B.L.’s 22.3. – durch und durch

17.45
Ich war am Schreibtisch eingeschlafen, wie der Kesselflicker am Wirtshaustisch. Es klingelte das Handy. Ich dachte, es sei die Weckerfunktion und hörte nur, ohne doch zu reagieren. Das Handy insistierte indes, bis ich auffuhr aus dem Schlaf und antwortete. Arbeit. Wurde mir angekündigt. Die zur laufenden nun dazu kommt. Mein Zeitverständnis ist sehr durcheinander. Bis in den späten Vormittag hinein glaubte ich, heute sei Mittwoch. Wie unwahr. Auf dem Konto ist endlich die dicke Rechnung von Anfang November eingetroffen. Ich denke, daß ich nach dem Termin bei der Rechtsanwältin anfangen werde, mir Wohnungen zeigen zu lassen. Sofern (as far as) und inwieweit (as far as) mir die Arbeit die Zeit dazu läßt. Aber die späten Nachmittage sind sowieso eine Art Leerlauf, wie ja auch die TB-Einträge hier nichts anderes sind, als ein Abschluß des Tages, dem nichts mehr hinzuzufügen ist. Danach bin ich frei für einen Rest von Nichts. Dieser Rest von Nichts ist der Rest des leer gelaufenen Tages, dessen Leere meinem Körper Gelegenheit und Raum gibt, langsam ein Gespür für sich zu bekommen und seinen Bedürfnissen selbst zu lauschen, i.e. essen, trinken, schlafen. Das wäre die Konsequenz dessen, was ich schrieb. Aber es nur eine Teilwahrheit, weil ich mich auf den Körper beschränkte. Und das geht immer schlecht, den Kopf vom Körper zu trennen, obwohl es in der Geschichte allzuoft geschehen ist.

Am Halse nehmlich liegen die Stämme aller Nerven der oberen Gliedmaßen, die Stämme aller Eingeweide, Nerven der Brust und des Unterleibes (der sympathische Nerve, der Vagus, der Phrenicus), und das Rückenmark als Urquell selbst derjenigen Nerven, die den untern Gliedmaßen gehören; folglich ist auch der Schmerz bey Zertrennung, oder nach dem wie ich die Guillotine wirken sah, möchte ich lieber sagen, bey Z e r m a l m u n g oder Z e r q u e t s c h u n g , des H a l s e s (denn an eine Abschneidung läßt sich schon blos wegen der knöchernen Wirbelsäule gar nicht denken!), der allerheftigste, allergrößte, der sich nur denken läßt.
Samuel Thomas Sömmering: Über den Tod durch die Guillotine, zitiert nach: „Die Republik“, Nummer 16-17 („Charlotte Corday“) / 17. Juli 1977

Unten im Wohnzimmer brennt das Feuer im Kamin. Sie war mit dem einen Neffen heute nachmittag wiedergekommen. Der andere wegen der kürzlich stattgefundenen Operation zur Kontrolle in Rom mit seiner Mutter. Morgen wird sie zur Schule fahren und erst übermorgen nachmittag wiederkommen. Aber dieses jeweils selbständige Nebeneinanderleben ist nicht dasselbe wie ein Getrenntleben, die Nerven sind immer noch miteinander verbunden, und selbst wenn sie nun wieder fort sein wird, dann vermisse ich sie zwar nicht, aber blicke im Innern doch immer auf den Zeitpunkt ihrer Rückkunft. Und so konzentriert sich dann mit abnehmender Alleinzeit alles Denken auf den Moment, indem sie wieder vorbei sein wird. Insofern (as far as) kann ich mir schon vorstellen, daß die endgültige Durchtrennung dieser Nerven einen heftigen Schmerz auslösen wird, dem aber dennoch eine Schmerzlosigkeit unweigerlich folgen muß.
Ich weiß, es ist alles ein heller Wahnsinn. Die Welt ist nun mal rund. Und mein jetziges Leben eine flache Scheibe.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .