Fröstelndes, durchgegripptes Arbeitsjournal. Mittwoch, der 2. Juni 2010. Mit der See.

8.23 Uhr:
[Vaughan Williams, A Sea Symphony.]
Die intensivste Aufnahme dieses Stücks, das ich heute zu meiner Musik des Tages machen möchte, ist für mich nach wie vor >>>> die Einspielung unter Adrian Boult, die ich noch als eine EMI-Vinyl-Pressung von 1968 habe. Ihr Frequenzgang ist hörbar weiter als der der nachproduzierten CD, um von der mp3-Version zu schweigen, die aber derzeit die einzig erhältliche Fassung der Boult-Einspielung zu sein scheint.
Ich habe zu englischer Kunstmusik ein eigenartiges Verhältnis, ich empfand sie immer als etwas Gesondertes, aus der Zeit Herausgehobenes, und zwar schon zu Zeiten, da ich tonale Musiken noch gänzlich ablehnte. Zwei Sinfonien Vaughan Williams’, nämlich Nr. 1 und 2 von neunen, sind für mich große, packende Musik von allem Anfang an, da ich sie hörte, geblieben, ebenso die Liedzyklen: On Wenlock Edge & Songs of Travel, auch die kleineren volksliedhaften Lieder. All diese Musik ist irgendwie „verspätet” volltonal, man hört, wie auch bei Britten, den Renaissance-Einfluß, doch anders als der, den Impressionismus und Neoklassizismus prägten, setzt Vaughan Williams fast ungebrochen die Spätromantik fort. Wie bei Sibelius gab es auf dem Kontinent viel Ablehnung dafür – kunstphilosophisch-ideologische Tabus usw., die aber allmählich ins stehende Wasser der Vergangenheit zurückgleiten. So daß wir jetzt gleichzeitig, jenseits aller Grabenkämpfe, hören können.

Mich hat die Grippe erwischt, oder ein grippaler Infekt, sowas. Ich bin wie unter Drogen, alles geht sehr sehr langsam, Gliederreißen, Halsschmerzen, von halb fünf Uhr morgens bis sieben Uhr morgens lag ich, die Hände aufeinander zwischen den Knien, auf der Seite und zitterte und hatte Träume. Mir träumte ein Erreger, der aussah wie ein aktenkoffergroßer schwarzer Kasten, der mit anderen Kästen über eine elektrische Leitung verbunden war. Versuchte man, den ersten Kasten zu vernichten, entstanden an den Enden der in Reihe geschalteten Kästen sofort weitere Kästen; ich wußte, ich müsse sehr vorsichtig sein. In den zweieinhalb Stunden isolierten wir langsam die Kästen, indem wir schuß(!)sicheres Glas darüberstülpten; das mußte so vorsichtig geschehen, wie ich hier, wenn eine Vinylplatte abgespielt wird, über den Schwingboden stolziere: eine unbedachte Bewegung, und der Tonabnehmer springt. In d e m Fall explodierte der Viruskasten, denn, das wußte ich, das war er, waren s i e: Viren in Kastenform. Dazwischen sackte ich immer wieder in Schlaf, wachte auf, und immer standen diese Kästen vor mir.
Dennoch, ich brachte den Brief an die Schule meines Jungen hinüber, nachdem ich Metavirulent und gegen den Halsschmerz Dolo-Dobendan genommen hatte. An sich sei das ein spannender Zustand, sagte die Löwin eben am Telefon: man müsse diese Trances leben und so viel davon mitnehmen und behalten, wie nur gehe. Dazu müßte ich allerdings ins Bett. Was nicht geht, weil mein Bub jetzt hier ist und seine Schulhefte in Ordnung bringt. Er arbeitet konzentriert, schreibt, prüft; es ist sehr schön, ihn dabei anzusehen. Momentan verbessert er einen Aufsatz. „Stört dich die Musik?” frage ich. „Aber nein”, sagte er und singt den Vaughan Williams sogar stellenweise mit.

Do hat Geburtstag, da will ich unbedingt anrufen, obwohl ich nicht weiß, ob sie nicht verreist ist. Ich will ans virtuelle Seminar, wo jetzt auch schriftlich >>>> eine Diskussion fortgesetzt wird, die uns in den Realseminaren ohnedies immer begleitet. Ich will mich dazu nachher äußern. Dann geht es weiter an die Überarbeitung der Kleinen Blogtheorie für das Buch im Herbst. Die Texte sind teilweise kniffliger, als ich in der Erinnerung hatte.
Alles ist so komisch verlangsamt, ich tippe wie auf Samt, und wenn meine Fingerspitzen die Tasten berühren, gibt es ein Jucken, das kühl in die Handgelenke hochzieht. Der Profi hatte recht: ich hätte, als ich vorgestern nacht völlig durchweicht hier wieder ankam, heiß duschen sollen. Ich mochte aber nicht. Hab ich schon erzählt, daß der von Vaughan Williams in seiner Sea Symphony vertonte Text von Walt Whitman stammt?On the Beach at Night Alone.Pfefferminztee. Heiß.

10.21 Uhr:
[Vaughan Williams, A Sea Symphony (Boult).]Was für ein schönes Kind ich habe! Und was für eine schöne Musik das ist!

O my brave Soul!
O farther, farther sail!
O daring joy, but safe! Are they not all the seas of God?
O farther, farther, farther sail!

Wie diese Musik im leichten Dünen verklingt. Dazu der leichte Kopfschmerz. Dazu das bißchen Fieber. Trance Trance.

5 thoughts on “Fröstelndes, durchgegripptes Arbeitsjournal. Mittwoch, der 2. Juni 2010. Mit der See.

  1. all das um sie rum, kein wunder
    “krankheit als weg”, kennen sie dieses buch?
    ist umstritten, aber warum wohl.
    la réalité est toujours obscure

    schwarze aktenkoffer
    erinnern mich an die aktentasche,
    die man vor ein paar jahren in einem keller
    in hanau fand, mit papieren einer frau,
    die in berlin eine berühmte schrift gegen
    den nationalsozialistische diktatur verfasst hatte,
    doch niemand wusste, dass sie es war, bis zum fund
    elisabeth schmitz,
    es gibt nun eine biographie von ihr.

    berlin.

    schwarze aktenkoffer, ein bild auch für
    sippenarchive, sie und ich sprachen, nein,
    schrieben schon darüber
    bilder sind manchmal wahrer
    als wir wollen
    aber wem sag ich das.
    zumindest wollte ich mitteilen:
    gelesen, nachgedacht

    in göttingen detonierte eine fliegerbombe
    ich nenne das “hitlers langer schatten”

    gechätzter anh,
    heilung ohne medikamente hat was,
    denn dann bleibt man so lange wie nötig
    in der heilsamen trance

  2. Eine winzige korrektur … sie schrieben, ich zitiere:

    „Mir träumte ein Erreger, der aussah wie ein aktenkoffergroßer schwarzer Kasten, der mit anderen Kästen über eine elektrische Leitung verbunden war. Versuchte man, den ersten Kasten zu vernichten, entstanden an den Enden der in Reihe geschalteten Kästen sofort weitere Kästen; ich wußte, ich müsse sehr vorsichtig sein.“

    Sie kennen sicherlich noch die billigen Weihnachtsbaumbeleuchtungen aus den sechzigern & siebzigern Jahren, wo wenn ein Glühbirnchen ausfiel, gleich die gesamte beleuchtung ausfiel und Oma darauf fast in Ohnmacht fiel. – Der fehler bestand darin, dass diese ollen weihnachtsbaumbeleuchtungsketten in Reihe geschaltet waren, und eben nicht parallel.

    Eine kurze Ergänzung für Nicht-Elektroniker:

    Unterbricht man den Stromfluss in Reihe geschalteter Glühbirnen, so unterbricht man automatisch den gesamten Stromfluss; fällt hingegen in einer parallelschaltung nur eine oder auch mehrere Birnen aus, so ist der Stromfluss für die übrigen Birnen dennoch gewährleistet! – Erkennbar ist dies an der Leitung, die zwar aussieht wie ein Kabel, sich bei näherem hinsehen jedoch als doppel-adrige Leitung entpuppt. Klingt irgendwie logisch, denn bei einem in Reihe geschalteten Stromkreis bedürfte es demnach nur einer leitung.

    Ansonnsten wünsche ich ihnen selbstverständlich gute besserung, und bitte mißverstehen sie mich nicht als kleinisch.

    1. scheiss Dativ … ich sollte meine Texte vielleicht doch hin- und wieder selbst korrektur lesen …

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