Dienstag, der 16. Mai 2006. Berlin & Oldenburg.

6.35 Uhr:
[Berlin Kinderwohnung, Küchentisch.]
Extrem tief träumend verschlafen; der Traum integrierte den Wecker: ich träumte, daß er schellte, daß auch die Weckfunktion meines Mobilchens schellte (was sie sicher tat) und daß ich überlegte, wie sich das ausstellen, wie sich das weiterstellen ließ, und daß ich entsprechend herumhantierte; der Clou dabei war: mir täumte von einem dritten Wecker d a z u, den es hier gar nicht gibt. In den Traum hineingemischt waren Szenen, kurze episodische Filmszenen von >>>> Frauen und Männern, verunglückende Liebesgeschichten, was von dem Gespräch bewirkt gewesen sein wird, das Eisenhauer und ich gestern abend beim Billard führten und daß sich abermals um die schleichende, unausweichliche Dynamik drehte, die ein früh erlebter Mißbrauch in Frauen anstößt und der sich, scheint es, gar nichts entgegnen läßt. Es gibt kein Verhalten, das nicht auf die eine und/oder andere Weise selber diese Dynamik nährte; es sei denn, man begibt sich völlig in eine Bußfertigkeit und Ergebenheit, an der sich nunmehr der unbewußt schmerzende Rachedurst stillt: man büßt ersatzhalber. Ich habe den Gedanken gestern nacht in der Bar schriftlich skizziert, während ich auf den Profi wartete, und werde ihn nachher >>>> ausformuliert auf die Hauptseite Der Dschungel stellen.

Mußte nachts dann noch ein Computerproblem lösen, das das ganze System lahmgelegt hatte: ich hatte nachmittags eine vor zwei Wochen deinstallierte Firewall neuinstallieren wollen, darauf brach alles zusammen, ich kam nicht mehr an meine Dateien, nicht mehr ins Netz sowieso, der Computer fuhr nicht einmal mehr gänzlich hoch, sondern hing. Deshalb ließ sich die Firewall nun auch nicht mehr deinstallieren. Erst ein ziemlicher Grobgriff, zu dem ich mich aus dem Göttinseidank funktionierenden abgesicherten Modus entschloß und der nicht ohne Risiko war, zerschlug gegen etwa ein Uhr nachts den Alexanderknoten.

Ich esse zu wenig, hab auch kaum Appetit; stopfe, wenn’s mich unvermittelt d o c h ankommt, irgendwelches Zeug in mich rein; so in der Bar Chips und Guacamole.

Um 13.16 Uhr muß ich hier los: nach Hannover, nach Bremen, von dort aus nach Oldenburg weiter. Im Zug werd ich die Lesung vorbereiten, was bei der Menge des ARGO-Textes vor allem deshalb nicht leicht ist, weil der Roman szenisch so eng verzahnt ist und es kaum längere Einzelpassagen gibt. Also werd ich zwischendurch immer erzählen. Bin auf den Moderator gespannt und darauf, was er denn von ARGO und ANDERSWELT-insgesamt bereits weiß.

15.52 Uhr:
[ICE Hannover-Berlin.]
Das erste Mal umgestiegen, den hotspot am hannöverschen Bahnhof genutzt. Ich hab nun monatlich 200 Freiminuten, werde deshalb auf Reisen, wann immer möglich, wegen des zu beachtenden traffics von 5 GB möglichst wenig aus dem Zug, also weniger übers Mobilchen selbst ins Netz tauchen, als daß ich diese hotspots nutze; das geht freilich nur, wenn umgestiegen oder eine Wartezeit überbrückt werden muß. Bin ich länger an anderem Ort, kann ich mir immerhin die Internet-Cafés sparen; die sind dann nur noch im Ausland aufzusuchen. Statt dessen geh ich dann halt immer zum Bahnhof in die Lounge, die ich wegen der Bahncard 100 incl. freiem Kaffee kommoderweise besuchen darf. Wieso hab ich das Gefühl, daß ich bald auch-aus-einer-solchen eine Geschichte erzählen werde?

Das MißbrauchsThema läßt mich heute nicht los:
Wenn >>>> rostschleifer mit Bezug auf Alice Miller auf den Wiederholungszwang abstellt, so ist mit diesem Begriff doch noch wenig erreicht. Wir sagen „rot“, aber was „rot“ i s t, als physikalische Erscheinung u n d als psychische Empfindung, darüber ist nichts ausgesagt. Hier wird mir die spezielle und allgemeine Fassung, in der ich mit Allegorien zu operieren begonnen habe, zunehmend bedeutsam. Wie der Goldene Schnitt die Schönheit, so wittere ich, daß das Allegorische die inneren Prozesse eines im besonderen literarischen Kunstwerks wirkgesetzlich bestimmt – und damit eine bleibende Bedeutung wie die des Faust oder der Antigone erlangt. Und zwar, weil es mimetisch etwas Wahres, doch dort meist Unsichtbares aus den Menschenleben und ihren Erfahrungen hervorholt, es aus dem Ungefähren wäscht. Vieles weist in die antike Klassik zurück, einiges in den Barock, manches auch in die frühe Moderne. Die g r o ß e n Bücher der Gegenwart sind, soweit ich sie überschaue, a l l e auf dieser Spur gewesen. Deshalb erscheinen sie so unter Fernerliefen oder sacken sehr bald darin ein, doch werden, wie Arno Schmidt sagt, von den Wenigen einander durch die Jahrhunderte weitergereicht. Das literarische Tagesgeschäft will die großen Themen hingegen verleugnen – nur die Unterhaltungsliteratur darf sich drin tummeln, da sie keine gesellschaftliche Anerkennung genießt, und das formal ganz zu Recht. Sie die allerbeste Ausrede dafür, große Themen nicht ergreifen zu müssen. Daß sie aber weitaus mehr als die ‚ernste Literatur’ gelesen wird, liegt eben nicht nur an ihrer formalen Schwäche, die sie auch sog. Einfachen Menschen genießbar macht. Vielmehr wirken diese großen Themen relativ ungefiltert in diese Menschen hinein; der Verdrängungsprozeß ist weniger geschickt – auch schon deshalb, weil ein Bedürfnis nach persönlicher Bedeutung besteht, die der intellektuell Wohlsituierte sich gesellschaftlich ins Haus geholt hat; d e n würden die großen Themen nur gefährden. Der ‚Einfache’ aber genießt am Schund, daß er ihn an einem Großen Geschehen teilhaben läßt. Der Krieg ist ein Großes Geschehen, der Mord ist ein Großes Geschehen, und die Liebe ist es auch; deshalb wird alldies aus der Hohen Literatur nach Möglichkeit herausgefiltert oder sublimiert („erwachsen“) dargestellt. Obwohl es tagtäglich da und sublimiert gar nicht i s t. Einem Autor >>>> die viele Ballerei in seinen Texten vorzuwerfen, ist in einer Welt völlig absurd, deren Menschen sich zu wenigstens 2/3 in brutalsten Auseinandersetzungen gegenseitig meucheln. Woran die ‚sublimierte Welt’ auch noch nutznießt.

….. 16.32 Uhr: >>>> Titania Carthaga ruft wegen der ANDERSWELT-Lesung in Jena am 12. Juni an. Daß ich meinem Mobilchen als Signal den Ruf eines grollenden Tigers einprogrammiert habe, hat eben im Waggon erst zu einem irrationalen Schreckmoment, dann zu allgemeinem Lachen geführt, in dem der Humor der Erleichterung ziemlich spöttisch die Hände reichte.

17.54 Uhr:
[Oldenburg, Acara Hotel.]
Ein häßlicher, hochmoderner Kasten ohne Aussicht; ich sehe von meinem Zimmer über einen schmalen wie glasummauerten langgestreckten Hof in der dritten Etage des Gebäudes auf nur wieder andere Zimmertüren; das Ganze ist wahrscheinlich ebenso teuer wie es zweifelsfrei den Character eines Gefängnisses für gutbetuchte Verbrecher hat (prison Hilton nennen einige Israelis die Sicherheitsverwahrung des RabinMörders; daran erinnert mich das hier). Auch Ratzfelix hat sich erschrocken: Ich habe seinen Käfig geöffnet, er schaute auch sofort heraus, sah das Unheil und peste unmittelbar in sein Versteck (einen ausgefütterte Schuhkarton) zurück. Man grad, daß er nicht gequiekt hat.

2 thoughts on “Dienstag, der 16. Mai 2006. Berlin & Oldenburg.

    1. (Alles dort, wo es hingehört.) Sie meinen >>>> – s o?

      (Doch wie kommen Sie darauf, daß es sich bei dem oben Erzählten Gedachten um einen Minnesang handelt? Ihre Assoziation ist mir bezüglich d i e s e r Problematik nicht recht nachvollziehbar, ja kommt mir sogar zynisch vor.)

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