5.03 Uhr:
[Arbeitswohnung. Bach, Kunst der Fuge (Streichquartettfassung).]
Gestern spätabends, alles schlief schon Am Terrarium, überlegte ich – eine Arbeitsidee vom frühen Abend aufnehmend -, ob sich nicht, was Bach mit der Fuge durchkomponiert hat: in e i n e m, Stück (das somit eigentlich eine aus allen Möglichkeiten bestehende Suite ist) sämtliche Varianten durchzukomponieren – ob sich das nicht mit dem Hexameter – und auch anderen streng-rhythmischen poetischen Formen – veranstalten lasse. Ich kam über eine Umkehrung darauf:
Hexameter:
geteilt in
– v v – v v – v v – v und v – v v – v
und zurückgespiegelt
v – v v – v v – v v –
Das geht gut und klingt so:
– v v – v v – v v – v | v – v v – v | v – v v – v v – v v –
Das ist freilich jetzt ein Sonderfall, außerhalb eines schematischen „Durchspielens“. Poetisch muß nach „die Hähne von früh“ vielleicht noch eine kleine Verdeutlichung, tatsächlich nämlich semantisch-motivisch etwas „von früh“ d a z u aufgenommen werden, damit der Leser die Bewegung spüren kann. Diese semantische Verdeutlichung ist eine, glaube ich, conditio sine qua non, wenn man nicht in das oft Unfügliche der Konkreten Poesie hineinwill, die dann einer Auflösung von Sinnzusammenhängen entspräche, die jedenfalls ich nicht will. Ich bin zu sehr Romancier, um nicht ganz unbedingt bei der Geschichte (also in der Narration) bleiben zu wollen.
Eine „Kunst der poetischen Fuge“ sähe am Beispiel des Hexameters etwa s o aus:
v – v v -v v – v v – v v – v v – (Umkehrung)
– v v – v v – v – v v – v v – v v (Krebs 1)
– v v – v v – v v – v – v v – v v (Krebs 2)
usw.
Ich nehme den Hexameter hier nur als Beispiel, weil ich unterdessen so drauf eingefuchst bin; j e d e r Rhythmus ist aber verwendbar, so er nicht nur aus Jamben, bzw. Trochäen besteht und darüber hinaus Spondeen verwendet.
Imgrunde greife ich damit auf etwas zurück, das ich als Neunzehnjähriger probiert habe; damals, in den von mir sogenannten und dann schnell wieder verworfenen „Sprachfugen“, ging ich „silbig“ vor und löste die Silben dabei aus ihren Sinnzusammenhängen, variierte streng durch, bis ich schließlich, wie bei einer Permutation, wieder bei dem sinn-vollen Anfangssatz landete.
Das war Bastelei, die letztlich nur vom Klang und dem schließlichen Effekt der scheinbar überraschenden Sinn-Wiederherstellung geleitet wurde – also ein rein musikalisches Unternehmen, das etwas Schematisches nach der Art Max Benses hatte – die mich aber ernstlich nie weiter interessiert hat und noch immer nicht interessiert.
Dennoch arbeitete der Ansatz-selbst immer in mir weiter, bis ich schließlich, in >>>> WOLPERTINGER ODER DAS BLAU – einem Roman, der auch inhaltlich enorm viel mit Musik zu tun hat (die in den Gesprächen der Tischgesellschaft auch permanent thematisiert wird) – Bachs unvollendete Quadrupelfuge nachstellte, aber nunmehr nicht über Silben, sondern über literarische Motive, bzw. Romanebenen gearbeitet ist (Kapitel II, 4): Hier entspricht jedem musikalischen Motiv ein literarisches (d.h. die Ebene, auf der es erzählt ist), und diese Motive werden nun wie die in der Fuge zusammenklingenden Themen behandelt. Ich habe darauf im Roman einen einzigen Hinweis gegeben: nämlich stehen genau in Kapitelmitte als Einzel„satz“ die beiden Wörter „Ein Krebs“, was nur für denjenigen einen Sinn ergibt, der das Verfahren begriffen hat. Jeder andere wird denken „Was soll denn d a s jetzt?“ – und zwar deshalb, weil die über die fugische Arbeit hergestellte Erzählung völlig bruchlos und narrativ einleuchtend wirkt; was ihr zugrundeliegt, braucht nicht verstanden zu werden, um der Handlung zu folgen, die ihren sehr vorantreibenden Sog aber gerade aus dieser zugrundeliegenden „Komposition“ bezieht. Eine Hinweis gab ich allerdings durch einen Titelteil des Kapitels: „Spätnachmittag eines Krebsgangs“. (Ich habe im WOLPERTINGER als Kapitel IV, 4 so etwas noch einmal, diesmal mit einer Passacaglia gemacht: über „dem durchlaufenden Baß“ des goetheschen Auerbach-Themas werden Variationen auf die Teufels- und Saufszene durchgespielt, die schließlich in einer sehr bösen Travestie enden und ihrerseits mit anderen Themen des WOLPERTINGER-Romanes zusammenlaufen. Um hier g a n z deutlich zu machen, mit welch determinierten Folgerichtigkeit das schließlich scheinbar chaotisch endende Handlungsgeschehen erzählt ist, schließt das Kapitel mit einem direkten Goethezitat: „Nun sag‘ mir eins, man soll kein Wunder glauben!“)
Es ist für mich also nichts Neues, wenn ich ähnliche Kompositionsverfahren nun auf die Lyrik übertrage, wo sie vielleicht sogar viel näher liegen.
Der latte macchiato ist halb ausgetrunken, und ich will >>>> mit AEOLIA weitermachen. Guten Morgen, Leser.
17.33 Uhr:
Beim Optiker für einen Augentext gewesen; halb so wild alles, aber eine Brille fürs Arbeiten b r a u c h t’s: + 1,2 Dpt. Dafür ist die Kurzsichtigkeit um die Hälfte zurückgegangen; ich trüge, sagte der Optiker, viel zu starke Kontaktlinsen mit 1,5. Was ich nicht ganz glauben kann, aber egal. Ich hab die – 1,5, seit ich zwanzig bin, und fühl mich mit den entsprechenden Kontaktlinsen ausgesprochen wohl. Das werd ich also nicht ändern. Daß mit der Brille ist allerdings nötig; bereits heut früh um 9 Uhr fingen die Augen wieder zu brennen an. Vielleicht sollte ich aber einfach mehr schlafen…
Da ich kein Geld habe, hab ich nun die billigsten Gläser und das billigste Gestell ausgesucht, das fielmann anzubieten hat. Jene werden dennoch (für mich) teuer, weil ich ein Gleitglas brauche, daß die Kurzsichtigkeit beim Lesen von Texten auf Papier mit der Kurzsichtigkeit beim Arbeiten am Computer, die beide je deutlich störend sind, ausgleicht. Aber ich hasse Brillen, finde sie gräßlich, und mir wird jetzt schon öd und depressionistisch, wenn ich dran denke, daß ich so eine Krücke aufsetzen muß. Wie eine Krücke sieht sie auch aus. Paßt mir gar nicht in das Selbstbild. Wurmt mich. Und wurmt noch weiter, obwohl ich dann einen s e h r späten Mittagsschlaf, der tief und gut war, gemacht hab. (Ich seh wie ein ekliger Kleinbürger aus mit der Brille).
Ein paar Zeilen AEOLIA jetzt noch; heut morgen kam ich zwar nicht schlecht voran, hatte aber beim Lesen kein allzu gutes Gefühl. Als ich dann aber ausgedruckt hatte, lasen sich die Verse s o schlecht nicht. Vielleicht stell ich später noch was davon ein. Vielleicht auch nicht.
sehr interessant, ihre ausführungen zur abbildung von bachs „kunst der fuge“ in poetische formen.
ich war vor etwa 15 jahren diesbezüglich >>>in der malerei tätig. vielleicht ist das ja auch interessant für sie 🙂
@ramirer. >>> Ctrpt VII und Ctrpt IX gefallen mir auf Anhieb s e h r, vor allem IX. Bei >>>> IV und VI hatte ich eben die spontane Assoziation an Genome. Die IX hätt ich gern hier hängen, da er eine Form des Informellen ist (oder des anklingend Informellen), die sich auf eine mir nahe Weise mit sinnlicher Expressivität verbindet.
Sehr sehr vielen Dank für den Link.
ich danke ihnen für die emotional+thematisch fundierten rückmeldungen!
contrapunctus VII ist m.e. die gelungenste arbeit des zyklus, dessen ziel es u.a. war (ähnlich wie bei bach) die strenge form mit tiefer emotionalität zu ver
bindenmählen.