Die Kinder der fünften Klasse beginnen in Geschichte mit einer Betrachtung der Zeit als einem Strahl. Sie tragen die christliche Zeitenwende ein, sie tragen die Jahrtausendwenden auch rückwärts bis etwa Echnaton ein. Dann sollen sie die beiden wichtigsten historischen Ereignisse der letzten Jahre eintragen und bekommen dafür den Fall der Berliner Mauer genannt und die Zerstörung der World Trade Towers. Als mein Sohn mir das zeigt, frage ich ihn: Was hat euch die Lehrerin denn über 9/11 erzählt? Hat sie Hintergründe erzählt, hat sie von den Unsicherheiten erzählt, die es bei der Untersuchung des Terrorangriffs gab und weiterhin gibt? Hat sie von den vorhergegangenen Kriegen im Bereich des Golfs erzählt? (Kurze Erklärung, was der Golf sei.)
Daß die Lehrerin als eines der bedeutendsten historischen Ereignisse der jüngsten Zeit den Mauerfall hinsetzen läßt, ist klar für jemanden, der in Deutschland geboren ist und hier sozialisiert wird. 9/11 hingegen weckt Zweifel. Ich frage meinen Jungen, ob nicht ein Krieg direkt in Europa eigentlich bedeutsamer für uns sei, ob nicht, daß sich auf dem Balkan über Jahre die Menschen hingeschlachtet haben – in direkten Nachbarländern Italiens, das wir so gerne besuchen -, für uns eine viel größere Bedeutung haben müsse? Daß so etwas nach wie vor bei uns geschehen könne.
Er hört zu, und er nickt.
Und hat euch die Lehrerin von der Außenministerin Albright erzählt, die v o r 9/11 den Tod von 500.000 Kindern als etwas erklärt hat, das man „halt hinnehmen“ müsse in einem Krieg für das Gute? Nein, davon wurde nichts erzählt. Und meinst du nicht, mein Junge, daß diejenigen, die den kriegerischen Vernichtungschlag gegen die World Trade Towers geführt haben, mit gleichem Recht sagen könnten: die 3500 Getöteten seien etwas, das man halt hinnehmen müsse? Und daß auch die ihren Krieggrund für das Gute hielten?
Indem die Lehrerin ihre Schutzbefohlenen unerklärt Mauerfall und 9/11 als geschichtliche Symbole eintragen läßt, vermittelt sie nicht ein geschichtliches Wissen, sondern stanzt Ideologie in die Kinderköpfe. Man muß sehr aufpassen als Elternteil.
Als hätten die Terroristen des 11. September irgendetwas mit dem Tod von irgendwelchen Kindern auf der Welt zu tun gehabt.
@Keuschnig. Ich spiele auf den Sachverhalt an, daß es für die von den USA verschuldeten Kriegsopfer der Golf-Region nicht eine einzige Trauerkundgebung gegeben hat; die Angriffe der Terroristen, wenn es denn solche waren – auch hier herrschen nach wie vor Unklarheiten wie um die Zerstörung der Türme selbst, die Diskussionen werden Ihnen bekannt sein – richteten sich gegen ein Handelszentrum und gegen das Zentrum der US-amerikanischen Kriegsführung, nicht etwa gegen soziale Einrichtungen usw.; sie haben insofern einen enormen Symbolwert. Wogegen sich mein Einwenden aber vor allem richtet, ist, daß so getan wird, als wären wir getroffen worden und nicht eine seit Ende des Zweiten Weltkriegs quasi unentwegt kriegführende Nation, die sich im übrigen nach wie vor weigert, seine Soldaten einer Völkergerichtsbarkeit zu unterstellen. Uns hat in der Tat mehr der Balkankrieg zu interessieren, da sind tatsächlich wir betroffen. Und daß der 11. September n i c h t s mit dem Tod „irgendwelcher“ (das können Sie wirklich nicht ernsthaft so geschrieben haben, schon gar nicht bei der Z a h l) Kinder zu tun habe, scheint mir in keiner Weise gesichert zu sein. Der 11. September hatte, den Verlautbarungen der angeblichen oder tatsächlich dafür verantwortlichen Kriegspartei zufolge, etwas damit zu tun, daß man sich gegen Demütigung und Unterdrückung und sehr wohl auch kriegerischen Mord zu Wehr setzte – wenn man denn der entsprechenden Rhetorik glaubt. Es gibt keinen Grund, ihr weniger zu glauben als den Verlautbarungen der US-Amerikaner, vor allem nicht dann, wenn man von Korea über Vietnam, Chile, Panama, die Golfkriege usw. sich die Geschichte der USA anschaut, die schließlich noch in das grob völkerrechtswidrige Guantánamo hineinführte. Die Aussage von Mr. Allbright ist im übrigen verbürgt und dokumentiert; allein sie wäre ein Grund für eine kriegerische Intervention gewesen. Wie die dann auszusehen gehabt hätte, ist eine Frage, über die immer wieder diskutiert wurde und weiterdiskutiert werden wird, also über den Wechsel der Kriegsformen von solchen der klassischen in die „modernen“ Formen des Guerillakriegs. De facto hat sich gerade die Kriegführungsdoktrin der USA mit der besonders von den Deutschen betriebenen Barbarei des Zweiten Weltkriegs zunehmend der Verletzung von Zivilbevölkerung zugewandt, sie ist unterdessen das eigentliche Ziel moderner Kriegsführung. Wie einen da verwundern kann, daß der Gegner seinerseits Zivilbevölkerung attackiert, ist mir ein Rätsel. Aber das stand und steht in meinem Beitrag gar nicht zur Diskussion.
Vielleicht aber stehen Sie mit den Terroristen auf vertrauterem Fuß als ich und wissen mehr Hintergründe, als man sie zu lesen und öffentlich erzählt bekam, und müssen nicht nur glauben wie ich, was man Ihnen sagt – oder glauben es eben nicht. Abgesehen hiervon ist der Aufbau talibanischer Freischärler ein taktisches Ziel der USA gewesen, um sich nämlich gegen die seinerzeitige USSR Zufahrtswege nicht verbauen zu lassen. Die USA kommen mir ein bißchen wie Goethes Zauberlehrling vor – nur daß es den alten Hexenmeister nicht gibt, der nun Rettung brächte.
Werter Herr K., Sie sollten es halten wie der Kleine von Herbst. Zuhören und nicken. Folgen Sie Ihrem Evolutionsprogramm und nutzen Sie die Möglichkeit des Löschens. Dann aber beginnen Sie mit der ersten Nickeinheit.
War mir völlig klar, HölderLine. Auf wessen Seite Sie stehen. Hauptsache, es ist ein Sieger.
Es ist aber keiner, warten Sie nur ab.
Sie haben zwar recht.
Aber der Kleine hat leider den größten Ideologen als Vater, der sich denken lässt.
@Sate. Mir scheint es im Gegenteil, daß Sie die Ideologie intus haben, nur daß Sie das halt nicht merken und glauben, auf der richtigen Seite zu stehen, indes ich sage: Es gibt wahrscheinlich gar keine richtige Seite; es ist lediglich eine Frage der Perspektive, was gut sei und was nicht – auch eine Frage der kulturellen Determination. Genau das steht so auch in meinem Text; ich klage gleiches Recht für beide Kriegsparteien ein. Das kann ich nicht sehr ideologisch finden, es ist eher skeptisch. Abgesehen davon hat mein Junge mit seinem Vater schon Glück – besser jedenfalls, als hätte er einen, der ins Messer jeder westlichen Propaganda läuft und sein Kind dadurch zum Replikanten werden läßt.
Aber imgrunde finde ich – zumindest so lange Sie so feige sind, solche Sachen anonym zu kommentieren, anstelle mit Klarnamen -, daß weder das Verhältnis zwischen meinem Sohn und mir hier zu diskutieren ist, noch daß Sie überhaupt eine Ahnung haben – es sei denn, Sie kennten mich persönlich und wären auch Zeuge meiner Vaterschaft und seiner Sohnesschaft. Das möchte ich aber erst einmal nicht annehmen. Ist auch besser für Sie, Sie spüren ja selbst, daß es sicherer ist, aus dem Gebüsch zu denunzieren.
Es hat schon was Bizarres, wie Sie die Ideologie der USA wiederkäuen. Internalisierte Opferhaltung: Identifikation mit dem Sieger. Wahrscheinlich ist Obama auch I h r Präsident, und Europa liegt irgendwo in Südasien. (Wären Sie US-Amerikaner, wäre es etwas anderes. Sind Sie aber wohl nicht.)
Nein, nein, Sie verstehen mich total falsch. In Sachen Amerika etc. bin ich vollkommen Ihrer Meinung. (Auch wenn ich finde, dass Sie den Jungen damit überfordern.)
Mit Ideologie meine ich Ihre Kunst, Ihren Ästhetizismus, Ihre Sexualität.
Im Übrigen behalte ich mir vor, genauso anonym zu bleiben, wie viele Ihrer Dschungel-Mitschreiber.
@Sate. Eine Haltung zu haben, eine Überzeugung zu haben, selbst einen Glauben zu haben, bedeutet noch keine Ideologie.
Die auch für mich anonymen Mitarbeiter attackieren mich nicht, ich habe nichts gegen Nicks. Aber wenn gekämpft wird, erwarte ich, daß man vor der Tjost das Visier hebt; das ist einfach guter Stil. Wenn mich einer meiner anonymen Mitarbeiter angreift, ist es nie einer gewesen, von dem ich nicht gewußt hätte, wer es ist; viele Diskussionen hier werden zwischen uns auch Auge in Auge ausgetragen. In den Fällen handelt es sich nie um Häme oder Denunziation. Das ist bei anonymen Gästen prinzipiell anders. Ich spreche hier von solchen, die nicht argumentieren, sondern behaupten und ihre Behauptungen mit persönlichen Diffamierungen verbinden.
die knall- und fall-ideologie des verkaufens… fiel mir grad dazu ein. zusammenhänge bleiben dann außen vor. das kompliziert das geschäft. [selbstironisch das meine: weil in die zusammenhänge hineinknallend (euphemismus)].
Das sehe ich auch den sogenannten Butterfly-Effekt. Ein Ereignis auf der anderen Seite der Welt beeinflusst unser Handeln und Geschehen hier. Genau das ist am 11. September passiert, dass uns Deutsche an sich ja nicht betroffen hat.
Ciao Jule