5.10 Uhr:
[Arbeitswohnung. Bernd Alois Zimmermann, Sonate für Cello solo.]
UND ALSO ES GESCHAH: Alle Termine stehen, die Sprecher werden nun am Montag und am Mittwoch ins Studio Nalepastraße kommen; das ist gut Zeit. Der WDR gab sein Okay, die Regieassistentin hat sich umsonst Sorgen gemacht (ich selber machte mir keine, da ich im Zweifelsfall improvisiert und nötigenfalls auch selbst mitgesprochen hätte). Ich werde gleich damit weitermachen, die Ustvolskaja-Musiken nach meinen Notizen zuzuordnen und entsprechend zu schneiden. Es ist immer etwas ganz anderes, wenn man das Skript zu den Kopfhörern legt, sich sowohl einliest wie einhört; plötzlich kommen Ideen, die es so vorher noch gar nicht oder eben nur ungefähr gab: etwa jetzt die, den Ravel, den ich eigentlich unter den Kaffeehaus-O-Ton legen wollte, wieder rauszuwerfen und selbst hier nur noch mit Ustvolskaja-Musiken zu arbeiten; in diesem Fall mit der 5. Sinfonie, die ich unter allen Kaffeehausszenen quasi durchlaufen lassen will. Auch die Musik für die beiden Sprachfugen weiß ich jetzt, als sozusagen sechste Stimme.
Gestern nachmittag mit meinem Jungen ein erstes Cello-Duo angefangen, ein ganz einfaches Kinderstück, aber Spaß macht’s, auch wenn ich momentan nicht dazu komme, täglich wesentlich mehr als zwei Stunden zu üben. „Wo übst du lieber: hier in der Arbeitswohnung oder Zuhause?“ „Hier.“ Das hat mir a u c h gefallen. Er mag diesen Arbeitsbereich; daß man den Kopf (und die Finger) anstrengt, kommt ihm hier organischer vor als in seinem Kinderzimmer. Andererseits: „Ich laß dich mal alles vergessen.“ „Wie: alles?“ „Alles, was in deinem Laptop steht. Deine Arbeit. Du arbeitest immer nur.“ „Und das Cello, das ließest du mir?“ „Ja.“
Von 22 bis 23.30 Uhr mit dem Profi in der Bar gesessen und geplaudert; >>>> Kerstin Thomiak, dachte ich erst, und >>>> Titania seien auch da, hatte der Profi angekündigt. Ich brannte auf Neuigkeiten vom Kaiber-Paß, zumal mich Thomiak tags angerufen und erzählt hatte, >>>> Arndt habe sich bei ihr gemeldet, in Afghanistan; er sei als Scout für die NATO tätig. Daß sie mit Titania in die Bar wolle, hatte sie mir aber verschwiegen und es statt dessen dem Profi gesagt; aber auch nicht direkt, sondern seiner Gefährtin U.; wahrscheinlich hatten die drei Frauen sich miteinander verabreden wollen; wahrscheinlich waren sie deshalb nicht dort, weil wir als Männer gestört hätten. Was weiß ich. Woher aber Arndt zu wissen scheint, daß ich die Thomiak kenne, ist mir nicht klar; es ist schon z u unwahrscheinlich, daß er Die Dschungel liest. Oder doch? Den Laptop auf dem Schoß, im Burnus, und Platon neben sich bereit..? – Aber dann waren der Profi und ich eben doch nur zu zweit. Ich werde Thomiak nachher mal anrufen; unser Telefonat war gestern nur kurz, es hatte etwas Gehetztes. Seltsam, hatte ich gedacht, aber mich dann gleich wieder auf die Ustvolskaja konzentriert.
Nun sprachen wir, der Profi und ich, über den aus der Bahn gefallenen Jungen des Freundes, was man tun könne usw.; der Profi vertritt einen eher harten Kurs, „sonst wacht der Junge nicht auf“. Ich bin skeptisch, fürchte, der Bursche könne nur noch mehr verstocken; imgrunde hängt alles davon ab, meine ich, daß man ihn aus diesem Neo-Punk-Kreis herausbekommt; an der Stelle des Freundes würde ich umziehen, wegziehen von Berlin, möglichst weit weg, in irgend eine Kleinstadt am Rand der Welt, irgendwohin, wo auch oder besonders ein anderes Leben als das vermittelte der Städte ist, wo zumindest Wald ist, wo vielleicht Meer ist, wo man hinausfahren und Salz schmecken kann, wenn man die eigene Hand ableckt. Oder… aber dazu ist er zu jung… die Thomiak nähme ihn mit an den Kaiber-Paß? – Theorie, ich weiß. Außerdem ist der Bursche alles andere als volljährig. Es gibt keinen Mississippi, und die Huckleberrys der Gegenwart rauchen ihr Pfeifchen anders; sie jagen auch keine Gangster mehr, die Narben im Gesicht haben.
Irgendwann nachher sollte es schellen, und die Post sollte mir das neue MEERE bringen. Jetzt aber an Ustvolskaja/Fritz. Vorher noch Dts… und nachschauen, was sich in Der Dschungel und im >>>> Virtuellen Seminar getan hat. Und um acht wieder ans Cello für eine erste Übestunde. Einfach nur Tonleitern üben, damit ich endlich mal Töne herausbekomme, die auch schön sind.
8.06 Uhr:
Die Ustvolskja-Musiken für die Kaffeehausszenen sind fertiggeschnitten. Jetzt erstmal ans Cello.
22.44 Uhr:
[Am Terrarium.]
Etwa 2/3 der Musikschnitte stehen jetzt.
Während >>>> dort draußen die, finde ich, interessante Diskussion weitergeht, lese ich >>>> Graf Hermann Keyserling zur Nacht: In der nachgelassenen Bibliothek des zweiten Mannes meiner verstorbenen Mutter fand sich sein „Reisetagebuch eines Philosophen“, das ich an mich nahm. Denn ich habe nie vergessen – es war nur vorübergehend fort -, wie ich mit 14/15 Jahren in den Besitz eines anderen Buches Keyserlings kam, ich weiß aber nicht mehr, welchen. Doch es machte damals einen enormen Eindruck auf mich; ich verschlang es, zweidrei Mal hintereinander, ohne daß ich heute noch sagen könnte, was eigentlich darinstand. Nun finde ich im Vorwort Sätze wie „Ich will in Breiten hinaus, woselbst mein Leben ganz anders werden muß, um zu bestehen, wo das Verständnis eine radikale Erneuerung der Begriffsmittel verlangt, wo ich möglichst viel von dem vergessen muß, was ich ehedem wußte und war. Ich will das Klima der Tropen, die indische Bewußtseinslage, die chinesische Daseinsform und viele andere Momente, die ich gar nicht vorausberechnen kann, umschichtig auf mich einwirken lassen und zusehen, was aus mir wird.“ Vor allem aber auch sowas: „…welches bedeutet, daß ich mich wahrhaft und ernsthaft nur für die Möglichkeit der Welt, nicht für ihr Da- und Sosein interessiere.“ Ich mußte stutzen, weil ich unversehens den Eindruck hatte, hier liege eine der Quellen für das, was ich >>>> Möglichkeitenpoetik nenne. Es würde bestätigen, was ich seit langem glaube: daß die zu den späteren Ideen initialen Verzweigungen a l l e bereits während Kindheit und Jugend angelegt und danach imgrunde nur noch ausgeführt, verfeinert, problematisiert, durch- und umgedreht und schließlich, wenn’s gutgeht, vervollkommnet werden. So daß, dieses Buch aufzuschlagen, jetzt wie eine Art Rückkehr ist, aber ohne daß man ginge; man schaut nur und wägt ab. Und schaudert ein bißchen.
Um die Musiken weiterzuschneiden, bin ich zu müde. Das werde ich morgen weitertun und hoffentlich dann auch beenden.