6.48 Uhr:
[Am Terrarrium.]
Gestern morgen fiel noch einmal Schnee und blieb bis in der Vormittag auch auf den Dächern liegen. Dann setzte der Regen ein, der den Frühling bringt. Einst bewässerte er die jungen Saaten, heute besorgen das Maschinen in Gewächshäusern; man muß davon ausgehen, daß die Pflanzen, die wir essen, schon nicht mehr auf dem Naturkreislaufswege entstehen, sondern industrielle Erzeugnisse sind. Weshalb ein Wetter nicht mehr als Segen oder Fluch empfunden wird, allenfalls noch als lästig. Man wird das Wetter abschaffen. Möglicherweise i s t es das längst: abgeschafft. Wir aber wissen noch nichts davon. Die’s aber ahnen, werden Narren genannt.
Kinderwache. Die Kleinen schlafen hier neben mir auf dem großen Bett; sie kamen gegen halb sechs aus ihren Bettchen; der Große war gestern abend mit zwei Freunden abgeschossen, die übernachten zusammen, heut um 13 Uhr sollst Du zurücksein für Schularbeiten und Cello; abends werden wir zwei Männer ins Konzert gehen: >>>> Gielen dirigiert Tschaikowski und Mahler (Kindertotenlieder… lange nicht mehr gehört, weder Gielen noch die Kindertotenlieder; Gielen hat mein Opernverständnis geprägt, in den Achtzigern, Frankfurtmain, die Oper war immer voller Studenten gewesen, was den Stadtvorderen danach dann ein Dorn im Auge des bürgerlichen Fleischs). Für mich selbst liegt eine Pressekarte da, ich will ja drüber schreiben; Dich hingegen werd ich durch den Bühneneigang hineinschmuggeln; es gibt ganz sicher noch freie Plätze; ich bin momentan ökonomisch zu klamm, um Zusatzkarten kaufen zu können. So hat es Vorteile, „bekannt” zu sein.
Wegen der Klamme unterbreitete mir Eisenhauer, der gestern mittag einmal wieder zum Thai einlud, einen Vorschlag: „Bitte, wenn Du in Der Dschungel >>>> auf diese Site hinweisen würdest, fest in den Literaturlinks, dann geb ich dir 50 Euro pro Monat” und schob einen Schein auch schon her. „Schau dir bitte an, ob du die Inhalte vertreten kannst.” Ich meine, ich hätte das auch ohne Bezahlung gern getan, jetzt, wo ich da mal stöbre… und stöbere gleich weiter, eine >>>> Einladung von textunes kam. Interessant. Nur daß ich an dem Messedonnerstag um zehn bereits einen Termin h a b e.
Die Zwillingskindlein wollten Musik hören. „Schön so?” Mit den hellen Stimmchen: „Ja, Papa.” Jetzt spielen sie auf dem Bett herum, lassen mich tippen, fragen von Zeit zu Zeit mal. Auch die Einladung zur Vorstellung des neuen horen-Bandes kam; ich soll die Vorstellung mit durchführen. Ehrenvoll. Da die Titelgestaltung noch ein Geheimnis bleiben soll, verlinke ich auf nichts davon, werde die Veranstaltung aber ebenfalls noch annoncieren, wie meine eigene, Buchmessendonnerstag, 18.3., 12 Uhr, Lesecafé Halle 5 A200.
Ans Cello um neun, dann rüber in die Arbeitswohnung. Mal sehen, was ich gebacken krieg. Ob was. Bin noch ein wenig verstört.
10.47 Uhr:
[Arbeitswohnung.]
Nun ans Cello. Ein >>>> nächster Brief Melusines ist da. Ich werde am Nachmittag antworten. Nachdem ich rasiert bin und gekleidet.
Unabsichtlich aber habe ich gestern شجرة حبة verletzt. „Kollateralschaden”, schrieb sie eben. Wir leben alle in eng verzahnten Zusammenhängen, man kann nicht „rein” halten. Je mehr man dies möchte, um so verzahnter w i r d es. Der Diener des orientalischen Herrn, der träumte, er werde heute nacht sterben. Sein Herr rät ihm, das Haus zu verlassen, nach Bagdad zu fliehen, wo er am Abend sein kann. Er tut’s. Nachmittags geht der Herr im Garten spazieren und trifft erschrocken den Tod. „Jetzt schon?” fragt er ihn. „Nein”, antwortet der Tod, „dazu ist noch keine Zeit. Ich muß mich nämlich beeilen, weil ich am abend eine Verabredung in Bagdad habe.” (Ich erzähle diese Geschichte aus der Erinnerung. Sie trug sich so zu.)
12.10 Uhr:
[Nach dem Cello.]
Interessant, wie festgebissen sich >>>> Betty B. , ein bekennendes Groupie Ben Beckers, in meine Waden festgebissen hat. Ich kann von Glück sagen, daß es nicht meine Eichel ist, was ihre Zähne reizt.
15.49 Uhr:
[Tschaikowski, Manfred-Sinfonie.]
Bekennende Nichtraucherin >>>> a u c h noch… also wenn es eine Frau sein sollte, was ich bezweifle, obwohl Αναδυομένη eben skypte, doch doch, das sei schon eine Frau ihrer Meinung nach – und sie fügte hinzu: „Wie armselig!” Daß diese Kommentatorin „selig” sei, glaub ich aber nicht: es ist kein Lächeln bei ihr. Verknusteter Säkular-Protestantismus, der mit Pop voll verschmiert ist, ein Ben-Becker-Groupie halt, wie ich heut mittag schon schrieb, bevor ich sehr gut schlief.
Ich sollte aber mal was Ernsthaftes tun. Immerhin hab ich vorhin >>>> meine Facebook-Seite aktualisiert. Damit sich’s da auch lohnt.
In der neuen >>>> Volltext ist übrigens meine Clara-Grosz-Erzählung erschienen.
17.08 Uhr:
Jetzt bin ich frisch rasierter, geduschter und eingesalbter >>>> „Alkoholiker in einem demenziellen Endstadium”, wie es dieser entzücken daueranonyme Gegner eben und damit erneut auszudrücken beliebte. Aber einmal im Ernst: Wenn meine Gegner den Mumm hätten, ihre Attäckelchen mit Klarnamen offen gebotener Stirnen auszuführen, ließe ich sie sogar dort stehen, wo sie hingesetzt werden; ich ersparte mir die ganze Arbeit der Antiherbstelei, und wenn diese Gegnerchen dann noch Links auf ihre eigenen Webpräsenzen legten, hätten Leser zumindest die Möglichkeit, die Werke, um die es geht, und auch die Haltungen zu vergleichen und dann ein wenigstens einigermaßen begründetes Urteil zu finden. S o aber bleibt es bei der immergleichen Denunziererei; wer ihr nachgeht und dabei den Pop verteidigt, nun ja, der tut ihm, denke ich, einen ziemlichen Tort an. Man erkennt, was etwas sei, immer an denen, die sich zu seinen Gefolgsleuten machen. – Jetzt zieh ich aber mal los. Ich freue mich sehr auf >>>> das Konzert nachher und werde morgen davon erzählen. Tolles Bild von Michael Gielen, übrigens, dessen Autobiografie hier leider immer noch ungelesen im Regal steht.
Der Diener des Herrn In welchen, in Bagdads Namen, in welchen Zeiten leben S i e? Warum nur fliehen Sie beständig in den bleiernen orientalisichen Romantizismus? So werden Sie nie herausfinden, was die Schönheit der Gegenwart ist.
@BettyB. Ich suche doch überhaupt nicht nach der Schönheit der Gegenwart. Vielmehr scheinen S i e zu suchen, aber ausgerechnet und immer wieder bei mir. Sie werden dabei noch verhungern. Es kann aber sein, daß Sie genau das anzieht: der Hunger.
Im übrigen stimmt schon diese Zusammenstellung nicht: bleiern – orientalisch – Romantizismus; keines der drei Wörter hat mit je einem der anderen mehr zu tun als vielleicht das, was S i e damit herstellen. Allenfalls gäbe es einen Zusammenhang über die Wiener Sezession, wohl auch noch über die Präraffaeliten, aber da würde dann „bleiern“ nicht passen.
Es gibt keine Schönheit der Gegenwart, die anders ist als die Schönheit der Vergangenheit oder eine Schönheit der Zukunft, um das mal s o banal herunterzubrechen, wie Ihre dauernde Klage es erheischt. Es gibt Schönheit, Punkt:. Die erscheint in einer Komposition >>>> Scelsis ganz ebenso wie in einer Johann Sebastian Bachs, oder in einem Lied Henry Purcells oder Leonard Cohens, einem Gedicht Goethes oder einem Gedicht Christa Reinigs, einem Roman von mir oder einem von Flaubert.
(Selbstverständlich ist mir klar, worauf Sie permanent abzielen: Sie glauben an Freiheit. Ich glaube an Freiheit n i c h t – jedenfalls in keinem anderen Sinn als dem einer Empfindung.)