von der Achtung, die einer vor großer Kunst hat – und zwar auch dann, wenn sie der eigenen vorgezogen wird, das ist dann ganz egal. Nur kann man sich darüber den Mund fusselig reden, es wird nicht begriffen. Egal. Jedenfalls hab ich ein mieses Gefühl, wenn ich das hier neben mir liegende Buch auch nur anschau. Ich werd mich also schnell entscheiden müssen, damit ich die Leute von http://literaturkritik.de nicht unfair hängen lasse. Und was freue ich mich auf das Tagebuch Einar Schleefs; da hab ich von vornherein die Sicherheit, es wenigstens mit einem Character zu tun zu haben,d en man mögen kann oder nicht, aber, wie meine Großmutter gesagt hätte, „recht ist er!“ – … und bin, liebe Leser, nach dem Jarrett wieder in Richard Strauss eingestiegen und begreife immer mehr, weshalb ausgerechnet Glenn Gould einmal behauptet hat, Strauss sei wahrscheinlich der bedeutendste Komponist des Zwanzigsten Jahrhunderts gewesen. (Der Fall hat ein bißchen Ähnlichkeit mit Thomas Mann: wegen des furchtbaren Schmocks, den die Musik zugleich transportiert. Es wird immer deutlicher: Das Leben zu lieben, bedeutet, zum Zerreißen gespannte Ambivalenzen auszuhalten und eben k e i n e Eindeutigkeit zu erwarten, geschweige zu fordern.)
Ich h ö r jetzt noch ein bißchen und geh dann zu Bett, in dem heute z w e i Sechsjährige liegen: weil mein Junge übernacht-Besuch eines Schulfreundes hat. Beide Kinder sind rasend schön. Ich habe ihnen fast eine Stunde lang zum Einschlafen vorgelesen. Der andere Junge – einer von vier Brüdern – sah mich immer wieder staunend an. Hier wird eine Seite meines Berufes – daß ich vorzulesen gewöhnt bin, es auch so sehr gerne tue und darum gut kann – zu einem Privileg. (>>>> Su Schleyer wies mich in einer Mail heute ganz zu recht darauf hin, daß ich nicht immer „mein Kleiner“ schreiben und sagen solle, denn der Junge sei sechs unterdessen; dieses „Kleiner“ hänge ihm sonst möglicherweise lange an.)
P.S.: Hab den Abend nach und vor dem Vorlesen damit verbracht, Faures Korrektureinwände ins ARGO-TS zu übertragen oder zumindest, wo ich nicht willens war, Fragezeichen ins Skript einzutragen. Arbeit, sag ich Ihnen, Arbeit! Was scheren mich da Pfändungsandrohungen?