Arbeitsjournal. Freitag, der 22. September 2006. Berlin. Frankfurt am Main.

5.31 Uhr:
Tief geschlafen und aufgewacht mit dem Gedanken, was es denn bedeute, wenn wir einem Ausdruck von Leid eine schöne Form geben, etwa in Gedichten. Daß auch hier diese speziell menschliche, perverse Bewegung wirkt, diese „Herumdrehung“ von Elend in Genuß – Kartharsis, wenn man’s mit den Alten, bzw. religiös betrachtet -, ein Verarbeitungsmodus, der Transzendenz ausstrahlt: Was Menschen hier schaffen, betrifft nämlich nicht mehr je nur sie selbst, es ist k e i n e Selbsttherapie, sondern im Schönen, wenn es denn – etwa in Kunst – aus dem Leid geschaffen w i r d, überträgt sich die kathartische Kraft auf andere und wird so allgemein heilbar. – Das dachte ich, als ich erwachte. Pardon, komisch, ich weiß; eigentlich sollte ich das als Paralipomenon ausformulieren, will’s aber erst mal so roh l a s s e n, auch um eine Erinnerungsstütze >>>> für heute abend zu haben. Es könnte mithin sein, daß Kunst sich in die Wirkung des Schönen gleichsam einklinkt, also in den körperlichen Reproduktionsdrang der speziell menschlichen Art und daß genau hier diese Nähe zum Eros legt, die der Kunst fast immer eignet. Wenn man den sich auf diese Weise zum ‚ArtCharacter’ verallgemeinernden Verarbeitungmodus s o betrachtet, wird auch deutlich, weshalb sich etwas, das schön bereits i s t , also Glück zum Beispiel, zur Herstellung von Schönheit eigentlich nicht mehr eignet, sondern daß es das Leid sein m u ß. Das ohnehin Schöne nochmals schön zu machen, führt dann deshalb zum Kitsch, weil sich etwas wirklich Schönes tatsächlich nicht mehr überhöhen l ä ß t: jede Darstellung wäre geringer (weil eben nicht-anders) als das vorgängige Schöne selbst. Darum kann eigentlich aus dem Glück gar keine Kunst mehr entstehen – es sei denn, es würde die gegenteilige Bewegung eingeschlagen und das Glück reduziert – vermittels ironischer Formung, deren Ziel tatsächlich ist, das Glück zu verkleinern, es zu profanieren (möglicherweise um eine gehabte schlechte Erfahrung mit dem Glück – daß es zum Beispiel nicht h ä l t, keine Dauer hat und man neuerlicher Ent-Täuschung vorbeugen will – auf dieses jetzt neue Glück präventiv zu übertragen).
Wenn ich dran weiterdenke, wird ebenfalls klar – mir kommt grade >>>> dieser irre und lange Sonnenuntergang in Hall/Tirol in die Erinnerung -, weshalb, auf Kunst bezogen, die Idee der Mimesis eigentlich nicht trägt, jedenfalls nicht, wenn man sie direkt anwenden will. Der Sonnenuntergang wird automatisch zu Kitsch, wenn ich ihn darstelle, abmale, abfotografiere usw., denn er ist ja bereits für sich schön; er wird d e s h a l b im Kunstausdruck geringer und fällt dann in der Warengesellschaft zum funktionalen Artikel ab. Es sei denn, man gibt ihm, wie zum Beispiel in expressionistischer, kubistischer und ähnlich verstellender Malerei einen Aspekt des Häßlichen bei, der ganz genau so ‚perverse Bewegung’ ist. Doch wie ist das beim Körper? >>>> Menninghaus, der darin Darwin folgt, nennt die signifikante Haarlosigkeit des schönen menschlichen Körpers bereits Ornament selbst. Haarlosigkeit sei dasjenige Element, das das spezielle Geringe, das den menschlichen Körper von den allernahsten Verwandten, den Affen, trenne, deutlichst auspräge und gleichsam zur Folie all dessen werde, was unsere Art differenziere: nicht Schrift ist der Körper dann (insofern täuscht „wir sind ein Text“), sondern der Träger dieser Schrift. Verfolge ich den Gedanken weiter, wird die gebliebene Behaarung derjenigen Stellen besonders am weiblichen Körper, die den direktesten Konnex zur – animalischen – Organik und damit zum zugrundeliegenden Naturzusammenhang beibehalten, kulturell zum Skandal: weil Schambehaarung, ‚liest’ man sie symbolisch, die gewollte Differenz wieder aufhebt und offenbart, daß es so weit mit der Kultur, also dem uns Eigenen, ja nun nicht s e i. Denaturierung – in der zumindest westlichen Welt mit dem Weg in ein zweiwertiges, funktionales, bzw. biblisch gesprochen, ein Verständnis der uns ‚untertanen’ Welt verbunden – m u ß t e darum schließlich das Schamhaar rasieren, wo immer primäre Geschlechtsorgane in die Abbildung kommen. Bei der Abbildung menschlicher, mit Darwin/Menninghaus notwendigerweise nackter, speziell der weiblichen Schönheit ist darum auch schon in der Antike die Möse unbehaart; bei männlicher, meist homoerotischer (das ist – für die Antike -: ebenfalls denaturierter, nämlich sich vom Naturzusammenhang emanzipierender) Schönheit tritt das Schamhaar interessanterweise zumindest zurück und bekommt etwas Löckchenhaftes, das das Natürliche ebenfalls kleiner macht, es geradezu ornamentalisiert, wenn nicht sogar ‚verputtet’. Denken Sie an die David-Figuren. Ich weiß, das klingt abenteuerlich, aber man kann mit einem lockeren AnalogieDenken den modernen (monotheistischen) Entkörperungsprozeß, den gegenwärtigen Sieg des Kapitalismus und die Kulturentwicklung in den „Marmos von Paros, sans plume et sans duvet (D’Annunzio*), möglicherweise parallelisieren. Übrigens wird es d o r t anders, wo Kunst bewußt auf den Naturzusammenhang wieder hinweist und entweder etwas extrem Phallisches hat oder aber, wo sie mit Camille Paglia eingedenk ist, daß Geburt aus der Vermischung entsteht, aus dem Schlammhaften, Dunklen, ja Blutigen. A l s Kunst aber führt das dann abermals zur Perversion: es kommt eine Ästhetik des Häßlichen (aus der Perspektive des Reinheitsdenkens betrachtet) zum Tragen, die ihrerseits transzendiert und meist rituale Charaktere ausbildet (>>>> Hermann Nitzsch, Otto Mühl).

[Poetologie.]

(*) Die Stelle ist übrigens himmlisch, >>>> Il piacere, 1889: „Nun, Giulia Moceto ist eine wunderschöne Blondine, aber wenn du, was ich dir wünsche, das Glück hättest, le drap de la blonde qui dort zu heben, würdest du gewiß nicht das Goldene Vlies finden wie bei Philippe de Bourgogne. Sie ist, wie man sagt, sans plume et sans duvet, wie der Marmor von Paros.“)

Daran will ich weiterdenken. Ich schreibe Ihnen hier nur meinen morgendlichen Assoziationsfluß nieder, bevor ich mich wieder an meine Lektüre begebe. Ich hab den Vormittag, dann hol ich meinen Jungen von der Schule ab und setz mich mit ihm in den ICE nach Franfurtmain.
Ach ja, zu dem eben erwähnten Sonnenaufgang noch einmal. Kulturtypisch war >>>> Robert Schindels Äußerung zu ihm: „Das beeindruckt mich gar nicht! Das ist ja nur Natur.“ Unabhängig von der (sicherlich: säkularisiert-) monotheistischen Implikation dieser Äußerung ist sie für den versteckenden Character der Kunstbewegung typisch, die doch zugleich d u r c h dieses Verstecken Natur weiterwirken läßt, untergründig, geheim; sie wirkt, aber man hat sein gutes autonomes Bewußtsein, es geschehe, was geschieht, durch einen selbst; man habe es als emanzipierter, der Natur übertaner Mensch in der Hand.

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