6. August 2008.

H. erwachte in seinem Studio. Es war zu spät. Er hatte geträumt. Die Fingerspitzen seiner linken Hand kribbelten, als wäre sie eingeschlafen gewesen; es waren nur die Fingerspitzen, und es brauchte lange, bis sie sich erholten; leicht taub blieben sie noch lange. Auch der Ellbogen, der gestern abends bis nachts etwas wehtat, schmerzte wie eine Erinnerung nach, die wir vergessen möchten; doch sie, sie will ein Recht auf Existenz und klagt es ein: liegt am Boden zwar, doch scharrt an der Tür.
Er hatte bis spät in die Nacht einen dreistündigen Spielfilm über Menschenhandel gesehen, Kinder, junge Frauen, weltweit das Häschernetz, Schläge, auch Vergewaltigungen, meist aber Nötigung brutalsten Charakters. Die Kinder verstört, Jugendliche, die, um zu überleben, die Seite wechseln; „ich will nicht umkommen“, sagt eine Latina zu der, die sie mitverschleppt hat und im gelobten Westen die Häuser mitorganisiert, „ich will nicht umkommen, ich will nicht enden wie d i e“, zeigt auf den Fernsehbildschirm, über den ein brutaler Porno mit einer jungen Russin läuft, „ich will nicht umkommen, sondern werden wie Sie.“
H. trank sehr viel in dieser Nacht, er dachte viel nach; er hatte das Interview mit >>>> Colin Crouch gelesen – der Profi hatte es ihm kopiert -, worin sehr deutlich ausgesprochen wird, daß die Demokratie vor der Globalisierung versagt hat. Postdemokratie, nennt der Mann es. Was moralisch sei, was menschlich und menschengerecht sei, bestimmten weltweit die großen Unternehmen. Sicher, sie übernähmen nicht selten Verantwortung, übernähmen sie auch bewußt. Wenn ein europäischer Pharmakonzern in Afrika produzieren läßt und in seine Corporate Philosophy die Verpflichtung hineinschreibe und sich daran auch halte, keine Kinderarbeit zuzulassen, auch wenn sie billiger wäre, dann ist das zwar ein moralischer Akt, aber kein demokratischer. Darüber mußte der jetzt langsam Wache immer wieder nachdenken, weil ihn die Klarheit und Tragweite dieser wahren Aussage als Wahrheit frappiert und leise schockiert hatte. (>>>> Hier ein allerdings wohltuender Einspruch.) Der Profi war ein paar Monate zuvor mit H. über Unter den Linden flaniert, hatte auf die Repräsentanzräume an der Ecke der Friedrichstraße gezeigt, hatte gesagt: „Das sind die Versailles der Moderne.“ Und als H. am vergangenen Wochenende >>>> die O2-Arena erstmals wirklich sah, 17000 Zuschauer Fassungsvermögen, war es das Gebäude eines Cäsaren, der Brot & Spiele seinem Volk bringt. Das Volk jubelt immer.
Die Fingerspitzen der linken Hand juckten schließlich, das Blut lief zurück. H. dachte: daß man s o ein Instrument üben kann. Er hatte gelesen, bei Beanspruchung über Monate und Jahre, bekämen die Fingerkuppen Hornhaut; man solle sie nicht entfernen, sie fördere den guten Klang. Wie aber, dachte er, streichele er damit dann über den Körper einer Frau? Werde er sich dafür entscheiden, Zärtlichkeit in >>>> Ton zu sublimieren? Er bemerkte, daß ihm die disziplinierte Arbeitsstruktur entglitt, nachdem seine Entscheidung gefallen war, einen Teil seines Lebens nunmehr wieder jenseits der Familie und der Frau, die er liebte, zu leben. Es ging ihm einerseits deutlich besser, er war lockerer geworden in den letzten beiden Wochen; andererseits schritt er über einen Grund, der von der Traurigkeit aufgeweicht ist und der nicht fester, sondern nur immer noch weicher wird, je tiefer man in den Wald hineinschreitet, aus dem ganz von Ferne, ganz aus der Tiefe ein Cello klingt, wie H. es eines Tages gerne möchte selber singen lassen können.

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