Azreds Buch. Eine Erzählung. Fünf: Der Schluß.

[Fortsetzung von >>>> hier:
Leise räume ich Geschirr und Aschenbecher in die Kü­che und gehe zu Bett.]

Klar, daß Mielke krank ist. Ich bin ganz froh, daß er in den nun folgenden Wochen auf seinen Wahn nicht mehr zu sprechen kommt. Allerdings kann ich nicht abstreiten, daß von der Anto­nius-Versu­chung – also dem, was sich vorgeblich versteckt hinter ihr – etwas Lockendes ausgeht. Manchmal nun steh ich davor und widerstrebe dem Zwang, das Bild beiseitezu­drehen, um in der Öffnung dahinter nachzuschaun.
Dann geht den ganzen Tag über ein deutlicher, eigentümlich warmer Wind, wie ich das aus Italien kenne. Bei Einbruch der Dämmerung frischt er allerdings auf. Er pfeift um die Hausecken und treibt Papierschnitzel und Zigarettenschachteln über die Bürger­steige. Mir ist sowas nicht unangenehm. Gern sitz ich da drinnen und schau aus dem Fenster. Mielke indessen macht das Wetter nervös. Mehr noch: Es verursacht ihm richtig Angst. Er kaut das Zigarrenende naß und sieht grau und einge­fal­len aus. Die fetten Lappen seines Bulldoggengesichts wirken wie Pappe. Die Tränensäcke ge­schwol­len dabei, seltsam, auf seinen Nasenflügeln wie Sandpickel Schweißperlen. Er trinkt viel, ist schon nicht mehr sicher auf den Beinen. Ich geh ihm aus dem Weg. Doch klopft er spätabends bei mir an die Zimmertür und bittet mich hinunter. Bietet mir einen Cognac an und fragt:
„Glauben Sie an der Jüngste Gericht, Herr Bau­mann?“
„Was ist los mit Ihnen?!“
„Ich muß Sie an Ihr Versprechen erinnern. Nehmen Sie sich um Gotteswillen des Buches an! – Das Jüngste Gericht sind die letzten Mi­nuten vor dem Tod.“
Ich zucke die Achseln, steh auf, verlasse den Raum. Auf sowas hab ich nun gar keine Lust! Er versucht auch gar nicht erst, mich zum Bleiben zu überreden. . Allerdings kann ich nicht einschlafen. Schon, weil nun draußen ein Lär­men losgeht sondergleichen. Der Wind ist Sturm mittlerweile. Ich steht wieder auf, schau aus dem Fenster schaue, ein Straßenschild wackelt. An ih­ren quer über die Straße gespannten Kabeln schwingen Lampen wie wild. Dann Geschepper, runtergefallene Ziegel sind das, die zerspringen auf dem Bürgersteig. Bis ge­gen zwei wälz ich mich noch herum. Dann geb ich’s auf. Außerdem ein Schrei. Nein, das wird nur eine Böe gewesen sein. Noch eine Böe. Nein, tatsächlich ein Schrei. Ich kann da nicht einfach weghörn. Irgend etwas geht unten zu Bruch. Ich schlüpfe in den Ba­demantel, ziehe die Rollos hinauf. Hinter den Scheiben ein zerrupftes Grau, eine wirbelnde Masse. Ein Ast knallt gegens Fenster. Die Scheibe splittert. Schnell knistert ein Netz durchs Glas. Bloß die Rollos wieder runter! Und abermals von unten ein Schrei. Der ist nun aber der­art hilflos und verzweiflungsgeladen, daß ich nachschauen muß.
Mielke liegt am Wohnzimmerboden. Eine Art Anfall. Verrenkungen und Schaum vorm Mund. Ich halte den zitternden Mann mit aller Kraft fest. Endlich beruhigt er sich. Kommt zu Bewußtsein. Richtet sich auf, seufzt, zieht dann, sitzend, die Beine an den Körper, legt, fett und müde, seine Arme um die Knie. Aus Nase und Mund rinnt spärlich Blut. Zerbrochnes Geschirr liegt herum. Ich ziehe ihm einen Splitter heraus, der knapp über der rechten Handschlagader steckt. Das blutet entsetzlich. Ich binde ihm die Hand mit seiner Krawatte ab. Er scheint mich kaum zu er­kennen, schaut willen­los zu. Außerdem hat er sich, beim Hinfallen wohl, am linken Knie verletzt. Je­denfalls kann er das Bein nicht mehr strecken. Ich schleppe ihn zum Sessel. Mit einer Serviette versuch ich, die Blutung zu stillen. Will einen Arzt anrufen, aber der Anschluß ist tot. Wahrscheinlich hat der Sturm einen Leitungs­mast umgeworfen. Der Orkan heult derart ums Haus, daß ich den Gedanken, Hilfe zu holen, sofort verwerfe. Sowieso kann man Mielke in seinem Zustand un­möglich alleinlassen. Ich schlage den jammernden Menschen in eine Decke ein. Es ist halb drei Uhr nachts. Ich nehme im Sessel Platz, trink einen Schluck Cognac, versuche zu schlum­mern. Einmal, halb im Dösen, gleitet mein Blick zur Antonius-Versu­chung. Da wirbeln die grünewaldschen Figuren ganz aufge­regt umher. Welch hektisches Leben! Doch als ich die Vision fixiere, stellt sie sich still. Ich sacke in dem Schlummer zurück.
So vergeht diese Nacht.
Morgens hat sich Mielke leidlich gefaßt. Aber schweigt stundenlang. Das Telefon bleibt ge­stört. Und der Sturm läßt keineswegs nach. Im Ra­dio­gerät ein Katastrophenalarm. Als Mielke das hört, kichert er. „Die irren sich“, sagt er. „Das ist mein Sturm, ich schwöre, daß das mein Sturm ist.“
Ich ignoriere die Bemerkung. Der Orkan drückt die Läden in die Fen­ster. Mittlerweile sind noch zwei weitere Scheiben zerborsten. Man hört allerwo metalli­sches Knallen. Mitunter platzt etwas draußen. Der Baum im Vorgarten wird aus der Erde gerissen. Kracht gegen die Mauer. Dann ein Poltern, ja Kartätschen: als schlüge ein rie­siger Holzknauf an die Haustür. Ich springe auf. „Nicht öffnen, nicht öffnen,“ wimmert Mielke und zieht sich die Decke bis unter die Augen. Es fol­gen leisere, eher klop­fende Geräusche; bei jedem zuckt Mielke und kneift die Lider zusam­men.
„Ich seh mal nach“, sag ich. – „Nein! Nein!“ – „Nu komm Se… vielleicht braucht jemand Hilfe…“ – Da fängt er zu lachen an. Dann ein gestoße­ner; ein wegge­schnittener Schrei.
Ich geh auf den Flur, hor­che. Ich schließe die Au­gen, horche. Der Sturm hält momentlang inne wie ich. Und da, sehr deutlich, klopft es. Irgend jemand steht draußen, kein Zweifel. Ich spähe durch den Türgucker, kann aber nie­manden sehen. Es klopft abermals. Ich dreh den Schlüssel herum, und schon, plötzlich, stößt sie mir wer entge­gen. Ich pralle zurück und starre entsetzt auf ein Ge­schöpf, daß mei­nem Vermieter bis in die fieberkranken Augen gleicht und zu alledem ganz wie er gekleidet ist. Nur mißt es kaum einsfünfzig und wirkt durch und durch künst­lich. Mit einem Blick er­fasse ich die Verwüstung: ge­knickter Metallzaun, umgeworfene Autos, zerstörte Vorgärten. Man hört Polizei- oder Feuer­wehrsirenen.
„Entschuldigen Sie mein freches Benehmen,“ sagt das Geschöpf. Es hat eine fistelige, ble­cherne Stimme. Wenn es spricht, bewegt es asynchron die Ärmchen, als erzeugte erst dies den zum Sprechen nöti­gen Luftdruck. „Aber Ihre Schelle scheint nicht zu funktionieren. – Ach, ach, Ver­zeihung! Mein Name ist Azred. Man sieht es mir nicht an, doch bin ich,“ er spitzt voll Neugier an mir vorbei, „arabischer Geburt. Gehe ich recht in der An­nahme, man habe es Ihnen erzählt?“
Ich bin derart fassungslos, daß ich gar nicht auf den Gedanken komme, die Tür wieder zu­zuschlagen. Es wäre ohnedies zu spät, denn mit der Bemerkung, gewiß harre Herr Mielke seiner schon längst, und in­dem er mich kurzerhand beiseite- nicht -stößt, sondern -wischt, be­tritt Azred den Flur. „Es ist, Herr… Herr..?“
„Baumann.“
„Es ist, Herr Baumann, zwar ziemlich ungemütlich draußen, indessen wäre es bes­ser, Sie ließen uns nun allein.“
„Aber auf gar keinen Fall!“
„Nun, wie Sie wollen.“ Er lächelt und schürzt dabei die Oberlippe, was sein Ge­sicht ent­stellt und die beängstigende Ähnlichkeit mit Mielke völlig verwischt. Und plötzlich dreht er sich einmal um sich herum, be­schleunigt und schlägt mir die Nägel sei­ner linken Hand ins Gesicht. Ich schreie auf. Fau­chend hüpft er ins Wohn­zimmer. Der Schmerz ist fürchterlich. Ich brauche Sekunden, um mich zu fassen. Erst das Gebrüll Mielkes holt mich in die Gegenwart zurück.
Im Wohnzimmer springt der Dämon mit einem kräftigen Satz auf Mielkes Brustkorb. Dabei jauchzt er, trampelt ausge­lassen auf dem veren­denden Menschen herum. Und wird dem froschreiten­den Antoniusversucher ähnlich da­bei. Blut spritzt vom Ka­da­ver. Das berauscht den Kleinen offenbar. Er hat mich in seinem perversen Glück offensichtlich vergessen. Das muß ich nutzen! Ich haste zu dem Bild, ich drehe die Versuchung beiseite. Greife dahinter hinein. Wie tief es dort ist! Es verschlingt meine Hand, verschlingt meinen Arm weit über den Ellen­bo­gen hinaus. Da faß ich etwas Nasses, Sumpfiges, nein: Trocknes, ich weiß nicht. Es ätzt. Ich bezwinge mich, ziehe. Dann fällt der Strom aus. Man kann nichts mehr sehen. Aber mir ist das recht. Zumal ist der Dämon beschäftigt. Ich höre ihn saugen, schlürfen, dazwischen Gekicher. Und während Ab­dhul al Azred meinen Vermieter verzehrt, schleiche ich, das ungeheure Buch an meinen Bauch gepreßt, aus dem Zimmer in den Flur. Ich reiße die zugefallene Haustür auf und stürze mich ins Freie. Ich renne, renne nur, renne. Renne an gegen den aufgefrischten Sturm. Ich weiche hakenschlagend zerschellenden Ziegel­steinen und stürzenden Bäu­men aus. Ach was bin ich geschickt! Es ist eine Lust, den Orkan zu durchrennen! Ach welch ein Atmen! Das Pfeifen! Ein Jubel der unbesiegten Natur! Da er­reich ich das „Flipper“. Ich lache. Ich husch in die Kneipe, schlag die Tür hinter mir zu. Dieser Geschmack hinter den Zähnen! Und starr in einen Haufen erhitz­ter Gesichter. Und juble! Und heule! Und bin abermals am Leben geblieben! Und im Be­wußtsein dieser meiner unendlichen, blü­henden Kraft fall ich hungrig über die dummen Un­geheuer her.

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