Dienstag, der 23. Mai 2006.

7.16 Uhr:
[Villa Concordia Bamberg. Morgenblick. Tiefe Wolken.]
Mit starkem Kopfschmerz aufgewacht; >>>> die Diskussion traf mich derart und geht weiter in mir um, daß ich mich betrank und betrank. Es trifft mich auch die Ausweglosigkeit, die durch mein eigenes Handeln, durch meine Überzeugung hergestellt zu sein scheint, die ich zugleich als berechtigt f ü h l e wie auch denkend und also logisch herleiten kann. Megara, eine entferntere NetzFreundin, hielt mir gestern vor: „Können Sie denn nur die Extreme fühlen? S e h e n Sie nur das Extreme?“ Daran i s t etwas, ich bin an meine Analyse erinnert, in der der Analytiker immer wieder versuchte, meinen Blick auf Zwischenstufen Kompromisse zu lenken, die mir aber jedesmal wie Uneigentlichkeiten vorkamen und weiterhin so vorkommen; manchmal erinnert mich das an Sherlock Holmes, der, wenn es keinen schwierigen Fall zu lösen gab, zum Kokain griff. Das ist nicht mein Weg, sondern, fällt mir gerade ein, ich erschreibe mir den schwierigen Fall. Und stelle ihn (nur dadurch?) offenbar her: ich realisiere ihn. Er wird dadurch wirklich: an mir – und an anderen, die sich dann wehren.
Dann, ich schwankte bereits, als ich aufstand, rief Alexandra an: Freunde und sie säßen beisammen und wollten sich „Das Phantom der Oper“ anschauen, ich solle doch noch mit hinüberkommen. Ich ging, mir selbst deutlich, ohne die Gehspur halten zu können. Bei Alexandra gab es Gin. Über das Musical sag ich lieber mal nichts außer: selbst für den Kitsch kein Niveau von Musik, kein melodischer Einfall, der trüge, alles aufeinandergeschichtetes Akkordieren (gibt es das Wort? nein? dann gibt es das halt jetzt…). Und auch die Dramaturgie glänzte durch verschmierte Abwesenheit. Es war, als versuchte man, einen See zu durchschwimmen, der mit Weichkäse gefüllt ist. Aber die anderen mochten’s. Einmal legte ich, müde, meinen Kopf auf Alexandras, die vor mir saß, Oberschenkel; zuvor hatte ich versucht, mich zu Cara, der Labradorhündin, zu legen, die zu mir gekommen war, um Süßes vom Tisch zu erbetteln. So bezahle ich, ebenfalls extrem, die Begeisterungen, zu denen ich fähig bin. D a ß ich zu ihnen fähig bin, weiterhin, mit 51. Insofern ist es gerecht. Ob aber solch eine innere Konstitution ein langes Leben erlaubt? Ich glaube: Ja, n u r das. Sofern man ‚Leben’ emphatisch nimmt.
Sowie der Kopfschmerz vorüber ist (er flaut über dieses Getippe grad ab), werde ich zu arbeiten beginnen. Heute abend ist Lesung, meine erste in Bamberg. Die Verwaltung der Villa Concordia hat sie >>>> nicht einmal auf ihrer Website annonciert; sofern nicht die paar Kontakte, die ich in Bamberg jetzt habe, ein wenig Werbung gemacht haben werden, wird der Saal wohl leer sein – oder doch arg spärlich besetzt. Ich werde die Verwaltung nachher nicht auf das Versäumnis ansprechen, das hat eh keinen Sinn mehr; sondern werde heute abend coram publico reagieren. Wahrscheinlich. Der Einfall kam mir gestern nacht, und es muß erst der Alkohol draus verdunstet sein, bevor ich ihn wenden und abklopfen kann. Wahrscheinlich entscheide ich spontan, ob ja, ob nein.Was mir bereits >>>> June, was mir gestern aber auch Megara sagte: „Etwas nur für uns beide, etwas nur für das Paar, d a r u m geht es“ ist mir allenfalls logisch nachvollziehbar, aber ich fühle es nicht; für mich ist etwas erst dann da, wenn es sich öffentlich macht und sich – mit Lust und Selbstbewußtsein oder mit Trauer – zugibt: dadurch realisiert es sich; das gilt ganz besonders für das Ich. So überhaupt nur entsteht Literatur: jede Zeile ist gelebt. Ich wäre niemals, wenn ich nicht geschrieben hätte, auf den Ätna geklettert, als er ausbrach, ich wäre auch nie nach Afrika gefahren, ich hätte nicht diese verquere Liebe zu Bombay entwickelt. Ich wäre – außer als einem Bündel mehr oder minder ungerichteter Energievektoren und deshalb ohne Selbstbewußtsein – gar nicht da.
Das hat LebenshaltungsFolgen: denn auch andere nehme ich letztlich dadurch wahr, daß ich sie mir erschreibe. Dann kann ich durch sie hindurch denken und fühlen, dann wird mir das ganze Ausmaß i h r e r Hoffnungen Leiden Träume Lüste klar, ich fühle es dann tatsächlich mit. Insofern ist Literatur (oder, umfassender, Kunst) meine sowohl innerste Lebensform als auch d a s Organ der Erkenntnis. Ein unmittelbarer Zugang in die Phänomene ist mir verschlossen, ja ich glaube nicht einmal, daß es ihn gibt; er ist – wahrscheinlich eine wohltätige – Illusion. Was ich dabei verstehe, das ist, daß sich die Leute sie nicht (zer)stören lassen möchten, denn offenbar hält sie sie am beruhigten Leben: „Ich werde um meiner selbst willen geliebt“ und nicht „Es hat G r ü n d e, daß ich geliebt werde, und sie finden sich in den letztlich physikalischen Wirkzusammenhängen“:: – physikalisch meint hier::: daß alles, was wir sehen empfinden denken, biologische und damit materielle Prozesse sind, die das Gehirn als die-und-die Empfindung, den-und-den Abscheu, jene-und-jene Sehnsucht interpretiert; nicht „Rot“ ist, sondern eine bestimmte Wellenlänge wird als Rot gesehen: ein eminenter Unterschied).

[Auch daß ich immer wieder mal – wie hierüber – eine Fotografie von mir in Die Dschungel stelle, hat nur an der Oberfläche mit Eitelkeit zu tun; sehr viel mehr handelt es sich um Selbstvergewisserungsversuche: Es sind ihrerseits Literarisierungen.]

8.47 Uhr:
Ich antworte (mir) auf Fragen. Und finde >>>> einen wirklich-großen Text, den Findeiss heute nacht als Kommentar in Die Dschungel gestellt hat. Ich lege den Link hier, damit dieses Stückchen Dichtung nicht allzu schnell im Zeitstrom versinkt.