6.48 Uhr:
[Berlin.]
Gedichte träumen, nein: e i n e s geträumt haben. Ich seh’s es vor mir: acht Zeilen, über die ganze DIN-A4-Seite verteilt. Jedes Wort von Mehrfachbedeutung leuchtend. Aber keine krieg ich jetzt mehr zusammen, so wenig wie die Wörter selbst. Was wiederum nicht s o schade ist, da ich mir schon während des Traumes uneins war, ob das Gedicht etwas taugt.
Dann die seltsame Anmutung, die jetzt dauernd an mich herangetragen wird, ich dürfe nun, da alles so anders geworden sei, bestimmte Dinge nicht mehr schreiben, etwa >>>> DLZI, sondern ich müsse solche ‚unmoralischen’ Projekte beiseitetun. Als wäre, daß jemand nun wieder angekommen sei, Grund oder gar Berechtigung, an Schärfe der Erfahrung zu verlieren, ja als wäre ganz selbstverständlicherweise die liebende Paarbeziehung und schon gar eine Familie eine notwendige und hinreichende Vorform von Korruption. Das geht dann so: „Du hast jetzt Verantwortung, und du mußt Rücksicht nehmen. Wenn du dem entsprechen willst, dann d a r f s t du bestimmte Sachverhalte gar nicht mehr angehen, ja nicht mal mehr ins Auge fassen. Dann ist es deine Schuldigkeit, wegzusehen.“ – Daß ich diesen und ähnlichen Anmutungen den Stinkefinger zeige, muß ich Ihnen, Leser, hoffentlich nicht sagen.
Nach langer Zeit, gestern, ich war schon fast im Aufbruch, sah ich Ilija Trojanow wieder; wir fielen uns in den Arm, sofort ging es mit dem Erzählen los. Aber arg viel Zeit war nicht, ihn jagten die Interviews, während ich hinter Kinderbüchern für meinen Jungen herwar. Bei Hanser schließlich ein ziemlich einverständiges Plaudern mit Felicitas Hoppe, was man – alles immer in Sachen Betriebskorruption – von diesem und von jenem zu halten habe und wie man wieder einmal von (Er)Schrecken überrascht worden sei. Ich zitiere in diesen Zusammenhängen immer gerne Karl Kraus: Wie Klein-Fritzchen sich vorstellt, daß Politik gemacht werde, so wird sie gemacht.Hoppe hat es jedenfalls gut, denn scheint einen Grad an Verachtung erreicht zu habe, der sich nicht einmal mehr als Ekel bemerkbar macht. So weit bin ich leider noch nicht.Jetzt also an die Arbeit, wobei wieder der Junge zu betreuen ist, so daß es mit der Konzentration nicht leichtfallen wird – zumal ich’s nun endlich angegangen bin, nicht mehr zu rauchen und es gerade mit dem ersten ernstlich protestierenden Suchtanfall zu tun habe, dem über die Tage ganz sicherlich noch weitere folgen werden. Glücklicherweise hab ich diese Nikotinkaugummis hier, die mildern tatsächlich: sonst wär ich eben gegen alle Vornahme nach draußen gegangen und über die Schönhauser hinüber, um im Lädchen Zigaretten zu holen.
Zwei Gedichte hab ich im Kopf, und an den PETTERSSON geht’s.
9.33 Uhr:
[Jarrett, Lausanne 1973. Da war ich achtzehn. Unfaßbar.]
Puh— Entzugserscheinungen… aber hallo! Ich leg mich mal noch eine Stunde schlafen. Der Junge malt und hört Die Drei Fragezeichen im neuen Wilde-Kerle-T-Shirt.