Dienstag, der 9. Mai 2006. Berlin – Bamberg.

5.13 Uhr:
[Berlin Schönhauser, Küchentisch.]
Trotz sauseligen Kopfes gut hoch. Jetzt die paar Sachen packen (eine schwere Tasche dazu ist es d o c h wieder geworden: der Kluge, das Etymologische Wörterbuch usw.), den Kaffee trinken und a u f: Um 5.56 Uhr fährt die U-Bahn, die mich den 6.21er ICE nach Bamberg erreichen läßt. Darin dann an ARGO.

6.30 Uhr:
[Michael Mantler, The Hapless Child. Im ICE Berlin-Bamberg.]Kaum sitze ich im Zug, hab ich einen Anfall von Arbeitslust. (Ich l i e b e dieses Berlin, aber nun – da Lakshmi sich wieder zurückgezogen zu haben scheint, jedenfalls distanziert, ja abweisend war, als sie >>>> vor einer Woche am Mobilchen nicht mit mir sprechen wollte und weder auf meine SMS reagierte noch sich seither meldet – – – nun also bin ich beklommen gewesen gestern über den gesamten Tag, beklemmt, voll einer latenten schartigen Vorahnung, die den Character einer nicht herausgelassenen Angst hat… und bin froh, Entfernung zu gewinnen. In Bamberg geht es mir… sagen wir: ruhiger, gefaßter, ich habe gewissermaßen mehr Übersicht über meine Gefühle, da ich von soweit weg ja doch nichts ausrichten kann. Es ist, als beträfe mich dort alles nichts, und zwar auch dann nicht, müßte befürchtet werden, daß man, etwa wegen dieses Tagebuches, mal wieder eine einstweilige Verfügung gegen mich herausläßt. In Bamberg denke ich: Das geht alles ein in die Annalen einer deutschsprachigen Geschichte der Gegenwartsliteratur. Das ist ein gutes Gefühl, und zwar auch dann, wenn ich davon gar nichts {mehr} haben sollte. Es beruhigt und macht selbstgewiß. Leser, Sie ahnen ja gar nicht, welche Fantasien manchmal in mir toben! Und immer haben sie irgendwie mit meiner Mutter zu tun. Ich wollte folgendes als Paralipomenon fomulieren, lasse es nun aber hier, in diesem semiprivaten Bereich; ausdrücken aber m u ß ich es:
>>>>

Als meine Mutter sich von meinem Vater trennte, beging sie ein Verbrechen an ihren kleinen Kindern; und mein Vater, den ich in all seiner furchtbaren Schwäche bis heute liebe, beging dieses Verbrechen a u c h: als er nämlich die Trennung von seinen Kindern akzeptierte. (In Paralipomenon-Form wäre zu verallgemeinern gewesen: Eltern, die sich trennen, obwohl sie kleine Kinder haben, begehen an ihnen ein Verbrechen. Die Form t r i f f t so aber nicht, weil das ‚setting’ je verschieden sein kann: Etwa wenn sie sich trennen, weil beiderseits das Gefühl erlosch; weil dann kein Begehren mehr wirkt zueinander, können sie die enge Verbindung zu ihren Kindern problemlos aufrechterhalten.)

<<<<

Jedenfalls geht und geht das in mir um, es ist eine Wut, die sich, weil sie ohnmächtig und zugleich mit Liebe zugestopft ist, in meinen so grauen wie rastlosen Stimmungen ausdrückt. Das fällt in Bamberg fast ganz von mir ab. Und ich kann genießen, ohne etwas zu tun auf der Kiesterrasse zu sitzen und einfach nur einen Wein zu trinken. Mein workoholism hat – wie wahrscheinlich jede künstlerische Arbeitsw u t – den Character der Bearbeitung von Traumata; das macht die Arbeit nicht schlechter, sondern wirkt, wie bei anderen ihre Luxus- und Geldgier oder ihre Sicherheitssucht, als Antrieb: es ist die Turbine, aus der sich Energie herausstößt.)

12.16 Uhr:
[Pettersson, Zweites Violinkonzert. Villa Concordia Bamberg.]
Das war g u t e Arbeit im Zug. Ich habe die ganze Szene g e s e h e n, und mit einem Mal fielen die Arbeitshemmnisse von mir ab: sie war falsch vorher gewesen, das Environment mußte sich auf >>>> Elena Filatova beziehen; das hatte ich übersehen oder sogar vergessen. Jetzt, da es korrigiert und >>>> die Landschaft umbeschrieben worden ist, war es dann auch möglich, die ganze rückgreifende Szene abzuschließen und in die laufende Handlung zurückzukehren.
Ausgepackt, ein Bier geöffnet, das ziemlich große, wunderschöne Intarsien-Backgammon, das ich aus Berlin noch mit hergeschleppt habe, auf den Gartentisch gelegt, Ratzfelix pest herum und trägt Unsinn auf der Nase… jetzt mach ich mich, bevor ich an ARGO weiterschreibe, erstmal wieder netzkundig. Ah, und eben rief eine Dame der Salzburger Festspiele an: ob ich nicht fürs Programmheft seiner Zaїde einen Text über Mozart schreiben wolle; aber er solle „ganz frei“ gestaltet sein und müsse mit dem speziellen Stück gar nichts zu tun haben: „Lassen Sie Ihrer Fantasie freien Lauf.“ – Das ist nun mal fein. Das ist nun mal etwas zur unbedingten Freude. Vielleicht wird ja das Mozartl, wie Mahler ihn genannt haben soll, s e l b e r sprechen und sich zu den gesitteten Julibäumsjahren äußern, die ich ihn dann spöttisch mit Jean Paul als „Jobelperioden“ werde bezeichnen lassen. – Die Anruferin sagte mir, >>>> Ulrike Draesner habe diesen Kontakt angestoßen; so sei sie, die Anruferin, auch an meine Telefonnummern gekommen.

18.14 Uhr:
[Pettersson, Dritte Sinfonie.]
… und leg mich, verspätet, um 15.30 Uhr für eine Stunde schlafen, stell eigens noch den Telefonie-Wecker an – und scheine das Schellen entweder zu überhören, oder aber in der Einstellung war was falsch. Jedenfalls wach ich erst Viertel vor sechs auf. Und weil ich nebenbei die Wäsche laufen lasse im Waschraum, und weil heute um 20 Uhr >>>> eine Lesung in der Villa Concordia ist, bei der die Anwesenheit der Stipendiaten erwartet wird, bin ich mit der Arbeit dann d o c h nicht viel weitergekommen. Und habe auch mal wieder die hiesigen Ladenschlußzeiten verpaßt, so daß kein Brot mehr im Haus ist. Bin eigens noch zum Bäcker gepest. Nee, geschlossen Punkt sechs. Na ja.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .