Arbeitsjournal. Sonnabend, der 20. Dezember 2008.

10.21 Uhr:
[Arbeiswohnung.]
Viel zu spät aufgestanden, mit dickem Kopf, viel zu viel getrunken gestern abend, allein für mich. Netz-Unterhaltungen. Und dann heute morgen, noch keine Musik, nur den ersten latte macchiato am Schreibtisch, der Gedanke an ein Gedicht, die ersten dreivier Zeilen, ein bißchen monströs (außerdem hatte ich mich abermals durch DER ENGEL ORDNUNGEN teildurchgelesen wie um dauernde Selbstbestätigung, um Vergewisserung, an allem ist da immer eine Frage)… seither häng ich in diesen Versen: „Die Geburt Europas“. Ich hab den Impuls, schon etwas davon einzustellen, beherrsche ihn aber noch. Alles muß erst deutlicher werden, nicht nur die Struktur, sondern vor allem die Erzählung, die ihr Ende noch nicht kennt – abgesehen von dem „Ende“, das uns umgibt, die Gegenwart, die doch nur ein Dazwischen ist und immer schon in die Geschichte zurückfällt, kaum, daß wir einmal geatmet haben. Keine Stabilität. Dagegen der Sadhu in Coppolas Verfimung, die ich gestern nacht ansah, von >>>> Eliades „Jugend ohne Jugend“: daß Zeit eine Illusion sei…

11.05 Uhr:
[Chopin, Rondo c-moll (Cass.- „Projekt“ Nr. 102).]
Soeben kommt mein Junge wieder zu mir, der bei seiner Freundin übernachtet hatte, dann eben nachhause geradelt war; aber dort ist noch niemand gewesen, keine Mama, keine Geschwisterchen (die bei ihrem leiblichen Vater sind, wie ich weiß); in der leeren Wohnung mochte er nicht bleiben und kam dann eben hierher. Was sehr schön ist. Er sitzt jetzt am zweiten Arbeitstisch und zeichnet, während ich an dem Gedicht weiter„stricke“. Αναδυομένη hat mir über Skype ein Hörspiel für ihn gesendet; das habe ich eben auf CD gebrannt. So kann er sich beschäftigen; abgesehen davon, daß ich in einer Stunde mit ihm die heutige Cellostunde üben werde; erst dann aber, weil ich jetzt noch ein bißchen formulieren will.

[Bruno Maderna, Hyperion III (auf derselben Cassette).]

12 Uhr:
[Webern, Passacaglia.]
Versuchshalber >>>> d o c h schon mal. Jetzt ans Cello mit dem Buben.

13.52 Uhr:
Geprobt, der Bub hört sein Hörspiel jetzt, und ich sitze wieder an dem Gedicht. Was mir vorschwebt, ist eine imaginäre Vor-Geschichte des Matriachats, nicht minder blutig als die Geschichte dann des Patriarchats, das die Frauen niederwarf. Die „Stoß“richtung ist klar: Löwinnen lehren ihre Jungen, wir man Wild reißt, es dann aufspannt zwischen zwei Bäumen und sich davon nimmt. Die Demeter-Figuren sind selber so schrecklich gewesen wie die Männer, die sie später desinfiziert haben. – Aber all das wurde mir – für das Gedicht – erst klar, als es angefangen hatte. Und vielleicht ändert sich auch alles noch einmal.
(Ich denke gerade viel über diese ganz bestimmte weibliche Form von Grausamkeit nach, die auch meine Mutter schon beherrscht hat, dieses plötzliche Wegbrechen-Können, gepaart mit rücksichtslosester Eigeninteressenvertretung, und daß Frauen wirklich so fühlen können, d.h. von einer Sekunde in die nächste n i c h t s mehr fühlen. Das ist, evolutionstechnisch gesehen, eine enorme Wandlungsfähigkeit, Anpassungsfähigkeit, pragmatischste Flexibilität gegenüber jeder neuen Situation. Daß Frauen schwach seien, ist ja eher eine männliche 1) Erfindung, 2) Innovation, die durch Unterdückung zuwegekam. Cato bereits, im Römischen Senat: „Wären Sie uns gleichgestellt, sie wären uns überlegen.“ Die Erfindung des Patriarchats aus Notwehr; ich hatte diesen Gedanken früher schon immer einmal, habe ihn auch in Der Dschungel irgendwo notiert, aber will jetzt nicht suchen.)

2 thoughts on “Arbeitsjournal. Sonnabend, der 20. Dezember 2008.

  1. meinen sie wirklich, ‚wir‘ fühlten so? und nur ‚wir‘? und, wenn, was wäre die motivation dabei? dass ‚wir‘ weiblich oder männlich sind?
    ich weiß, übertragungsleistung ist ebenso ein zeichen von intelligenz wie sie einen immer wieder hereinlegt. männer mit randlosen brillen geniessen bei mir nicht selten einen vertrauensvorschuss, wahrscheinlich aber nur so lange, bis sich die brillenmode bei m wieder ändert. ohnehin, ich sollte nicht so unbekümmert sein im umgang mit männern, sind sie doch notorische lügner, egoshooter und nie da, wenn man sie braucht. blöd nur, dass ich vertrauten umgang mit einem scheinbar so ganz anderen exemplar pflege, das verdirbt das ganz männerbild, so dass ich hin und wieder denke, wie schön, dass es sie gibt, und wohlmöglich sind sehr viel mehr von ihnen sehr viel verträglicher als sie so gemeinhin glauben machen wollen? aber, vielleicht auch nicht. natürlich gibt es tausende von momenten, wo ich ähnliches denke, und ihnen recht geben wollte, aber manchmal denke ich eben auch, oh, wie schön, wie charmant, wie zwanglos, wie lustig, wie sexy, wie wunderbar verpeilt zu zweit. einer dööfer (schreibt man das mit zwei ö) als der andere und keiner von beiden einen plan. dann besteht vielleicht manchmal die einzige notwehr noch darin, sich zu mögen?
    aber, sie haben gerade alles recht der welt, es anders zu denken. doch nehme ich an und hoffe doch sehr, auch das ändert sich wieder und vielleicht macht ihr sohn ja einmal ganz andere erfahrungen, denn wozu haben wir die jugend, wenn sie nicht ganz anders recht behalten dürfte, als ‚wir‘ es jemals zu hoffen wagten?

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