Seiltanz. 04. 12. 2009. Paul Reichenbach. Notizen.

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Ich habe Seile gespannt…“ (Rimbaud)

Wer auf dünnem Seil zwischen Gefundenen und Erfundenen tanzt, braucht, um der Gefahr permanent drohenden Absturzes zu entgehen, einen besonderen Gleichgewichtssinn. Einen Sinn, der Wittgensteins berühmtes Diktum – „Die Welt ist alles, was der Fall ist“ – ausblendet. Nur so ist das labile Gleichgewicht zwischen Realität und Fiktion zu halten, das Entdeckungen und Erfindungen im Bereich von Wissenschaft und Technik ermöglicht und auch Kunst generiert. Künstlerinnen und Künstler, sofern sie sich nicht an Agitprop verkauft haben, sind in der Regel sich dessen bewusst. Ihre Wanderung zwischen wissenschaftlich-analytischen und erzählerisch-magischen Phänomenen ist ein einziger Testlauf, der die Schwerkraft, die die Dinge an die Oberfläche bindet, aufheben will. Das unterscheidet sie von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern denen naturgesetzliche Bindung Voraussetzung ihrer Arbeit ist. In der Welt der Wissenschaft ist alles das der Fall, was sich an Tatsachen und deren „vernünftigen“ Perspektiven orientiert. Die Tode von Menschen, auf die Spitze getrieben, – zugegeben, das klingt etwas denunziatorisch -, sind für sie im rationalsten Fall Zelluntergänge. Kunst dagegen sieht Utopien oder zeigt Tragödien.

Die Pferde des Himmels kommen aus den Höhlen von Kushanas, die Rücken geformt von Tigerpranken, die Knochen gemacht für Drachenschwingen. (Li Po)

Für die Griots Westafrikas und die Erzähler des Bazars, für Schriftsteller und Künstler allerorten gelten andere Kategorien von Wahrheit als für PC – Spezialisten, Physiker oder Historiker. Geschichten aus archaischen Perioden und Abenteuererzählungen, nacherzählt in vielen Kneipen und auf den bunten Märkten der Welt, flüstern oft grenzgängerisch vom Unnennbaren, das keiner Quellenkunde bedarf. Hier und heute hat alles seinen Ort, an dem es stattfindet und alles seine Zeit, in der es stattgefunden hat. Begriffe wie Zeit und Horizont, die dazu geschaffen sind, um die Sicherheit eines Messsystems in Händen zu halten, das Rahmen und Referenz aufbaut, in die wir uns selbst einordnen können, sind aber nur reine Konstruktionen des Denkens. Ihre immanente Magie beziehen sie nicht aus den Wissenschaften, sondern intravenös aus Phantasien beflügelter Pferde, welche von Reiterinnen und Reitern geritten wurden und werden, die schon seit Jahrtausenden in den Verstecken des Realen die Wirklichkeit des Irrealen entdecken. Sie berichten von Ort – und Zeitlosen. Die “waffenlosen” Amazonen und rüstungsarmen Ritter des Pegasus gestalten jene kaum sichtbaren Linien zwischen Da und Dort, heben sie ins Bewusstsein. Den fast unfixierbaren Momenten zwischen „Es war einmal“, Jetzt und Gleich verleihen sie Laut, Bild und Wort. Ungeschützt.

Bildquelle >>>>>H I E R

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