„hallo schwester….

… ich muß unbedingt mit dir reden.“ „was ist los?“ „unser bruder ist so was von im arsch.“ „ja, das wissen wir doch seit jahren.“ „nein, so nicht… ich bin völlig fertig.“ „wieso, was ist passiert.“ „ich hatte heute ein fünfstündiges gespräch mit unserem bruder, nachdem wir beide gemeinsam bei einem arzt waren.“ „ihr seid gemeinsam zum arzt gefahren?“ „ja, wir hatten beide einen termin dort, da beschlossen wir, zusammen hinzufahren.“ „ja, und?“ „wir mussten in den 5. stock mit dem fahrstuhl fahren, es waren noch ungefähr 15 andere personen, die mit uns gemeinsam den fahrstuhl bestiegen. wir stehen da alle, und sind ganz still, du kennst das ja… da fängt unser bruder mit einem mal an, ganz laut durch die gegend zu reden. arschloch, arschloch… scheiße, scheiße…., und fing mit seinen zuckungen wieder an, ich dachte… kann er nicht einfach seine klappe halten?“ „ja, aber das kennst du doch, es ist wie das tourette syndrom, aber das durften wir ihm ja nie sagen, er wollte nichts darüber hören.“ „ja, aber als wir nach hause kamen, fing er an, sich die hände zu waschen, fünf mal hintereinander… das wasser hörte garnicht wieder auf zu laufen, er schrubbte und schrubbte. als er fertig war, sah ich ihn einfach nur an, und er mich, ich brauchte ihn garnicht zu fragen. zum ersten mal in seinem leben redete unser bruder über seine zwänge, die er hat, er konnte noch nie darüber reden. erzählte mir, daß er gegen diese zuckungen immer garnichts machen könne, und das er immer nur wolle, daß die menschen ihm zuhören, ihn verstehen, aber vor allen dingen ihn hören. das seine hände es nicht ertragen können, länger als drei minuten still halten zu sollen, sie dann anfingen sich unwillkürlich zu bewegen, daß er da ganz hilflos sei. auch der zwang, plötzlich etwas ganz laut sagen zu müssen, er müsse das einfach sagen, aber nicht leise, er müsse die worte, die er in dem moment eigentlich garnicht sagen wolle, immer brüllen. wir sprachen lange darüber, ich erfuhr noch mehr über ihn in unser kindheit, als ich wußte…, es ist unglaublich. wir sprachen wirklich lange, aber wir finden die ursache für diese ausbrüche nicht.“ „hmm… so lange ich unseren bruder kenne, will er immer das die menschen in hören, er will, daß sie ihn verstehen, er will immer alles unter seiner kontrolle haben, gelingt ihm das nicht, rastet er aus. auch dann, wenn ihm körperlich jemand zu nahe kommt, schlägt er sofort zu, und diese unwillkürlichen arm- und handbewegungen, die waren schon immer da. ich mach mir seit vielen jahren gedanken darüber, und habe da eine vermutung. ich beobachtete oft seine hände und seinen kopf, liegen seine hände länger als drei mnuten still auf seinen beinen, muß er sie wie aus einer starre oder bindung lösen, er muß das gefühl haben, daß er sie bewegen kann, daß gleiche ist mit seinem kopf.“ „ja, aber woran liegt das.“ „hmm… da muß ich dir jetzt was erzählen, etwas, was du nicht wissen kannst. als unsere mutter dich damals zur welt brachte, wurden wir drei geschwister in dieses kinderheim gebracht.“ „ja, das weiß ich ja.“ „ja, aber was du nicht weißt, ist, daß sie unseren bruder, da war er ein jahr alt, eine ganze woche im bett festgebunden hatten. unser bruder schrie eine woche lang tag und nacht das ganze kinderheim zusammen. sie trennten uns geschwister, mein zwillingsbruder durfte nach zwei tagen wieder zu mir, aber unseren kleinen bruder, den brachten sie weg. am ersten tag dann hörte ich den ganzen tag ein kind schreien, in der nacht auch, die ganze nacht. es war unerträglich für mich. am nächsten tag ging ich stiften, machte mich auf die suche, ging immer dem schreien nach, und dann stand ich da in dieser großen holztür. es war ein riesengroßer raum, mit vielen leeren gitterbettchen, und in der mitte das einzige belegte bettchen. es war unser bruder, sie hatten ihn festgebunden, an armen und beinen. er schrie sich die seele aus dem leib, ruckte und zuckte mit seinen ärmchen und auch mit dem körper, und seinem kopf. seine händchen waren ganz blau, die handgelenke blutunterlaufen, die augen quollen ihm aus dem gesicht, er schrie und schrie und schrie, kämpfte mit diesen bändern, versuchte immer wieder sich daraus lösen zu können, sein kleiner körper bäumte und stemmte sich, wo er konnte. ich wollte zu ihm, und ihm helfen, aber da stand auch schon eine schwester hinter mir, zerrte mich da weg, und schloß die tür nicht nur, sie verschloß sie. in der vierten nacht hielt ich mir nur noch die ohren zu, ich konnte ihn nicht mehr schreien hören. ich wollte immer wieder zu ihm, und ihm da raus helfen, aber sie fingen mich immer wieder ein. vor zwei jahren machte ich eine der kinderschwestern, die damals ihren dienst dort versahen, ausfindig, weil ich mehr über die zeit wissen wollte, die wir zwillinge die ersten drei jahre unseres lebens dort verbrachten. sie konnte sich an uns zwillinge nicht mehr erinnern, aber an dieses wütend zornige kind. es ist nur eine vermutung von mir, daß es damit zusammenhängen könnte. diese ruck- und zuckbewegungen seiner arme und seines kopfes sind immer wieder wie ein losreißen wollen, und das er ständig etwas ganz laut brüllen muß, wenn er das gefühl hat, daß ihm niemand zuhört, oder das er so brüllen muß, wenn es ganz still um ihn herum ist, weil er diese stille nicht ertragen kann, kann auch darin begründet liegen. stell dir doch mal vor, so ein kind ist ein jahr alt, schreit sieben tage und sieben nächte… ist die ganze zeit festgebunden, niemand ist da in diesem großen leeren raum, sie werden ihn sicherlich gefüttert und gewickelt haben, aber mehr wird nicht passiert sein, die waren alle mit ihm völlig überfordert, da war das festbinden die einfachste variante. als sie uns damals abholten, schrie er auf der rückfahrt im auto immer noch, er war nicht zu bändigen, tobte hinten durch den ganzen wagen, schlug und trat auf alles ein, was sich ihm nähern wollte, keiner durfte ihn anfassen.“ „und was tat unsere mutter als sie seinen zustand sah?, ich mein, sie muß doch die handgelenke gesehen haben.“ „unsere mutter sah das, aber sie tat nichts, und sie sagte nichts.“ „weiß er das eigentlich?“ „ich glaube nicht, wir sprachen nie darüber.“ „und was machen wir jetzt?“ „wir können garnichts machen, wenn wir ihm sagen, daß er sich einen therapeuten suchen soll, rastet er sofort aus.“ „ja, ich weiß.“ „vielleicht bringt es aber etwas, wenn wir ihm das erzählen, er sucht ja offensichtlich einen grund für seine zwänge, denn er konnte ja jetzt nach jahren endlich mit dir wirklich mal offen und ehrlich reden.“ „ja… er stand da vor dem spiegel im badezimmer, und sagte, daß ihn eh immer alle nur aushielten, keiner würde ihn wirklich lieben.“ „und wie hast du reagiert?“ „ich nahm ihn in den arm, sagte ihm, daß ich ihn liebe, daß seine frau ihn liebt, und seine kinder auch, er aber schüttelte seinen kopf.“ „wieso das denn.“ „er sagte, du liebst mich, du bist meine schwester, aber alle andern halten mich einfach nur aus, weil ich ihnen keine andere wahl lasse.“ da war ich erstmal ganz still, konnte nichts mehr sagen, mir ging alles mögliche durch den kopf, auch die tatsache, daß wir vier kinder miteinander aufwuchsen, aber trotzdem jeder seine eigene kindheit mit den eltern erlebte. ich sah die kindheit meines bruders mit meinen augen gesehen an mir vorbei ziehen. er war grausam, in seiner ganzen kindheit und jugend, brauchte jahre, bis er einigermaßen normal leben konnte. die späteren jahre seiner kindheit trugen nicht dazu bei, das erlebte wenigstens etwas auszugleichen, ganz im gegenteil, sie verschlimmbesserten seinen zustand. ich dachte viele jahre über seine ruckartigen hand- kopf- und armbewegungen nach, weil sie mir immer bekannt vorkamen. ich wußte, daß ich sie schon mal gesehen hatte, brauchte aber jahre, um einen zusammenhang herstellen zu können. an irgendeinem nachmittag trafen wir uns zufällig in der markthalle, er hatte frischen fisch gekau
ft, ich bresaola und schinken. er saß mir gegenüber, wir tranken einen milchkaffee, seine hände ruhten auf seinen beinen. plötzlich riß er seinen kopf nach links, die arme schnellten hoch, und mit der rechten hand machte er immer so eine hin- und herbewegung, es war ganz schnell hintereinander eine kurze bewegung, und wie ein schweres, aber doch voller kraft ruckartiges ziehen. in dem augenblick sah ich ihn in dem gleichen bewegungsablauf in dem kinderheim in diesem bettchen. ich sagte ihm nichts, als ich für mich diesen zusammenhang herstellte, ich weiß ja auch jetzt nicht, ob ich damit richtig liege, oder ob es eine falsche einschätzung ist, aber es wäre eine erklärung dafür. ich suche immer nach erklärungen. wenn ich weiß, warum ich etwas tu, kann ich es mir auf andere art und weise ansehen, kann mich anders ansehen, was nicht unbedingt bedeutet, daß ich es dann nicht mehr tu, aber ich weiß dann zumindest, warum das so ist. ich mache mir sorgen um meinen bruder, irgendwie haben wir ja alle eine macke weg, auch ich…. aber um ihn mache ich mir mehr sorgen als um mich, oder meine schwester. meine schwester und ich sind dazu in der lage, hinterfragen und reflektieren zu können, unser bruder kann das nicht, er verweigert sich komplett. was er nicht will, daß will er nicht. er glaubt auch nicht daran, daß er das ändern kann. „bin ich nicht bescheuert?, ich steh am tag zwanzig mal am waschbecken und schrubbe mir die hände.“