8.01 Uhr:
[Latte macchiato und Mahlers Sechste >>>> unter Barbirolli. >>>> Diese aus dem Jahr 1968 stammende Aufnahme, die ich noch als Vinyl habe, gilt mir in ihrer Nüchternheit und zugleich hohen Emotionalität als absolute Referenz-Einspielung für jede spätere Interpretation dieses Stücks. Es ist tatsächlich ein Vermächtnis des zwei Jahre später gestorbenen Dirigenten, wobei ‚Nüchternheit‘ für Durchformung, ‚Emotionalität‘ für Ausdruckskraft steht. Der Gustav Mahler im Schallplattentext von H.-J. Winterhoff zugeschriebene „Verzicht auf stilistische Einheit“ hat meine Ästhetik grundlegend geprägt. Ich war siebzehn, als ich Mahler erstmals hörte und ihm sofort verfiel. Die beiden Schallplatten der Sechsten unter Barbirolli hab ich, seit ich neunzehn bin; sie ist also 33 Jahre alt und hat überhaupt nichts von ihrer schroffen Klangschönheit verloren. Ein Meisterstück der EMI-Preßkunst. Ob >>>> die CD-Pressung noch etwas Gleiches oder auch nur Ähnliches hergibt, weiß ich nicht.]
Erledigungstag. Der Profi gestern nacht, als ich im Restaurant des Pratergartens darüber klagte, mit der >>>> Stromboli-Dichtung nicht recht voranzukommen, sagte nur: „Mach doch mal drei Tage Pause, laß den Döblin-Samstag verstreichen, dann wird’s schon wieder.“ Immerhin bin ich heute früh ein paar Zeilen weitergekommen, aber mir fehlt ein Übergang, der den V u l k a n präsent macht und auch das Meer… ich muß irgendwie von der inneren Lyrik (Subjektivität) wieder in die Wucht des Objektiven zurück.
>>>> Dielmann wird zum Wettlesen kommen und hier in der Arbeitswohnung übernachten. Also ist dringend klarschiff zu machen. Ist es sowieso. Und ich muß endlich heraussuchen und kompilieren, was ich vortragen werde. Bin immer noch uneins.
Mittags treff ich Delf Schmidt. Auch bei d e m Gespräch wird es um den >>>> Döblin-Samstag gehen. Werd ich nun also d o c h nervös?
17.38 Uhr:
[Tschaikowski, Violinkonzert. In meiner früh begonnenen Registratur trägt diese längst nicht mehr erhältliche Billig-LP die Nummer 46. Ich kaufte sie von meinem Taschengeld mit fünfzehn; s i e also ist 37 Jahre alt und immer noch sehr gut im Ton. Damals hatte ich zum anhaltenden Schrecken meiner im Nebenraum abeitenden Mutter eine intensive, d.h. auch: ausgesprochen lautstarke Tschaikowskizeit. Dieses Violinkonzert war übrigens – aber das erfuhr ich erst viele Jahre später – das Lieblingskonzert meines Vaters.]
Eine halbe Stunde Ruhe, bis der Junge wieder aus der Musikschule abgeholt werden muß. Immerhin hab ich auf dem Schreibtisch Ordnung geschaffen, die Platte glänzt wie matter Samt. Mehr war aber n i c h t zu schaffen, denn wie es so geht als Papa: Ich sitz noch mit Delf Schmidt beisammen, kommt ein Anruf; jemand habe einen Reifen des Zwillingskinderwagens zerstochen. Damit war der Nachmittag für die Arbeit gelaufen. Den Jungen dann gemeinsam, jede(r) einen Baby-Björn vor der Brust, von der Schule abgeholt, einkaufen ging danach i c h; und schon war der Junge zur Musikschule zu bringen. Nein, keine Klage, sondern diesbezüglich innere Ruhe; völlig anders als vor acht Jahren, wo mich ähnliche Störungen meiner Arbeitsabläufe ständig die Decke hochgehen ließen. Was ich heute noch an AMNION geschrieben habe, stelle ich, jedenfalls auszugsweise, nachher vom Terrarium aus ein. Allmählich bekomme ich immerhin Ideen von dem, was ich für den Döblin-Samstag vortragen könnte.
22.18 Uhr:
[Tschaikowski, Violinkonzert ff.]
Bin doch noch mal in die Arbeitwohnung geradelt, um vielleicht doch noch für Sonnabend etwas im ARGO-Typoskript nach den möglichen Wettlesestellen herumzuschnüffeln.Wobei ich mir vorhin klarmachte, daß es imgrunde nicht um Konkurrenz zu den anderen Autorinnen und Autoren geht, vielmehr um eine Positionsbestimmung und die Notwendigkeit, sie gegen Betriebs-Usancen durchzufechten; die Autoren ihrerseits sitzen imgrunde in e i n e m Boot, und das ist entschieden n i c h t das des Betriebs, sondern der Dichtung. Nur verführt einen die Situation dazu, das anders – falsch – zu empfinden; es hängt ja so sehr vieles daran, und in meinem speziellen Außenseiter-Fall ganz besonders. Dennoch darf ich über „die Chance“ nicht meine eigentliche Arbeit aus
den Augen verlieren; es wird, so oder so, damit weitergehen, und ein möglicher Döblinpreis erleichterte wohl die Umstände ihres Fortgangs, nicht aber hätte er einen Einfluß auf ihre Art. Die ist schon deshalb gleich doppelt zu schützen. Und wenn ich mir die anderen fünf Kollegen vor die Augen führen, die ebenfalls nervös sein werden, bekommt meine eigene Nervosität etwas geradezu Gelassenes. Zudem kommt mir Delf Schmidts Argument sehr überzeugend vor, daß es das doch gar nicht gebe, daß ein Juror n i c h t bereits seine Kandidatin/seinen Kandidaten innerlich bestimmt hätte; und was immer nun in den Diskussionen von wem auch immer vorgetragen werde, verändere längst wirkende innere ästhetische Entscheidungen ganz sicher nicht mehr; allenfalls bestätigten sie sie. Nichtsdestoweniger: Es wäre sehr schön, bekäme ich den Preis; aber das eben denken und fühlen wir sechs Kandidatinnen/Kandidaten a l l e. Nur die, sagen wir, „Pressuren“ werden sich im jeweiligen Einzelfall unterscheiden.
Während ich dies tippe, läuft die 1969 gepreßte Schallplatteneinspielung von >>>> Reimanns „Lear“ mit Dernesch, Varady und Fischer-Dieskau – und ich habe plötzlich, nach vielen vergeblichen Versuchen mit Reimann, einen ganz plötzlichen Zugang in diese Musik — als wäre ein Knoten gelöst, der ihn bislang verschnürt hat. Und ich empfinde, und zwar stark. Toll.