9.06 Uhr:
[Villa Concordia Bamberg. Verdi, Otello. Carlos Kleiber.]
Guten Morgen, Leser. Bei mir ist der komplette Arbeitsrhythmus durcheinander. Also bis halb neun geschlafen, seit zwei Tagen ungeduscht, der Bart sprießt, das sollte alles mal wieder geändert werden. Aber um zehn muß ich den Jungen abholen, dann ist der Arbeitsvormittag abermals dahin. Trotz des Abgabetermins für Döblin am 15. lach ich allerdings nur drüber, halb gequält, halb amüsiert. Und werd die 1000 Seiten dann eben doch nicht so perfekt abgeben, wie ich wollte, kriegen die halt eine Arbeitsfassung. Ich unterbreche nun den Korrekturdurchgang und übertrage besser die Revisionen auf den ersten 560 Seiten, um wenigstens d a s nach Stand des Fortschritts abzugeben. Der entschiedene Vorteil dabei ist, daß ich dann mal wieder ausgebig Musik hören kann. Im übrigen kriegt die Jury ja nun sowieso Leistung g e n u g, und wenn ich klarstelle, daß diese dann abgegebene Fassung noch im Vorstadium ist, sollten die Leute eigentlich Geistes genug sein, um zu begreifen.
Gestern abend nach Zschorschs Ausstellungseröffnung gab es ein gutes Gespräch mit zwei Mitarbeitern der Concordia, bei dem man sich zwar mal ein wenig anblaffte, aber doch Positionen klarstellte – Positionen der Heimleitung, Positionen der Künstler – und sich schließlich freundschaftlich trennte; „machen Sie doch dann jetzt aus den letzten drei Monaten das Beste, was noch geht“, sagte die junge Dame. Es ist nicht ganz einfach klarzumachen, daß ich dieses Bamberger Stipendium unterm Strich als ausgesprochen prägend, gerade für meine Arbeit prägend, empfinde und diese Zeit auf gar keinen Fall missen möchte – immerhin ist meine ganze neue lyrische Arbeit eines ihrer ziemlich schlagkräftigen Ergebnisse -; daß das aber dennoch nicht davon entbindet, sich gewaltig über vielerlei zu ärgern, und auch nicht davon, mit aller Kraft dagegen anzurennen. „Sie vermischen ständig die Argumentationsebenen“, warf mir der junge männliche Mitarbeiter, ein Prakiktant, vor, dem wiederum ich bürgerliche Anpasserei vorwarf; „mal argumentieren Sie moralisch, dann wieder juristisch“ – wozu mir einfällt, daß mir so etwas damals schon mein Psychoanalytiker immer vorgehalten hatte, daß ich aber dort genau so wie jetzt reagierte: nämlich mit heftigem Kopfnicken:: JA!, ich vermische. Und zwar, weil die Ebenen nicht trennbar s i n d, prinzipiell nicht. Nicht von ungefähr ist Vermischung eines der Haupt-Kennzeichen meiner literarischen Arbeit, ja meiner gesamten Poetologie. Der Versuch, die Umstände und Dynamiken zu trennen, also sogenannt sachlich zu sein, ist ein bürgerlich-wissenschaftliches Verfahren der Ausschließung, das Praktikabilität als Ziel hat, Handlungsfähigkeit… das sich aber genau darum um Grundfragen herumdrückt. Ich spieße, wo es nur geht, diese Grundfragen auf. Deshalb meine energischen Angriffe auf Tabus jeglicher Art. Und zwar auch dann, wenn solche Tabus ganz offensichtlich eine schützende Funktion haben. Verdinglichen sie sich, wird aus dem Schutz ein Zwang. In dieser Richtung werde ich auch auf dem >>>> Buchverbots-Symposion Anfang Februar argumentieren, bei dem es eben auch besonders um die Frage von Öffentlichkeit und Persönlichkeitsrechte gehen wird und um die Rolle, die erzählende Kunst darin spielt.