Freitag, der 30. Juni 2006. Bamberg – Berlin – Bamberg.

5.03 Uhr:
[Villa Concordia. Händel, Rodrigo, ff. von gestern nacht.]
Mit einem fliegend-flirtenden Mailwechsel, den ich parallel mit Billigflug-Gesuche nach Neapel und Catania führte, den Abend abgeschlossen, mit einem Erschrecken den Morgen begonnen: über den Wecker nur, Leser, es gab keinen anderen Grund. Das mit Neapel ist ein wenig kompliziert, ich hab ja eigentlich nicht das Geld für einen Mietwagen; andererseits erfuhr ich gestern, daß meine Kreditkarte n i c h t gesperrt ist, wovon ich doch felsenfest überzeugt war und was ich auch imgrunde angemessen gefunden hätte. Also k ö n n t e ich verfügen. Ohne solch einen Wagen ist Neapel nicht so sehr handhabbar, wenn man einen kleinen Jungen dabeihat, der nicht so wahnsinnig gern spazierengeht, und mit dem man deshalb von Zeit zu Zeit ans Meer fahren will. Freilich ließe es sich wieder in den >>>> Solfatara-Krater fahren und dort zelten; man kommt auch gut mit dem Bus dahin. Nur was tu i c h da den ganzen Tag? Ich lieg ja so ungern herum. Immerhin sind jetzt die Termine der Mama klar, die ersten zwei Augustwochen wird sie den Jungen haben, in denen kann ich dann frei über mich selbst disponieren. Weiters steht die Einladung nach Meran an. Nehm ich die m i t dem Jungen wahr (statt des Italienausflugs) oder allein (unabhängig von dem Italienausflug)? So surf ich durch meine lustigen Terminzweifel. Neapel böte sich freilich schon deshalb an, weil ich dort Tonaufnahmen für ein Hörstück machen will, das mir im Kopf ist. Meran wiederum bietet sich – neben den Gesprächen mit >>>> June an, weil eine Tochter Ezra Pounds da lebt, die ein offenes Haus führt und gern Auskunft über ihren Großvater gibt, der bei mir schon lange auf der Liste über diejenigen Dichter steht, die mich ästhetisch interessieren und über die ich ebenfalls Hörstücke im Kopf habe. Jan Röhnert erzählte mir von ihr, „ruf sie einfach an oder schreib ihr einen Brief“. Adrian hat aber eigens nach Italien gefragt, eigens nach >>>> Axel Munthes Sphinx. Ich könnte bei Cottino fragen, ob er den Jungen und mich noch einmal zweidrei Tage >>>> in San Michele unterschlüpfen läßt. (Und so gerne führte ich >>>> mein San-Michele-Stück in der Kapelle von San Michele a u f! oder hörte es mir dort einfach gern mal an.)
Um 7.09 Uhr geht der ICE. Der Profi warnte mich gestern übers Mobilchen: „Na wenn du da mal noch einen Platz bekommst! Deutschland gegen Argentinien im Viertelfinale.“ Und ich muß lesen: >>>> Es darf ein sehr spannendes Spiel erwartet werden und im Falle eines Sieges der deutschen Elf muss vermutlich mit schwersten Verkehrsbehinderungen in den deutschen Städten gerechnet werden! Die Gegner des Fußballs sollten in diesem Falle ihre Fenster verschließen, wenn der 12. Mann singt: „Berlin! Berlin! Wir fahren nach Berlin!“ Das wird ’ne heitre Bambergfahrt, fürcht’ ich (der Zug geht um 18.52 ab Berlin Hbf); andererseits, da das Spiel erst um 17 Uhr beginnt, könnten wir gerade so durch das Chaos hindurchwutschen. Wird was von schneller Heimflucht haben…
(Ich überlege auch, ob ich Catania als Reiseziel wähle und dem Jungen den Ätna zeige, vielleicht auch zum >>>> Stromboli fahre. Dort darf man aber nicht campen, und sowieso ist der Aufstieg auf den – tätigen – Vulkan für den Sechsjährigen noch zu heikel. Zimmer wiederum sind mir dort zu teuer, ach, was für Probleme…)

7.15 Uhr:
[ICE Bamberg-Berlin.]
Und prompt geht’s schon los: Ein Pulk gröhlender und „Deutschland! Deutschand!“ skandierender Jugendlicher, die schon Bier trinken, füllen das Abteil. Das kann eine heitere Fahrt werden; wenn sie anfangen loszubrüllen, ist zu arbeiten eigentlich nicht möglich. Jedenfalls ist’s genau das, was ich an Fußball immer abscheulich fand, es geht ja gar nicht ums Spiel, dagegen hab ich nichts, es geht um den Mob, der mir widerwärtig ist, der brutal ist, der primitiv ist und sich jetzt auch noch deutschnational zusammenrotten darf – unterstützt von einem bejubelten „positiven Patriotismus“ der kapitalistischen Konservativen. Zum Kotzen. Ich hoffe inständig, daß die deutsche Mannschaft heute verliert, nicht ihretwegen, nicht aus sportlicher Unfairness, sondern damit dieser Ungeist der Fahnenschwenkerei endlich aufhört, damit das jegliches Feingefühl entgeisternde Gröhlen endlich aufhört, damit die Nationalität eins auf den Deckel kriegt.
Versucht der eine Bursche doch eben, Kontakt aufzunehmen und duzt mich auch noch. Ich, zugleich kalt wie heftig: „Laß mich in Ruhe, Junge. Ich bin hier, um zu arbeiten.“ Seitdem ist es etwas ruhiger geworden, aber die Stimmung unterschwellig aggressiv. Ich berichte in Echtzeit, ob’s noch zu einer Schlägerei kommt.

u>8.46 Uhr:
[ICE Bamberg-Berlin. Nunmehr Jena Paradies.]
Die Typen gröhlen und rülpsen krachend, ja fett durch den Waggon. „Ich könnt euch alle als gefickt betrachten, ihr verdammten Argentinier!“ Aber es gibt nicht nur von mir, sondern auch von anderen Reisenden einen stummen Widerstand. Das läßt die Gröhler immer wieder mal ruhig werden. Aber schon brüllen sie unvermittelt auf. „Wo sind hier die Deutschlandfans?“ Und wieder skandieren sie. Wir schweigen. „Ihr seid ja alle Argentinier, ihr Wichser!“ Schweigen. Ich tippe, neben mir liest eine junge Frau in Unterlagen zu klinischer Psychologie, dreivier weitere gibt es, die spürbar an sich halten. Man weiß: ein falsches Wort, und die Klopperei ist im Gang. Ich versuche, mich auf ARGO zu konzentrieren. Die Argonauten durchziehen die kahle Welt der landschaftgewordenen reinen Mathematik. Ein Fußballplebs zum anderen: „Warst du beim Bund?“ Der: „Nein.“ Der erste wieder: „Dann liebst du nicht dein Land.“ (Noch haben wir Glück, noch steigen keine weiteren Fußballfans zu. Das wird erst in Leipzig heftig werden.)

9.43 Uhr:
[ICE Bamberg-Berlin. Nunmehr Leipzig.]
Dagegen ein intellektuell wirkender Argentinier zum Schaffner eben: „We are going to lose, but that’s okay.“ „Okay?“ „Yes, okay.“
Leipzig-Halt. Mal sehn, was nun passiert. Die Gröhler sind in Naumburg hinaus, um weitere Hoolifans zu treffen.

Fans, viele. Aber sie wirken zivilisiert. (Nur weshalb hat Fußball immer so viel – und schon vormittags – mit Flaschenbier zu tun?)

11.52 Uhr:
[Berlin Arbeitswohnung. Verdi, Otello.[
Eigentlich bin ich nur hierhergefahren, an meinen heimatlichen Arbeitsplatz, um einen etwas dickeren Übergangsanzug gegen einen leichteren schwarzen zu tauschen, aber dann komm ich rein in meinen Raum, sehe die wundervollen ProAc-Boxen, und mich kommt eine unbändige Lust an, wieder einmal mit K l a n g Musik zu hören. Ich entscheide mich für eine Schallplatte, etwas, das in Bamberg nun gar nicht geht, für diesen satten und durchgeistigten Linn-Klang. Und für Otello in der hinreißenden Karajan-Aufnahme mit Vickers Freni Glossop. Auch an meinen Schreibtisch will ich mich setzen, ich sitze, lausche… „un bacio!“ „ancora un bacio…“ bittend, weinend schon – Verdis Spätwerk gehört zum Höchsten Tiefsten überhaupt. So tipp ich, werde allerdings diese TB-Ergänzung erst in der Kinderwohnung einstellen, da ich mein Mobilfunk-Internet-Salär nicht unnötig strapazieren will. Hier gibt’s ja derzeit keinen anderen Anschluß.
Die weitere Fahrt verlief, obwohl s e h r gefüllt, im großen und ganzen ruhig. Zwar saßen noch ein paar dazwischen, die immer wieder beklagten, hier wolle wohl keiner Stimmung machen (wollten auch nur wenige), und drei Argentiniern sangen sie höhnend hinterher „Ihr könnt heut a’md nachhause fahren“, aber das wurde von der eher angespannt-ruhigen Atmosphäre ziemlich abgewürgt. Noch ist nicht genug Bier und Schnaps geflossen, das wird dann am Abend anders sein – wenn überhaupt. Wieder mein Eindruck dieser wohltuenden Weitläufigkeit Berlins. Zwar wird im Hauptbahnhof hier und da rumgetrötet, aber auch das verläuft sich eigentlich, und auf dem Prenzlauer Berg ist von Fußballwahn überhaupt nichts zu spüren. Nur daß einem immer mal wieder Leute entgegenkommen, denen Deutschlandfahnen auf die Wangen gemalt sind. Da hierzustadts ohnedies einiges Ganzkörperpiercing vertreten ist, fällt auch das nicht sehr auf. Insgesamt hab ich den Eindruck einer Love Parade für die Unterschicht.
Aber eine Vision widerfuhr mir, als ich die Ahlbecker zur Duncker langging. Ich fasse sie in eine >>>> Art Geschichte. Ein bißchen erschreckt hat mich das schon, das gebe ich zu. Ich sah es so wirklich. Tatsächlich jedoch, als ich vorbeiwar und der Wagen hinter mir startete und mich dann überholte, war er zwar weiß, aber transportierte nicht Kranke, sondern Lieferungen für Farbbedarf. Ob mich das allerdings beruhigen darf?
Und ich bekam eine Antwort auf eine Frage, doch weiß nun nicht, auf was sich dieses schlichte „Ok“ bezieht, ob auf ja, ob auf nein, oder ob es besagt: ich entscheide mich bis zum genannten Tag. Ich konnte nicht nachfragen, denn es war, als wäre mir ein winziger atmender Vogelkörper in die Hand gefallen, den jedes bißchen Druck zerbricht.

Leser, ich bleib jetzt hier, bis diese Oper zuende ist; bleibe halbgeschlossener Augen und nur bisweilen mal dieses richtend, mal jenes, an meinem Schreibtisch sitzen. So viel Zeit ist. Auch für einen süßen, schweren Espresso aus meiner Pavoni.

Ah! Mein IntelProSet sagt, hier gebe es ein offenes unverschlüsseltes Netz im Haus! Kann ich also d o c h sofort alles einstellen.

20.07 Uhr:
[ICE Berlin-Bamberg.]
Also 4:2 für Deutschland gegen Argentinien, wie ich gerade hörte. Nun geht auch in diesem nahezu leeren Zug im Bord Bistrot die Feierei los, vor allem im Raucherwaggon wird gegröhlt. Und eben ziehen Jugendliche mit Fahnen am Kinderabteil vorbei, fahnenschwenkend und singend: „So sehen Sieger aus, tralalalala!“ (Zitat). Und hämisch wird noch hinterherskandiert: „Ar-gen-ti-nien, al-les ist vorbei!“ Ich war gerade soweit, mich mit der Sache ausgesöhnt zu haben, weil alles derart diszipliniert abzugehen schien; jetzt find ich sie wieder widerlich. Im übrigen klingen diese Art Lieder verdammt nach Soldatenliedern, nach Krieg und Hohnesgegeifer. Egal. Ich muß zu solchen Deutschen ja nun nicht dazugehören.

Mein Junge schläft, das ist ganz erstaunlich. Ich las ihm aus einem neuen Buch vor, für später habe ich einen Film ausgeliehen, aber dazu wird es nun nicht mehr kommen. Während des Vorlesens schon, legte es sich zur Seite. Ein so gut wie immer untrügliches Zeichen. Ich konnte zusehen, wie immer „halbmastiger“ seine Augen wurden, schließlich waren sie völlig entflaggt.
Er hatte ein Fußballtrikot dabei, als ich ihn von der Schule abholte und zur Musikschule brachte. Ganz verschmitzt lächelte er mich an und sagte: „Ein italienisches Trikot, Papa.“ Da war ich mal wieder momentlang baff. ‚Symbolisches Denken’, dachte ich, ‚zumindest symbolisches Fühlen’. Wie klug! Ob nun vor der, die es ihm kaufte, oder von ihm selbst. „Ich hatte mir das gewünscht“, sagte er
Dann gab es in der Musikschule etwas, das mich dennoch auf die Palme brachte. Wir kommen also kurz um vor vier an der Leo-Spieß-Schule an, da grüßt mich ein anderer Vater und sagt: „Heut geht der Unterricht nur bis halb fünf.“ Ich: „Ja aber wieso d a s denn?“ Er kriegt das Staunen nicht aus dem Gesicht. „Na wegen der WM!“ Ich: „Das darf ja wohl nicht wahr sein!“ – und renne, gefolgt von meinem Jungen, die Treppen hoch, schnappe die Musiklehrerin und sage: „Ist das wahr, daß Sie…?!“ Es w a r wahr, sie lächelt entschuldigend. „Ich find es ja auch nicht okay, aber die Eltern sind letzte Woche gekommen und haben gesagt, sie könnten ihre Kinder sonst nicht bringen.“ „Ach, interessant. Und wenn die Salzburger Festspiele eröffnet werden, wenn Bayreuth eröffnet wird, wenn Internationale Buchmesse ist, wenn die Berlinale stattfindet, dann lassen Sie den Unterricht n i c h t ausfallen? Weil da n i c h t Deutschlandlieder gegröhlt werden, oder warum?“ Ich gerate in Fahrt, bleibe indes sachlich. Die dabeistehenden Eltern schweigen. „Wissen Sie“, sage ich, „es ist Sache der Eltern, welche Werte sie ihren Kindern vermitteln wollen, aber nicht alle Eltern haben die gleichen. Meine sind etwa völlig anders.“ So finden wir denn einen Kompromiß: Die Eltern, die das Spiel sehen wollen und niemanden haben, um ihr Kind planmäßig abholen zu lassen, dürfen es nach einer Stunde aus dem Unterricht nehmen; für alle anderen Kinder wird der Unterricht regulär durchgeführt. Befriedigt ziehe ich für die Stunde ab. Auf der Treppe spricht mich eine Mutter an. „Danke“, sagt sie. Auch später ist das Ergebnis deutlich: etwa die Hälfte der Kinder wurde früher herausgenommen, die andere Hälfte blieb.

21.34 Uhr:
[ICE Berlin-Bamberg; vor Saalfeld.]
Da erreicht mich eine SMS, die mich vor Glück die ganze Zeit aufwallen läßt; zugleich unterdrücke ich’s, man merkt’s mir allenfalls an meinem Lächeln an. Sehen Sie es mir bitte nach: Ich schreib Ihnen nicht, worum es geht. Immer wieder durchziehen mich, wie ein inverser Schüttelfrost ist das, innenzuckende Wärmewellen. Ich b e r g e den winzigen Vogel, hülle ihn auch mit der anderen Hand, so daß er angstfrei schläft. Und vor mir schläft mein Kind auf den Sitzen.
(Langsam, Satz für Satz, kämpf ich mich durch die ARGO-Seiten).