Talisker zögerte nicht lange.

[Ging nach Mr. Thimble fragen. der war im Speiseraum hocken geblieben. „Dieser Freund von mir…“ „Mr. Fred?“ „Mr. Meissen, wie sieht der jetzt aus? Hab ihn lange nicht gesehen. Er hat doch noch diese GlennFordFrisur?“ Dann geradewegs zum STAR HOTEL. Man hatte schon angefangen, das Dach aufzuschlagen. Über dem Windschutz des Öffentlichen Telefons und dem Eingang wurde die Markise von der Hauswand montiert. Eigentlich gab es auf eine ehemalige Pension keinen anderen Hinweis mehr als einen handbeschrifteten Zettel innen an der Scheibe des vergitterten Türfensters: Closed, No Vacancies. Talisker klingelte nicht, sondern mietete sich gegenüber im MANHATTAN INN ein. Beeilte sich, im HERALD SQUARE HOTEL auszuchecken. Als er seinen Koffer holte, stand schon die Russin bereit. Der Fahrstuhl war noch nicht gekommen, da huschte sie bereits mit Staubfeudel Eimer Donuts ins Zimmer. Unmittelbar darauf war der hypomane TV-Ton zu hören. Und die Liftklingel schellte.
BILD 075 rechts groß Talisker verstaute seine Sachen im MANHATTAN INN und nahm dann Posten hinter der Scheibe. Er hatte einen Stuhl hergerückt und war halb auf das Fensterbrett gelehnt. Doch brauchte er nicht lange zu warten. Da trat ich heraus. Mr. Thimbs Beschreibung war nicht glänzend gewesen, reichte aber hin. Nur daß ich keinen Anzug trug. Ich hatte meine ältesten Jeans an, einen verschmuddelten Pulli, so zog ich los. Was ich an Wertsachen hatte, ließ ich zurück. Auch den Fotoapparat. Harlem ist kein Zoo. Und unabhängig davon: Wer konnte mit letzter Sicherheit sagen, auf welcher Seite des Käfigs er lebte?
Talisker fuhr in den Mantel. Und kaum war ich um die Ecke des The 8th AVE GOURMET MARKET, nutzte er schon das Hin und Her der Arbeiter und die von ihnen offengelassene Tür, um ins STAR HOTEL hineinzukommen. Niemand achtete auf ihn. Das Direktionszimmer offen leer verwaist. Hacken lehnten am Schreibtisch. Nur eine fette Blonde schlunzte wabernd übern Gang. Hinten fiel Bratfett von ihr ab. „Mr. Talisker wohnt wo?“ Von Wasserstoffsuperoxyd das Haar ganz spröd das Gesicht von Kissenbergen verquollen, dickroter Lippenstift gegen den rechten Nasenflügel verschmiert. Sie schob die Unterlippe vor und stöhnte Talisker fettig die Richtung. Dann verschwand sie im Klo. Ein Tritt genügte, um die Zunge aus dem Schloß zu brechen. Hinter sich lehnte er die Tür wieder an. Dann ließ er sich Zeit.

Ich hatte anfangs das Gefühl, daß jemand mir folgte. Drehte mich paarmal um. Doch da humpelte bloß ein AsphaltCowboy: Dustin Hoffmans frühe Jahre. Ferner waren eine Tunte zu sehen und mehrere Touristen mit Koffern. Eine Zeit lang ging ich einer Frau hinterher, deren Stilempfinden in Sachen Kleidung sicherlich englische Ahnen hatte. Zu einem grünen Rock trug sie ein violettes Damenjackett, ihr rechter Arm hielt eine rosafarbene Aktentasche an die Taille gedrückt, und bis zu den Knien war sie in weiße Mädchenstrümpfe gekleidet, die in gelben Turnschuhen steckten. Aber sie war ja kein Mädchen, sondern mindestens vierzig. Schon tänzelte sie, ja tändelte die elegante weite Freitreppe hinauf, die zur Säulenfront und in das BelleEpoqueInterieur des Post Office führte. Derweil ich zur Subway weiterging, folgte ich ihr in meinen Gedanken. ArtDecoLampen unter der bemalten Holzdecke und die Schalterrahmen verziert. Man bekam von Manhattan einen ganz anderen Eindruck, wenn man die Gebäude betrat. Hier vollendete Repräsentanz sich drinnen, eine architektonische Folge der GalerienIdee. Dies nicht nur in den EntreeSälen der Wolkenkratzer mit ihren manieristischen MarmorFantasien, figurierten Stukkaturen Knäufen Fahrstuhlkörben aus Tausendundeinertechniknacht oder den byzantinistisch sich inszenierenden Romantizismen der 5th Avenue südlich Harlems, sondern östlich noch, besonders nach der Sanierung der Arbeitergegend, und sowieso hüben wie drüben, Central Park East, Central Park West. Es ist durchaus kein architektonischer Schock, aus dem verrufenen Barrio in die anschließenden Schönen Quartiere zu kommen. Wer dort entlang der Wohnboulevards flaniert, den begleiten diskrete Fassaden.
Ich passierte den Glaskasten der MTA: BILD 076 METROTICKET Eine ratter- und scheppergeborene Persephone hockte, massiv aus subterranen Gerüchen gewachsen, in ihrem Dunkel, war bei aller Schwärze pigmentlos. Sei es unwirsch, sei’s traurig, jedenfalls blickte sie, wenn sie ein Ticket herausgab, nicht auf. Ich brauchte keins, zog die MetroCard durch den Schlitz, und das Metallkreuz drehte sich schräg über die Oberschenkel. Schon krachte schallend Metall die silberne Subway Schleifen pfiff sirente. Mit Rattern die Türen des Expreßzuges auf. Lautsprecherscheppern. Die Türen schlugen zu. Paar Leute vorgebeugt unter riesigen walkmanHörern fußwippend stiefeltapp im Rhythmus des Ratterns vor Radau akustisch ausgesperrt. Feindliche Blicke. Kein Lachen im müden Gesicht. Ich erkannte eine der Tänzerinnen, Jackie, glaub ich, fast rituell ernst nun mit ihren großen Kinderaugen. Nicht mehr so schön wie gestern nacht. Auch war sie beim Friseur gewesen. Die aufgesetzte Sattelnase, Sommersprossen, seltsam farblose Augenbrauen. Halstuch-Ensemble Seidentuch schwarz Blüten drauf rot, darunter grün verschlungen Blätter. Mit welcher Sorgsamkeit das arrangiert worden war! Ich grüßte, mein Lächeln verzerrte ihr das Gesicht. Schon der kleinste Flirt konnte als Übergriff gelten. Das machte Weiße so unattraktiv.
Columbus Circle. Die Stripperin verließ die Bahn. Ich sah ihr paar Momente nach. Dann ratterte der Zug in seinem unterirdischen Schacht den Rand des vier Kilometer langen Central Parks lang. Die Nordseite Harlem der See mit paar Enten. Hügelige Grünanlage Scheinnatur paar verschlungene Wege asphaltiert ach wie schade! man hielt die Erde für Schmutz. Immerhin wisperten Dealer und standen sich, zum Staunen unauffällig präsent, die Beine ins Gebüsch. Körbe voller Kirschblüten wurden, wie Schnee, über berittene Polizisten gekippt, flockten auf sie und die Pferdeleiber hinab. Die Dauerläufer auf dem Drive sausten alle mit Kopfhörern rum. Jemand trug, wie ein Geweih, eine komplette Antennenanlage im Haar. Hinter ihrem dreirädrigen Kinderwagen joggte eine weiße Mutti her: frühe Michael-Andretti-Prägung, BabyFormel-1. Und längs über die Kronen der Bäume hinweg, neugierig arroganten Riesen gleich, schauten von beiden Seiten ins Grün Türme und Zinnen und Spitzen bizarrer prunkvoller Hausgestalten. Frisch gemäht rochen die Wiesen, ein ganz enormes Grün leuchtete zu den öden Martin Luther King Towers zurück. Glück hatte wer dort wohnte hatte Pech. Im Pelz eine elegante Brünette. So funny!: den Chihuahua an ihre rechte Hand geleint, an ihre Linke eine Riesendogge. Als sie mich anschaute, der ich downtown meines Parkweges zog, mußte sie selber lächeln. Doch ich saß in der Subway und fuhr hinauf. Ich ging nicht spazieren im Central Park. Schlechter Atem Metallgeruch Gummi. Scharf diagonal St. Nicholas Ave. Den durchnumerierten VertikalPromenaden waren BürgerrechtlerNamen gegeben: Malcolm X., Adam Clayton Powell jr. Ich verwarf die Idee, zur Kathedrale zu schauen. Sie erhob sich an der 110th St westlich Morningside Park. Auf dessen Höhe, vier Straßen weiter, Columbia University und das Denkmal Carl Schurzens. Steil blickte man über die schroffe Klippenmauer hinunter zur Straße. Streifenhörnchen spielten und jagten einander an den Treppen und der Felsquaderwand. Morgens verwirbelte sich Atem dampfig in Kühle. Eines Tages wäre St. John the Di­vine die größte Kathedrale der Welt, Notre Dame überspannend Chartres Köln… Aber der A-Train hielt sowieso erst 125th Street, Sitz des legendären Apollo Theaters.BILD 075 125th Ella Fitzgerald und Dizzy Gille­spie wurzelten hier, heute noch fanden die berühmten JamSessions statt. Es wurden noch immer Genies entdeckt und Schwarze grundlos niedergeschossen. Die Straße selbst mittlerweile saniertes Einkaufsgebiet <bPORTA BELLA Jimmy Jazz kaum höher als vier Stockwerke alles Kästen Säulchen ein Dachfirst. Gegenüber sonntags malte und sprühte wer gefällige Bildchen auf heruntergelassene Blechrollos, das versöhnte mit den Wilden sogar Polizei und lockte weiße Fotojäger. Sonntags war das lebhafte Harlem wie tot, man sah die Damen in weißen Spitzen und schönste Anzüge an Herrn. Den ganzen Tag über Messen Gesänge. Gesänge?!: L o d e r n aus Stimmen Rhythmen gutturaler Lebensjubel. Ich schlenderte, was suchte ich? In den Seitenstraßen waren Fenster zugebrettert und in die Türen Wände gemauert. Rote Feuerleitern an Brownstones, verrostete Feuerleitern an eckig einfach grauem Beton. Im Norden sah man Mietshaushochhäuser. Die standen direkt am Harlem River, der trennte Manhatten von der Bronx. Komisch, es gab keine Taxen mehr… Dann aber sah ich sie doch. Sahen anders aus hier, nicht mehr gelb: bloß ein hinter die Windschutzscheibe geklemmtes Schild wiesen sie als mietbar aus. Im Wind- und Regenschatten eines Ge­schäftes hockte zwischen ihren Mülltüten eine greise Frau. Stieß mit dem Regenschirm unterm Tisch etwas weg, fehlgeleitet aggressiv. Wütend schaute sie zu mir hoch. Blutunterlaufene Augen. Viele Schwarze hatten solch verwischtrote Streifen in ihrem Augenweiß. Aber die Frau erzählte nicht, sie sang! Bewegte dabei die Lippen nicht, nicht mal einen Muskel in ihrem Gesicht, schaute durch mich schon wieder hindurch, als gäbe ihr jemand von hinten den Einsatz. In irgend einem der verfallenen Häuser stand nämlich er, Jens Olsen, und dirigierte, in der Rechten das Stäbchen, zwischen geborstenen Scheiben. Die Stufen der zum ersten Stock hochführenden Treppen eingebrochen. Knochen und Katzenfutter drauf ausgelegt. Die Farbfülle ihrer Holzlackierung nahm den Geschäften die Trübsinnigkeit. Rasterlinien einer Reihe Feuerleitern in Konjunktion. Zahllose Gängchen hinter geöffneten Türen. Plötzlich seitlich entzückend renovierte BrownstoneZeilen, deren Feuerleitern blau. TENANTS AND THEIR GUESTS ONLY. Kinder rannten krei­schend aus einem der Gebäude. Schon verwahrloster, in sich zusammengekrachter Miets­bau wieder.BILD 078 KLEIN BLACK Verbrettert vermauert auch dies. Noch standen Emporen Säulen im Eingang. Wie fehlerhafte Gebisse die Straßenseiten, Gärtchen in Brachen: niedere Gitter, ein Einkaufswagen dahinter Pappkartons Kästen, blühende Beetchen, hellstgrün das Laub eines Baums. Daneben eine Kapelle. Nirgends sah ich so viele Kirchen wie in New York. Es nagelte jemand ein Kreuz an die Tür und begann in seiner Stube zu predigen. Tat er dies gut, füllte sich der Raum. Bald schon hatte sein Entertainment umziehen müssen. Spendengelder flossen, und unversehens war der Mann reich. Wen der Zeigerfinger Gottes berührte, mußte keine Ausbildung haben. BILD 079 FAITH APOSTOLICThe Highway Faith Apostolic Church. Auch sie zugemauert, eine Grabesinschrift ins rechte untere Fenster gelehnt. Graffiti weiß auf der Tür, rohe Bretter über den Fenstern. Mit Verstärkungsbalken quer. Noch wer keine Arbeit hatte, saß stolz auf den Treppen zum Haus hinan. An einer Straßenecke standen am Bordstein Tisch und Stühle, die Männer spielten Domino: Auf die Platte krachten die Steine. AMERICA OUT OF AMERICA Karibik aufgebrochene Muscheln mit Zitronenschnetzeln gereicht aus der Schale geschlürft. Entdachte Krebse. Köstliches rotes Gehirn. Markisen Kleider Stoffe. Niemand trug sich so elegant, wie Farbige das konnten. Richtung Osten unter der Hochbahn zwischen Drahtzaun und Straßenrand ein Flohmarkt für ausgediente Radios Cassetten Klamotten: prüfend hielt eine Frau das ausgewaschene Top ins Licht, derweil mir eine andere Schwarze auf dem Skateboard entgegenfuhr und dabei drahtlos lachend telefonierte. Wie blitzten ihre Zähne! Diese Glut in den Augen! Was such ich? Ach… d a ! !:
Das Haus. BILD 080 Das Haus rechts groß
Es stand seltsam vereinzelt am T-KreuzungsEnde zweier Loser’s Rows, aufgelassen, eine rote Steintreppe ging zum vormals weißen Eingang des halben Stocks. Alle vier Etagen offenbar unbewohnt; Fenster sämtlichst verbrettert, der Dachstock sogar weggegrissen. Möglicherweise ausgebrannt. Rechts daneben ein anderthalbstöckiger Zweckbau, vielleicht Lager, Büro vielleicht, und links langte ein scheußliches Fabrikhaus zum Himmel. Ziemlich interessiert blieb ich stehen. Hatte abermals das Gefühl, verfolgt zu sein. Was das so widerwärtig machte, war, daß ich auf dieser Straße allein war. Es war überhaupt keiner zu sehen, nicht einmal Kinder, kein Auto; auch zu hören war nichts. W e n n ich beobachtet wurde, dann von hinter Scheiben Gardinen. Wie Hagel prasselten Blicke auf meine Haut. So stand ich da. Endlich gab es Bewegung. Ein Cadillac glitt an das widerspenstige Haus heran. Ein ziemlich eleganter Weißer stieg aus. Er trug einen Lodenmantel und Pelzkappe. Schritt die roten Stufen hinauf. Hatte eine blaurot gestreifte Plastiktasche bei sich. Die trug er nicht, er schleppte sie. Er klopfte. Klopfte noch mal. Maestro Chopstick öffnete ihm.

(wird fortgesetzt.)
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Alban Nikolai Herbst, In New York, Manhattan Roman.]

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