Donnerstag, der 30. März 2006.

7.22 Uhr:

Erst um kurz nach sieben aus dem Bett gekommen; mit U1 trinkt man immer so viel – noch, nachdem wir alle auseinandergegangen waren: U2 und der Profi, ein wenig zuvor schon D., der Jurist und, sagen wir, ‚Sympathisant’ meiner Arbeit, sowie U1 und ich – noch dann schleppte er mich für einen Absacker in den TORPEDOKÄFER, so daß ich jetzt eigentlich nur unscharf erzählen könnte, wie ich den Radweg von Arbeits- in Kinderwohnung nachts denn noch schaffte. Aber ich erinner mich gut, wie ich, als ich hier ankam, nicht etwa mehr den Laptop anschloß und wie üblich einen letzten Blick ins Netz warf – nein, nein, ich stellte die Tasche in die Küche auf einen Stuhl, darüber sich heute morgen auch meine Klamotten fanden , und eilte aufs Hochbett, wo mich das Gefühl einer Leere empfing, weil mein Junge nicht dalag… aber dann sackte ich, doch ausgestreckt, zusammen und kam eben jetzt erst wieder zu mir.
So habe ich heute früh zwar an ARGO noch nichts getan, aber ausgebig von ARGO geträumt. Dabei war unser Gespräch am Abend um mein verbotenes Buch gegangen und um die riesigen Unterschiede meines Falles zu dem Maxim Billers usw. usf. Und daß es hier in Berlin einen Richter gibt, der das Publikum liebt und schnell mit Verboten bei der Hand ist – in keiner anderen Stadt sei das so üblich. Deshalb riefen Anwälte, die ihren Ruf im Medienbereich besonders farbig ausgestalten wollten, immer Berlin an – was leicht sei, denn Bücher und Zeitschriften würden ja hier auch ausgeliefert und seien hier erhältlich, und also sei die Wahl des Gerichtsstandortes Berlin für bestimmte Interessen so klug gewählt wie rechtens. Ich habe das Wort von einem „Interesse am postmortalen Persönlichkeitsrecht“ kennengelernt, das sich anscheinend unabdingbar mit sehr materiellen Interessen von Erben und ihren sehr bestimmten Anwälte verbinde; d e r e n Anzahl ist, um es s o zu sagen, fast einzig. Und die ließen dann schon mal im vorhinein Unterlassungsschreiben an Redaktionen hinaus; pfiffigerweise darf aus weder aus jenen noch aus ihren Gerichts-Schriftsätzen zitiert werden: ich suche Ihnen nachher mal den hoffentlich existierenden Link auf eine hübsche Glosse der FAZ zu solchen Fällen heraus. Jedenfalls führen diese Anwälte einen, wie ich das gestern nacht formulierte, ‚besseren Jihad‘, einen rechtsstaatlich fundierten nämlich, der die Kunst- wie die Meinungsfreiheit mit absolut legalen Mitteln zugrundegehen läßt – und zwar, weil das Geld bringt. Viel Geld. Egal. Jetzt will ich anderthalb Stunden an ARGO etwas tun, bevor ich in die Arbeitswohnung radle, wo U1 jetzt sicher noch schläft. Der Tag ist kurz, ab 16 Uhr hab ich meinen Jungen wieder. Einen guten Morgen den Leserinnen und Lesern.

8.01 Uhr:
Es gibt, vergaß ich zu erzählen, für ARGO neue Perspektiven in Sachen eines ausgesprochen großen Verlages. Ich wäre gerne in diesem Haus, weil es in der Netz-Technologie die Nase aber auch g a n z vorne hat; das wäre eine feine Verbindung nicht nur für meine ans Printmedium gelehnte Literatur, sondern auch für eine Weiterentwicklung meiner Netzästhetik. Vieles würde plötzlich möglich, für das momentan einfach das Geld fehlt. Aus strategischen Gründen erzähl ich hier jetzt nicht mehr, verzeihen Sie bitte.
(Bin zu schwammig im Hirn momentan, um schon ARGO angehn zu können. Vielleicht bleibt der Text heute liegen… was insofern nicht schlimm ist, als ich nächste Woche, während der VERBEEN-Produktion, eh kaum darankommen werde, und ich ohnedies schon so viel weiter bin, als meine Planung es wollte.)

13.20 Uhr:
Sò, bis auf einen muttersprachlichen Rezitator, der Verbeens auf Farsi geschriebenes Arimathia-Gedicht vorträgt, hab ich nun das ganze Team beisammen. Gutes Gefühl. Sollte sich letztlich k e i n Orientale bereitfinden, den, um es witzig auszudrücken, cunnilingus in den Mund zu nehmen, nun ja, dann werden wir halt drauf verzichten. Der Stoff ist ohnedies derart massiert, daß wir sowieso später werden streichen, bzw. die Sprechtakes kürzen müssen. Es kommt also letztlich nicht mehr drauf an.
Jetzt ordne ich weiterhin die Musiktakes provisorisch den zitierten Aufnahmen, aber auch den Typoskript-Passagen schon einmal zu. Was sich davon dann tatsächlich realisieren läßt, oder ob ich musikalisch während der Produktion noch einmal völlig umdenke, überlaß ich der nächsten Woche.
Der Mittagsschlaf muß ausfallen; ich hab noch zweieinhalb Stunden, dann hol ich den Jungen von der Schule ab, der für den Nachtmittag seinen besten Freund mitbringen wird. Vielleicht kann ich dann in der Kinderwohnung noch etwas am Typoskript friemeln.

Etwas verspricht einen intensiven Kontakt. Hab mich in einem Tagebuch, obwohl ich’s nicht wollte, festgelesen – also hüpfend zwischen den einzelnen Arbeitsgängen. Interessanterweise stammt die Gardenie aus Indien…

20.29 Uhr:
[John Coltrane, A Love Supreme.]
… aber habe mich mal wieder geirrt . Das ist schade, ich werde offenbar nie klüger. Eine junge Dame wolle mir Fragen stellen und erwarte ehrliche Antworten. So mit diesem ihrem Satz beginnt die Konversation. Mit einem Vorurteil meiner Herkunft wegen geht es dann weiter. Ich stelle zurecht, ich erkläre freundlich, sogar sehr sehr Privates. Es kommt die nächste Frage, die wiedernächste; ich erzähle, reagiere einmal mit einem literarischen Text. Aggression kommt zurück, auf die auch ich aggressiv reagiere. Schon zeiht mich die junge Dame der Selbstlüge. Dafür hat sie eigentlich keinen Grund, es ist rein ihre Projektion oder meinethalben ihre Erfahrung, die sie auf mich überträgt. Damit geht denn der Kontakt zuende. Ich verzichte drauf, den Briefwechsel hier hineinzustellen, ich führe Peinlichkeiten nicht vor. Jedenfalls bin ich binnen kurzem für sie zum Buhmann geworden. Ich scheine sowas anzuziehen. (Liegt es daran, daß ich wirklich immer sage, was ich denke? Daß die Leute das nicht aushalten, daß sie es vielleicht einfach nur nicht begreifen? Oder daß sie nicht glauben können, daß jemand so anders als offenbar andere ist? Egal.)

Die VERBEEN- nein, nicht -Arbeit, aber -Organisation ging geradezu blendend voran; nun ist die gesamte Besetzung komplett, und es hagelte fast schon verdächtig viele Komplimente. Das schönste stammte von Wyprächtiger, einem alten Schauspieler: „Endlich einmal wieder ein Stück, das die Worte nicht l e e r verwendet, nicht, damit da Worte stehen, sondern ein Sinn.“ Ich weiß, daß einige unter Ihnen schon wieder das ‚Eigenlob stinkt’ auf der Zunge haben, aber ich werde daran festhalten, das, was ich empfinde, auch zuzugeben. Ob Ihnen das paßt oder nicht. Hielte ich’s anders, mein Werk wäre kaum etwas wert.

Ja, das mit der jungen Dame geht mir nah. Ist immer so. Ich hab bei sowas eine sehr dünne Haut. Aber ich kann sie mir auch leisten, da ich das aushalte und auf der anderen Seite mit enormen Genüssen vergolten werde: eben n i c h t im Mittelmaß leben und also auch nicht im Mittelmaß empfinden.

Jetzt leg ich weiter im Typoskript Töne an, korrespondiere per email, vielleicht meldet sich auch >>>> die kluge June über den Yahoo-Messenger nachher einmal wieder. Mit ihr wird, trotz – oder sogar wegen – einiger Meinungsverschiedenheiten, der Ton niemals aggressiv, sondern es bleibt immer alles sehr warm, sehr nah. Das ist etwas Wunderschönes.

An ARGO, übrigens, leider, hab ich heute nichts getan.

21.12 Uhr:
Ich vergaß zu erzählen, dabei ist das wichtig und zeigt etwas anderes: Martin Mosebach hat mir >>>> hierzu einen sehr guten Brief geschrieben:

(…) Ich bekenne, daß ich, als ich mir die Situation vorstellte, an Ihre Erscheinung gedacht habe. Alles, was sonst über diesen Mann gesagt wird, hat nichts mit Ihnen zu tun, wie jeder, der Sie kennt, sofort sieht, nicht die russische Abkunft, nicht die italienische Abkunft… (…)
Das ist ihm sofort zu glauben, auch wenn das eigentlich keine Rolle spielt. Denn selbst, hä t t e er mich, meinethalben auch negativ, in seiner Figur beschrieben, fände ich das völlig okay, sofern einer über sein Handwerk und über Geist verfügt. Das steht bei Mosebach außer Frage.
W a s wirklich ärgerlich ist, ist die Reaktion der Kritik und daß sie ein solches Unternehmen sofort an sich reißt und wider Willen oder auch nur Absicht des Autors für eigene Häme gegen andre lesermanipulativ mißbraucht. So >>>> ging ja auch schon Marius Meller vor, als er in einem Interview für den TAGESSPIEGEL Daniel Kehlmann gegen mich Worte in den Mund legte, die dieser niemals gesagt hatte und wofür dieser Autor sich dann bei mir entschuldigte, obwohl er dafür gar keinen Grund hatte.
Und sehen Sie: daß ich das hier öffentlich schreibe, ist schon ‚widerbetrieblich‘, weil doch, die ich zeige, in den Juries der Literaturpreise sitzen, in Übersetzergremien, in Juries, die Stipendien vergeben usw. usf. Da halten die meisten Autoren, wiewohl sie um die Sachverhalte wissen, ausgesprochen bedacht ihre Schnauze.

Jedenfalls bin ich für den Brief überaus dankbar.