Freitag, der 9. Juni 2006. Bamberg – Gera.

7.26 Uhr:
{Villa Concordia Bamberg. Schönberg, Gurre-Lieder.}

Morgenblick um fünf.
Draußen auf der Kiesterrasse baut man die letzten Holzständer für die ziemlich gräßlichen Kopfskulpturen des altgewordenen jungen Wilden Markus Lüpertz, dessen eigener Kopf, wie man >>>> hier sehen kann, dem meinen ein wenig ähnelt. Seit Tagen ist Concordia-Direktor Goldmann nur noch Lüpertz’ wegen unterwegs, das halbe Städtchen wird mit dem grauslichen Zeug bestellt, gestern war die Zeitung sozusagen goldmannvoll. Na ja, denk ich mir (und spott’ mir meinen Teil mit Zschorsch zusammen), auf jeden Fall werd’ ich mir die Eröffnung am Sonntag antun: über 500 Leute „bekannt aus Radio und Fernsehen“ sollen hier einfallen:: vielleicht fällt ja auch bei mir was ein. Es gibt da so ein Weckerlied… nie wieder einen Dichter einzuladen endet es::: darauf mag ich es, erotisch gesehen, anlegen. 100.000 Euro, so stand’s in der Zeitung, habe die Villa Concordia für das Repräsentationsprojekt ausgegeben; für Projekte der diesjährigen Stipendiaten allerdings sei, hieß es, k e i n Geld da. Nun ja, Man Ray, die Banane ist groß.Aber vorher – guten Morgen, Leser – muß ich nach Gera (Ratzfelix nehm ich mit); heut mittag geht mein Zug. So daß mir nicht arg viel Zeit für ARGO bleibt, zumal ich noch mit provisorisch letztem Blick übers Libretto gehen und es vor meiner Abfahrt an >>>> RHPP für weitere Einwände/Vorschläge hinaussenden möchte. Ich glaube nicht, daß es formal bereits vollendet ist, aber der Rahmen muß stimmen, bevor ich endgültig feile. Und dazu brauche ich RHPP’s auch inhaltlichen Wünsche.
Ich wachte um fünf auf, mochte aber nicht aufstehen, auch wenn der Blick rein-herrlich war. Es scheint so zu sein, daß mir die halb-fünf-Gewohnheit nur dann leichtfällt, wenn ich in einem einzigen Projekt stecke, nicht aber, wenn ich von einem immer zum anderen wechseln muß, oder überhaupt scheint sich meine Arbeitshaltung zu beruhigen: ich m e r k e, wie ARGO dem Ende zugeht, und der Roman fließt ohne größere Einschnitte; da mag ich mir sechs Stunden Schlaf einfach gönnen – etwas in mir mag das, denn mein Bewußtsein-selbst hält ja weiter an halb-fünf fest: mein arbeitsmoralisches Bewußtsein.

Eine sehr innige, aber vorsichtige Korrespondenz hat sich bei >>>> finya.de entwickelt; ich dachte eben: wäre das auch bei meinen Frauen so gewesen, wäre einiges anders gelaufen, auch mit Prothoe. Außerdem ist von der Verlagsfront Neues zu berichten: Nächste Woche fahr ich nach München zu Random House, wohin mich jemand ich-weiß-nicht-wie-Einflußreicher gerne hätte – auch der sich in Der Dschungel entwickelnden poetischen NetzÄsthetik wegen; Random House, also Bertelsmann, hat technisch in Sachen Internet ja die Nase weit vorn; mir könnten da tools an die Hand gegeben werden, gegen die alles, was Die Dschungel bisher ausprobiert haben, Kleinkram ist: Ich brauche die technischen Möglichkeiten, kostenlos, poetisch füllen werd ich die dann schon, also s o gesehen: Ihr stellt mir das Orchester, und ich schreib Euch die Musik. Doch, gewiß, meine moralisch-erotische Zweifelhaftigkeit steht nach wie vor dagegen. Allerdings zeigt auch >>>> Dielmann wieder Interesse an ARGO und ANDERSWELT-insgesamt, und ihm sind moralische Wohl- oder Mißverhalten vergleichsweise egal: … Indes kommen natürlich viele Fragen auf, deren einer Effekt ist, daß ich den Thetis-Band wieder vorgenommen und mich drin verlesen habe, schon ist Meroe enthirnt, liegen 6-stellige Lichtjahre hinter mir, während deren anderer Effekt Überlegungen sind wie eine gemischte Print-(Bd. 3)-Hör-(Bd.1+2)-Ausgabe. – Also es gäbe denn zu spinnen, Garn und Seilschaften. Ich sortiere mich dazu bis in den Juli, und vielleicht schaffen wir ein Telefonat inzwischen –… Hoffnungslos ist es also um ARGO nicht bestellt, aber Hoffnung habe ich ja i m m e r…

10.33 Uhr:
… von wegen Holzsockel bauen… einen >>>> Z a u n ham die errichtet! und man weiß nun nicht, ob zum Schutze des Publikums vor uns oder ob umgekehrt; vielleicht ja auch beides.

Und weil ich grad mal dabeibin, hier noch eine weitere Bemerkung fürs TippArchiv >>>> Herrn Volker Weidermanns: Ich hab wieder einen Smaragden in meinem anderen Ring, dem ebenfalls massiven, der eigentlich auf den D a u m e n gehörte, nicht auf den kleinen Finger… so enorm, wie er ist. (Ich geh jetzt mal meine Füße pflegen. Das ist wichtiger als jedes Feuilleton.)

12.37 Uhr:
[Villa Concordia: Bambergs Fall Lüpertz.]
Lustig wird’s : jetzt war schon die dpa in Der Dschungel, zaunhalber sozusagen. Und wir Verwaltungsobjekte haben was vor für den Sonntag… lassen Sie sich überraschen. Man soll ja nicht alles verraten, gell?

Ah, der kollegialen Fairneß halber: Nach Lektüre des Tagebuches und freudigem Innenausruf über die eigenartige Allianz, die meine Füße so unversehens mit Herrn Weidermann kurzgeschlossen haben, rief der Profi an, der ja von Bildender Kunst was versteht, und teilte mit: „Ja, die Skulpturen von Lüpertz sind scheiße – aber er ist ein sehr guter Maler!“ Sozusagen hat er als Prosadichter einen Lyrikband veröffentlicht und muß sich deshalb nicht wundern, wenn man den aufnimmt wie Gedichte von Grass. Dennoch ist’s ungerecht, das gebe ich zu.

16.25 Uhr:
[RE Saalfeld-Gera.]
Wider Erwarten hab ich nun doch noch eine ganze Seite ARGO geschafft; in der Villa Concordia war >>>> wegen des Zauns an ruhige Arbeit nicht mehr recht zu denken; wir Bayerische Staatsstipendiaten hockten zusammen, amüsierten uns teils, teils planten wir, und da meine Netzpräsenz nun wie eine Standarte ist, die die Ulanen vor sich hertragen lassen (ich trag sie ja auch gerne, schon um Lernet-Holenia zu ehren), war ich gleitend stets involviert und hab flankierend noch die eine und andre Mailkorrespondenz geführt. Der ICE dann war knüppeldickevoll, 2/3 Reisende waren Soldaten; das ist jetzt, nachdem ich in Saalfeld umgestiegen bin, nicht anders. Vor mir sitzt solch ein junger Kriegsheimkehrer, zieht erst den einen Schuh aus, dann den anderen, Sneakers sind es, und putzt sie aus der Tube mit farbloser Schucreme. Hab ich im Zug a u c h noch nicht gesehen. Ich hab übrigens ganz vergessen, wie mein Hotel heißt. Sollte ich’s mir nicht aufgeschrieben haben, muß ich gleich übers Mobilchen ins Netz, um die entsprechende Nachricht zu lesen. Dann stellte ich das hier gleich ein, andernfalls erst abends. (Weil der Zug so voller Menschen ist, sitz ich auf einer Abstellfläche, die irgendwas enthält, und hab den Laptop auf den Knien. Schräg rechts hinter mir in der blauen IKEA-Tasche Ratzfelix’ mit meinem Jackett abgedeckter Käfig, ganz hinter mir mein kleiner Arbeitsrucksack, in den für die zwei kurzen Tage auch die Badezimmersachen und Unterwäsche zum Wechseln paßten. Bin also leichtgepäckig unterwegs. Am wichtigsten sind eh Computer, mein Patou pour homme sowie die Zigarren. Früher nahm ich auch pflichtbewußt immer Kondome mit; doch seit ich mich öffentlich dazu stelle, bei den Dingern ohnedies zu versagen, fällt’s, darauf zu verzichten, sehr leicht. – Ah ja!, erinnern Sie mich doch nachher mal dran, daß mir etwas zu „SM-Normalos“ einfiel; ich hab’s grad vergessen, aber möglicherweise komm ich wieder drauf. Es hatte was mit Fetischen zu tun… so in d e m Sinn: nicht SMler sein, weil man einen Fetisch hat (welchen nun immer), sondern SM-selber sich zum Fetisch machen. Anstatt es normal und unter anderem zu handhaben.) – Pößneck…: ich fahr hier durch ein ganz vergessenes Thüringen; manche Häuser, die man von der Strecke aus sieht, wirken wie DDR ’89. – Ah, d o c h, g e f u n d e n: COURTYARD MARRIOTT, Gutenbergstraße 2 a. Also gedulden Sie sich, ’s kann später werden; es sei denn, die haben da einen Hotspot…

17.56 Uhr:
[Courtcard Marriott, Zimmer 202.]
… haben sie, aber nicht von der T-Com, sondern von GANAG und mit abenteuerlichen Preisen. Also nehm ich eben mein Mobilchen. Und trink aus meinem silbernen Geschenkset (ein Röhrchen für die Zigarre, eines für den Whisky), das mir zum Geburtstag der Profi gab, einen Talisker. Ein schönes Zimmer, wenn auch – gewiß, um mich um mehrere moralische Ausrufezeichen zu bereichern – mit zwei getrennten Betten, die sich nicht aneinanderschieben lassen… ah, Leser, ich sag Ihnen, man denkt an mich! Dafür ist der Schreibtisch breit genug. Aber natürlich war mal wieder der Fernseher an. Warum erfindet man nicht was, diese entsetzlichen Dinger in die Wand einzubauen und mit herabziehbaren Jalousien zu versehen? Wie gut, daß ich meine Box’chen habe für Musik. Und selbstverständlich fehlt ein Aschenbecher. Dafür hatte die charmante Empfangsdame einen wirklich charmanten thüringischen Zungenschlag – also ich m a g das ja unterdessen, >>>> Titaniaseidank. So, ich stell das eben ein, dann geh ich runter und grüße die Truppe.

(Jetzt übrigens doch fast, aber eben nur fast – fünfsechs Zeilen fehlen – auf z w e i Seiten ARGO gekommen.)