Mneme & Anamnesis. 08.12. 2009. Paul Reichenbach sentimental.

Das Vergessen ist eine der Formen des Gedächtnisses,
sein weites Kellergeschoß ( su vago sótano),
die geheime Kehrseite der Münze.“
Jorge Luis Borges

Keine Sorge, ich werde heute nicht über Gedächtnis und Erinnerung spekulieren, auch nicht über Aristoteles, der die zwei Worte einst in seine Terminologie gegossen hat, wo sie bis heute, nicht nur der Philosophie nützlich, die Zeiten überdauert haben. Ich komme drauf, weil ich Herta Müllers eindrückliche Nobelpreisvorlesung heute in der FAZ gefunden habe. Es mag sein, dass einige „Westler“, der Begriff ist älter als man heutzutage meint, er kommt ursprünglich aus der russischen Literatur und Politik des 19. Jahrhunderts, mit der Rede von Frau Müller nichts anfangen können, weil ihnen die Erfahrungen des Totalitarismus erspart geblieben sind. Mich aber hat ihr Vortrag wieder sehr bewegt. Eine solche innere Bewegung ist mir auch am Sonntag bei einem Kirchenkonzert von Kosaken geschehen. Orthodoxe Kirchengesänge und deutsche Weihnachtslieder, halten sie mich ruhig für bekloppt, trieben mir Tränen in die Augen. Ein Unmenge Bilder und alte Traumata sind da aufgestiegen, die sonst vom Alltag souverän an den Rand des Vergessens gedrängt werden. Vorweihnacht, präziser gesagt, am 21.12. 1979 in einer Einzelzelle im damaligen Karl-Marx –Stadt. Ich weiß nicht, ob meine Frau verhaftet ist, weiß nicht was mit unserem Kind ist. Kein Brief, der beruhigen könnte. 3 Monate wird es überhaupt keine Post geben. Stattdessen feiert das “Neue Deutschland” den 100. Geburtstag von Stalin. Das war nach Wochen die erste Zeitung, die sie mir in die Zelle schmissen. Aus der Ferne bläst ein Posaunenchor Gerhard Tersteegens „Ich bete an die Macht die Liebe“. Ein Choral, der, aus welchen Gründen auch immer, von einem Russen vertont worden ist und der Napoleons Widersacher Zar Alexander zu Ohren kam, der ihn in den russischen Zapfenstreich verfügte, von wo er dann seinen Weg in den Gute- Nacht – Gruss des preußischen Militärs gefunden hat. Es ist seltsam, dass in bestimmten seelisch aufgeladenen Situationen kritischer Verstand durch Sentimentalität ausgeschaltet wird. Erinnerung ist eben nicht nur Sache des Verstandes, der sich normalerweise zum Beispiel beim Zelebrieren des „Großen Zapfenstreichs“ gegen dessen militärisch verduselte und verkitschte Gefühligkeit gut zu wehren weiß.

<a href=”“>>>>>

2 thoughts on “Mneme & Anamnesis. 08.12. 2009. Paul Reichenbach sentimental.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .