5.43 Uhr:
[Hotel ACARA. Berg, Wozzeck-Suite unter C. Kleiber.Guten Morgen.
Nun, einen Erfolg kann man die Veranstaltung gestern abend n i c h t nennen, also sofern darunter verstanden wird, daß viele oder überhaupt Bücher verkauft werden und dazu auch viele Leute erscheinen. Etwa zehn saßen da in dem hübschen Veranstaltungsraum unterm Dach. So gesehen, hat es etwas Erleichternes, daß nicht Buschheuer nicht Richter dabeiwaren; man hätte andernfalls ein Darstellungproblem gehabt, obwohl diejenigen, d i e da waren, diese Publikumsleere vermittels Aufmerksamkeit sehr ausglichen. Und Tom Grote, der sich überhaupt erst seit vorgestern hatte vorbereiten können und das Sizilienbuch sowie den THETIS-Anfang gelesen hatte, stellte kluge Frage, denen anzumerken war, daß ihn die Texte gepackt haben. So waren dann auch das öffentliche und nachher das halbprivate Gespräch beim Essen. Monika Eden, die Veranstalterin, hatte ihrerseits gute Öffentlichkeitsarbeit geleistet, es hat mehrere Artikel etc. gegeben; aber ich bin halt nicht allgemein, sondern nur in Szenekreisen bekannt, mein Name besitzt keinen Publikumssog. Ist halt so und ist auch kein Wunder angesichts meiner Publikationsgeschichte und der – meist persönlich motivierten – Barrikaden, die bezüglich meiner Dichtung zwischen den Vermittlern und dem Publikum.aufgerichtet worden sind. Die Situation erinnert mich an die Struktur von WLan Stick-Verbindung-Fritz!Box, wenn das System keine IP vergibt: Von jenem strömen die Daten zwar bis zur Verbindung gut hin, von ihr aber zur Fritz!Box keine mehr. Wer mich aber einmal lesen h ö r t e, der kommt immer wieder. Insofern ist das schon okay.
Ich las NULLGRUND und >>>> die Liebes- und Sterbeszene Frieling/Kignčrs.
Lag erst nach eins im Bett, kam also erst nach halb fünf hoch. Damit Sie sich ein Bild von meiner Hotelaussicht machen können, hab ich Ihnen eben drei Bilder davon geknipst. Es hat hier wirklich was von einem engen Freigangshof, der dem Insassen zugestanden ist.
7.45 Uhr:
[Nach dem Frühstück kurz vorm Aufbruch.]
Nach >>>> solchen Bemerkungen, die auffälligerweise auch immer von demselben stammen, habe ich spontan wieder einen Angstanfall vor weiteren Einstweiligen Verfügungen. Diesmal aber würde ich für meine Arbeit ins Gefängnis gehen, das Ganze aussitzen, so furchtbar das für meinen Jungen auch würde. Es kann doch nicht angehen, daß einem Überlegungen über enorm wichtige, allgemein wirkende psychische Zusammenhänge nicht erlaubt sind, nur weil irgend ein Hansel ganz absichtsvoll anders gerichtete Schlüsse nahelegen will; es ließe sich, da wir a l l e in sozialen Zusammenhängen leben, g a r nichts mehr öffentlich äußern, das von irgend einer Bedeutung ist. Deshalb wiederhole ich hier deutlich: Meine Überlegungen, etwa bezüglich >>>> der Mißbrauchs-Dynamik sind solche, die spezielle Personen meinen, dafür gäbe es auch gar keinen objektivierbaren Grund, sondern es wird versucht, einer Mechanik auf die Spur zu kommen und sie zu stellen, die bei sehr vielen, wenn nicht sogar allen Mißbrauchsopfern bestimmend auf sie und ihren sozialen Umgang einwirkt und gerade in Geschlechterverhältnissen ein Ausmaß angenommen hat, das es geradezu gesellschaftspolitisch bedeutsam macht. Deshalb ist Die Dschungel bereits seit ihrem Beginn mit dieser Problematik beschäftigt.
8.53 Uhr:
[RE nach Bremen. Soeben Halt in Delmenhorst.]
Grauer norddeutscher Himmel, bei dem man die Furcht der Germanen versteht, er könne ihnen auf die Köpfe fallen. Es wäre, wenn, aber mehr ein Sacken. Jedenfalls ist es genau diese Art depressivster Witterung, die mich hat vor Jahren Bremen fliehen lassen, damals, 1981, als ich nach Frankfurtmain ging.
Ich schreibe sehr flüssig an ARGO, dabei dem Laptop seinen Namen erfüllend, nämlich: das Gerät auf den Knien.
9.39 Uhr:
[IC nach Hannover.]
Dieser Zug erinnert irritierend an jenen, mit dem Deters seinerzeit ebenfalls nach Hannover fuhr, wo er dann nach Hannover Münden umstieg und >>>> schrecklich hilflos die hypnotisierende Bekanntschaft Dr. Lipoms machte. Wobei ich gestern abend was Falsches gegessen zu haben scheine, oder es wirkt etwas anderes, Psychisches, in mir, so daß ich dauernd auf Toilette rennen muß und es immer gerade so schaffe. Weil aber auch dieses ‚gerade so’ mich an DIE FAHRT erinnert, die bereits im >>>> WOLPERTINGER sowohl Identitäten als auch Realitätskonzepte spielerisch durcheinanderwirbelte, werde ich Katanga daraus morgen das Stoffwechselstückchen Kant auf die fiktionäre Homepage stellen lassen – zu Ihrem Vergnügen, hoff ich, wie zugleich als Anreiz, nun endlich dieses Buch zu k a u f e n. Was ich nämlich gestern für den Newsletter ausgesucht hatte, das fand sich, ich übersah das, bereits im Archiv – allerdings >>>> in einer um mindestens das doppelte gekürzten Fassung für den Funk. Als ich den Text im ICE nach Bremen wiederlas, machte mich die Tatsache ziemlich perplex, daß der Herr >>>> Volker Weidermann längst ein alter Bekannter meiner spöttischsten Laune war. So groß scheint dieser mein Spott gewesen zu sein, daß ich den jungen Mann ganz vergaß. Und ihn in der Funkfassung sogar wieder herausnahm. Also lassen Sie es uns s o machen: Morgen gibt’s die fiese Toilettenszene und nächste Woche dann die Weidermann-Polemik.
ARGO kehrt soeben zurück ins Tableau einer Geschichtschronik. In die hinein werden cut-up-artig allerknappste Szenen getupft. (Ich brauch einen Stromanschluß, sonst kann ich bald nicht mehr weiterschreiben. Hoffen wir mal auf den ICE nach Würzburg.)
10.32 Uhr:
[ICE nach Würzburg.]
Merda! K e i n Stromanschluß an Bord. Das ist nun wirklich ärgerlich. Der Akku hat noch für etwa eine Stunde Kraft, und ich bin mit ARGO gerade so in Fahrt. Sowie er schlappmacht, ist’s aus mit der Morgenarbeit, denn ab Würzburg muß ich einen nächsten Regionalexpreß nehmen—
— und dann noch eine instabile Funkverbindung, so daß ich auch übers Mobilchen nicht ins Netz komme und die Rückreise und ihre Gedanken nicht, wie ich wollte, in fast-Echtzeit publizieren kann. Möglicherweise, wenn’s zwischendurch doch noch klappen solltt, lege ich aus Energiegründen die hier angegebenen Links erst später. Probieren Sie sie einfach von Zeit zu Zeit aus.
15.12 Uhr:
[Villa Concordia Bamberg. Busoni, Doktor Faust. (Nagano).]
Zurück. Trotz leicht verspäteten Zuges pünktlich bei der Besprechung möglicher und tatsächlicher vom Haus initiierter Lesungen gewesen. Nun sollte ich packen, will aber erst Die Dschungel in Ordnung bringen, die Links legen usw.
Was mir noch einfiel, als der Akku geleert war:
Gestern abend fragte mich eine Hörerin, ob ich Angst vor dem Tod hätte. Ich antwortete so wahrheitsgemäß wie spontan: „Nein.“ Zuvor hatte mich Tom Grote, der Moderator, gefragt: „Wovor fürchten Sie sich?“ Da hatte ich gesagt: „Vor dem Alleinsein.“ Aber das ist nicht ganz richtig, und ich will das hier präzisieren: „Ich fürchte mich davor, eingesperrt zu werden. Davor habe ich Angst. Eingesperrt alleine zu sein.“ Wobei auch da das „alleine“ eine mindere Rolle spielt.