6.29 Uhr:
[Berlin Kinderwohnung, Küchentisch.]
Bis nach halb zwei Uhr nachts mit dem Profi mal wieder in der >>>> Lützowbar gesessen, für deren Inhaber 103 Künstler und ich ein Cocktailbuch gestaltet haben – langjährige Leser wissen das, aber für neue darf sogar mal einer wie ich redundant sein -, so daß man, ist man denn dort, sein Freigetränk nimmt. Da gesessen, den sich jung dünkenden Schönen der Stadt bei einem verspäteten After-Dinnern zugeschaut und über die Elegien gesprochen. Und über dieses nationale >>>> Moralskandälchen wegen Günter Grass. „Nicht erträglich ist das“, sagt auch der Profi. „Allein schon Karaseks Forderung, Grass müsse nun sei Nobelpreisgeld stiften… wie dumm das ist!“ Ich hätte mal geschrieben, konterte ich, es gebe jemanden, der schwitze sogar aus dem Mund. Woraufhin der Profi mit einer weiteren Anekdote aufwartet, so daß ich beschließe – heimradelnd durchs Berliner Nächtle -, für Die Dschungel eine Liste mit dummen Menschen zu kreieren. Rein aus Mitleid, denn man kann ja nur hoffen, daß es n i c h t – wie leider wahrscheinlich – verbretterte ideologische Miesheit ist, was zur Zeit über Grass hereinbricht, oder einfach nur Neid. „Jedenfalls werden alte Rechnungen“, sagte der Profi, „beglichen. Persönliche, politische…“ „…und literaturbetriebliche“, ergänzte ich, „wobei das Perverse daran ist, daß all dies auf den Rücken der Opfer geschieht, die man Grass ungesagt mit zum Vorwurf macht. Ausgerechnet diejenigen, die immer fordern, und mit Recht, man dürfe aus den Opfern der Schreckensherrschaft keinen Gewinn ziehen, ziehen ihn nun für sich selbst – als Sittenrichter über Kinder – ganz mächtig und dünken ihre Fiesheit auch noch moralisch.“ G a n z absurd wird die Angelegenheit allerdings dadurch, daß nun >>>> das Simon-Wiesenthal-Archiv Inquisitionen im „Fall Grass“ aufnehmen will. Mein Vorschlag wäre, daß das Archiv das bei j e d e m damals eingezogenen Vorfahren derer und ggbf. auch ihnen selbst tut, die derzeit so laut ihre Stimme erheben, bzw. um das mal christlich zu sagen: massenhaft erste Steine werfen, um die Vettel totzukriegen. (Gutböses Bild, übrigens: welche „Ehe“ hat Grass wohl gebrochen?)
Das mit dieser Liste dummer Menschen hab ich, Leser, heute früh allerdings wieder aufgegeben. Sie würde selbst fürs Netz zu lang; jedenfalls die rund 245 MB sprengen, die Der Dschungel derzeit noch bleiben. Und zwar auch dann, wenn die Liste sich ausschließlich mit dem Literaturbetrieb beschäftigte. Wobei hier die gleiche Hoffnung trägt wie im Falle Grass’. Doch Sie haben ganz recht, weit ist es mit meiner Hoffnung nicht her, schon deshalb, weil ich nachher mit der Steuer weitermachen muß und deshalb wieder nicht zu vernünftiger Arbeit kommen werde. Im übrigen werd ich fürs Wochenende n i c h t nach Bamberg fahren; Regen und Gewitter sind angesagt dort, da wäre der Aufenthalt in dem kleinen Studio für meinen Jungen wenig ersprießlich. So fahr ich nun gleich montagsfrüh. Dann wird die Bamberger Feldflasche, die ich seelisch bei mir tragen, um an den Elegien zu schreiben, für die Achte gerade rechtzeitig nachgefüllt werden können.
Ah ja, noch eines wegen Grass. >>>> D i e s e s hier ließ den Profi gestern nacht noch die Bemerkung machen, „Hast du ein Glück, daß du nicht Rissentrop heißt!“ So daß ich mir bei der gegenwärtigen Lage vielleicht ein wenig Sorgen darüber machen muß, ob mir meine Äußerungen zu Grass nicht vielleicht als heimliches Sympathisantentum mit dem Hitlerfaschismus ausgelegt werden könnten. Ich meine, zur Sippenhaft hat die Linke eh schon immer tendiert, in meinem Fall gab’s da ja richtig Konkretes, ohne das ich immerhin heute gar nicht hieße als Künstler (heißen mußte), wie ich als solcher heiße. Möglicherweise wiederaufersteht die moralische Vererbungslehre, eine Art schuldperpetuierende Sozialgenetik. Sollte ich da nicht in Tat und Gedanke besser vorsichtig sein?
13.15 Uhr:
Der Junge ist leicht krank, hat schmerzhaft gehustet über Nacht, so blieb er nun daheim, kam zu mir. Also war mit der Steuer nicht viel, und auch an die Elegie bin ich bislang nicht gekommen, hab bloß >>> etwas herumpolemisiert. Bei mir geht’ s auch mit leichtem Fieber los. Deshalb jetzt gleich ein Erkältungsbad, Sohn & Papa, und Mittagsschlaf gehalten. Immerhin haben wir beide >>>> Carom gespielt, der Bursche ist erstaunlich gut mit seinen sechs Jahren, als hätte sich auch die indische Spielfähigkeit von der Mama weitervererbt.
(Und ich trug müde vor mich hin Ein- und Ausnahmen aus den Kontoauszügen in eine Rechenliste ein).