Arbeitsjournal. Montag, der 25. September 2006. Berlin. Bamberg.

5.27 Uhr:
[Berlin Kinderwohnung.]
Hab grad mal drei Stunden geschlafen; manchmal fällt es sehr schwer, das Tagebuch nicht mehr zu schreiben, es kostet fast Disziplin: allein formulieren zu können, was in mir umging, war sehr entlastend; es schuf die Distanz zum geschriebenen, auch schön geschriebenen Wort, das sich zugleich mit imaginären Vertrauten diskutierte. Innere Vorgänge darzustellen, hat etwas von einer Objektivierung, die es erlaubt, über sie und das eigene Verhältnis zu ihr nachzudenken, auch das Allgemeine an ihnen zu bemerken und deshalb in die rechten Verhältnisse rücken zu können. Aber ich darf nicht mehr und ich w i l l dieses ‚nicht dürfen’. Sonst hätte ich jetzt vieles zu besprechen. Sonst wär der mir eigene Verarbeitungsmodus jetzt unter künstlerischem Hochdruck. So ist etwas von mir gefordert, was ich o h n e diese Verarbeitung und auch mit ihr kaum je besaß: Geduld, und zwar eine, die bis nahe an die Versagung reicht – nein, sie nicht akzeptiert, aber sie doch für einige lange Zeit aushalten muß. Vielleicht entbindet sich die Kraft, die das kostet, in die Dichtung, mag sein. Mir wäre deshalb nach direkter Fortsetzung der Elegien, aber auch das ist derzeit als Ventil nicht geöffnet. Freilich sind Versagung und Selbst-Versagung furchtbare Parameter ganz besonders in Allan Petterssons Werk, und es mag aus der Perspektive sowohl künstlerischer Nähe als auch objektiver Perspektive für die PETTERSSON-Arbeit vonnutzen sein, daß ich mich zumindest seelisch-metaphorisch aufgefordert sehe (es ist notwendig), gegenüber schwierigen Zeitumständen Haltung zu zeigen, ja sie aus mir zu entwickeln, zu formen, hochzustemmen. Anders als bei ihm sind bei mir zwischendurch immer wieder Hoffnung und Glück gegenwärtig, Berührungen, Blicke, mein Sohn sowieso. Das ist ein deutlicher Vorteil gegenüber einer unabwendbaren körperlichen Erkrankung, daß man etwas t u n kann, und sei es eben nur: Geduld zu haben und die Geschehen vorsichtig zu wenden. Ich habe eben k e i n e Polyarthritis und werde n i c h t unabwendbar körperlich verkrüppelt, sondern habe die Möglichkeit, mich zu entscheiden. Mein Wille ist enorm im Spiel. Und ich weiß ja, was ich will.
Um 6.15 Uhr breche ich hier auf, um den Früh-ICE nach Bamberg zu bekommen. Das ist jetzt (5.44 Uhr) in einer halben Stunde. Vorher ist Ratzfelix aus dem großen Käfig umzupacken und mein Zeug zusammenzusuchen. Ist nicht vieles. Welch einen Vorteil es hat, sein Gesamtwerk in einem Laptop und auf einem USB-Stick sogar die Sicherungskopie immer bei sich haben zu können!

7.13 Uhr:
[ICE Berlin-Bamberg.]
Übermüdet sitz ich jetzt im Zug, fast eine halbe Stunde lang mit dem SMS-Programm kämpfend, immerhin siegreich. Aber bin fahrig, dekonzentriert. Werd versuchen, Pettersson zu hören, um wieder hineinzufinden. Hab grad so einen Anfall von Lebens-Müdigkeit, was etwas anderes ist, als wenn man lebensmüd wär; das ist es grad n i c h t, sondern ich möchte einmal nicht immer nur kämpfen müssen, sondern einfach: daß es mal g u t ist. Aber ich werde es nicht schlecht gutsein lassen, weder privat noch in meinem Beruf. Ich werde auf keinen Fall resignieren. Dennoch ist da grad diese Müdigkeit.
Übrigens, à propos PETTERSSON: Man muß aufpassen, daß man nicht verschiebt, also einem inneren Konflikt äußere Konflikte unterschiebt, als ließe sich jener ersatzhalber an diesen lösen. Das wäre nämlich, letztlich, eine Wiederholung derselben Dynamik, die dem schwedischen Komponisten so oft zum Vorwurf gemacht wurde und wird. Genau deshalb muß das Hörstück mit so wenig biografischen Daten wie möglich arbeiten, bzw. wären Petterssons spezifischen Leiden die spezifischen Leiden anderer Protagonisten zur Seite zu stellen – chorisch w i e je individuell. Denk ich grade.

[Pettersson, Drittes Streicherkonzert.]

8.06 Uhr:
[ICE kurz vor Leipzig.]
Hab gerade den Einfall, die alte Erzählung „Ein Ton“ in den PETTERSSON einzubauen und sozusagen szenisch zu dramatisieren. Mal sehen. Eventuell stelle ich sie Ihnen nachher hier oder auf der Hauptseite Der Dschungel noch ein.

… und welche Trostkraft diese Musik hat!

9.09 Uhr:
[ICE-Halt Jena. Pettersson, Zweites Violinkonzert.]
Jedenfalls steht jetzt, m i t dem Einfall, die >>>> Struktur. Damit kommt dem Libera me die entscheidende Funktion zu, die ihm zu geben ich gar nicht vorgehabt habe; jetzt ist es der Abschluß ohne weiteres Zwischenspiel und wohl auch ohne einmontierte „Fremd“partikel. Gerade denke ich, ich sollte es zurück an den Strand von Palolem führen, und aus den akustischen Wahrnehmungen des ersten Protagonisten (der dort, von der See herkommend, zum ersten Mal die Sinfonie hört) sollte sich der lyrische Text formen und schließlich allein stehen, übergehend ins Rauschen der Brandung, die dann ganz allein stehenbleibt, ohne Musik, ein reiner, sehr allmählich verklingender O-Ton. Vielleicht laß ich auch den Text nur noch murmeln und stelle eine Klangmischung aus Sprache und Meer her. Mit einem morendo über den letzten Versen. Manchmal noch das Anreißen eines Zündholzes oder Klacken eines Feuerzeuges oder das mir eigene, ja typische, auf fast jeder meiner O-Ton-Aufnahmen vernehmliche Naseschniefen.

10.33 Uhr:
[ICE vor Lichtenfels.]
Das Libera me als großes Gedicht gestalten, in das das Wortmaterial des liturgischen Libera me komplett eingeht, aber irdisch gewendet wird. Ich hab grad den Einfall, das Gedicht von einem Kind sprechen zu lassen. Mein armer Redakteur! Aber es wäre der größte Ausdruck von Hoffnung auf Zukunft, der sich denken läßt.
Jedenfalls habe ich die Fahrt komplett durchgearbeitet; dieser transitorische Zustand des Reisens ist extrem konzentrationsfördernd, wieder einmal. Aber ich muß gleich zusammenpacken, in achtzehn Minuten kommen wir an.

15.07 Uhr:
[Villa Concordia Bamberg.]
Über Mittag sehr tief geschlafen, vor allem, weil noch ein schönes Telefonat mit der Frau kam. Weniger schön, wenngleich terminlich entlastend, ist, daß >>>> das Seminar ausfällt. Es gab zu wenig Anmeldungen, eine Erfahrung, die ich bereits im letzten Jahr mit der Wolfenbütteler Bundesakademie machen mußte. Ganz offensichtlich bietet meine Poetik keine populären Anreize, was mich eigentlich nicht wundern sollte; außerdem lockt das spezielle Thema nicht. Es scheint ein Riß durch die Leserschaften zu gehen. Die traditionellen Leser stehen dem Internet nach wie vor skeptisch gegenüber; zumindest ist ihnen die ästhetische Valenz nicht klar, die in diesem Medium zuhanden ist – ich kenne das aus zahlreichen Gesprächen, daß das Netz zwar gern „als Instrument“ genutzt wird, aber daß man es nicht eigentlich für literatur- bzw. kunstfähig hält. Will jemand – wie nun ich zweimal vorhatte – etwas anderes darstellen (und auch den Beweis dafür antreten), geht niemand hin. Und die andere, die Netz-Leserschaft, sagt sich: Was solln wir uns etwas über etwas erzählen lassen, das wir selbst seit langem betreiben?
Immerhin, es gibt ein Ausfallhonorar, so daß der Fall nicht ganz so heftig ist. Und fürs Frühjahr wird ein neues Seminar angesetzt mit anderem Inhalt und Titel. So wird die Honorar-Einnahme eigentlich nur verschoben; bzw. wird das Honorar letztlich höher. Allerdings werde ich das neue Seminar dann teilinhaltlich mit Netz-Überlegungen füllen; eine Grundlage dafür könnte >>>> „Die Anthropologische Kehre“ sein.

2 thoughts on “Arbeitsjournal. Montag, der 25. September 2006. Berlin. Bamberg.

  1. Sehr geehrter Hr. Herbst! Ich hab schon mehrmals eine Mail an die gmx-Adresse zurückbekommen. Daher dieser ungewöhnlichhe Weg. Sie können ja gleich alles löschen. Da die Einspeisung meiner Kunstsinnig Texte von der Redaktion aus nicht so funktioniert, wie ich es mir vorgestellt hatte, möchte ich es nun selbst tun, ohne Ahnung von der Technik zu haben. 1. welche Mindestandforderungen muß das Nootebook haben; 2. mit welchem Handy haben Sie die besten Erfahrungen gemacht.Mein Handybetreiber hier ist One bzw. yess, wenn das von Bedeutung ist. Beste Grüße aus Wien und vielen Dank! Ihre Claudia Aigner!

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