10.28 Uhr:
[Konzerthaus Berlin, Großer Saal.]
So, das Haus füllt sich, auch bereits der Publikumsraum, auch wenn das auf dem etwas früher als jetzt aufgenommenen Bild noch nicht so aussieht. Auch in den Rängen sitzen Leute. Wobei d i e s e Generalprobe höchst widerborstig ist: nicht nur, daß es ungewöhnlich ist, morgens eine Generalprobe zu haben, die eigentlich vollen Einsatz bedeutet, wenn bereits am Abend die Premiere stattfindet; nein, aus demselben Grund, werden die Sänger ihre Stimmen kaum über DrittelKraft nutzen; Daniel Kirch fragte mich eben: „Was meinst du, soll ich vielleicht besser ins Orchester singen, damit man mich da überhaupt versteht?“ Das will er, logisch, mit Zagrosek kurz abgleichen. Dann: Diese Generalprobe ist die erste Probe überhaupt, in der sämtliche Mitwirkenden das erste Mal richtig aufeinandertreffen; es hat in der Kürze der Zeit auch nie eine andere Durchlaufprobe gegeben. Hunderte Tücken sind hier jetzt versteckt, fünfhundert Fallen; dazu kommt das nach wie vor bestehende Problem der Dynamik, sowohl der Binnendynamik als auch der des Stücks insgesamt…
Ah…. Zagrosek kommt eben herein, verschränkt die Arme, schaut ins Orchester…. e i n Ton… Stille.
„Also einen schönen guten Morgen. Meine Damen und Herren, die Sänger werden jetzt nicht aussingen, das ist eigentlich selbstverständlich, deshalb müssen wir ganz genau achten…“ Und wer weiß, vielleicht ist es ja sogar besonders gut so, weil, wenn die Sänger sich extrem zurücknehmen, das Orchester es vielleicht ebenfalls tut… Das hellglitzernde Vorspiel… oh das läuft aber schön jetzt! Kirch erhebt sich… noch einmal das bettende Thema, das eher Akkordfolge als wirlich Melodie ist… eine schwingende, ganz langsam schwingende Geste, in der wir den Wind schon ahnen, auf dieses Stück hinauswill. Noch ist er Brise, über Schilf gehaucht. Und im Parsifal-,muß man sagen,-klang: Nun dämpft die Dämm’rung
jeden Ton von Meer und Land – Ja! Das verhaltene, nach wie vor wunderschöne Singen läßt das Orchester lauschen…. wie eigenartig, nun ist, trotz des gedämpften Singens, der Text völlig verständlich… Kirch singt übrigens d o c h in die Publikumsreihen und nicht ins Ochester… An vielen Stellen merkt man, daß Schönberg selbst Cellist war…
selbst zurück
Melanie Diener, ebenfalls verhalten, wodurch ihre Stimme jetzt wie e i n Instrument unter allen anderen klingt, völlig legiert, und darüber dann wird zum eigentlichen Solo die erste Geige. (Zagrosek, seh ich, lächelt). Stimmungswechsel, das Orchester dreht auf, riesiges Forte, Knall fast, dann Stille, keinen Augenblick lang und – Tempo! Die Reiterstelle, bis zu dem großen Glissando einige Takte später geht Kirch hier unter, das ist nun schwer zu entscheiden, ob weil das Orchester noch zu laut, ob, weil Kirch die Sanglinie nur andeutet… Melanie Diener. Über die Kilometer hinweg, die die Liebenden trennen, führt sie das beschwörende Zwiegespräch weiter… Hier dann auch ein, ich sag mal: thematischer Klang der ganz zur Jahrhundertwende von IX auf XX gehört und sie vor allem auch in der seinerzeitigen Unterhaltungsmusik findet, die in den meisten Fällen da noch Tanzmusik war. Darüber Wogen des Sentimentalen, die aus den Konzertsälen geradezu direkt in die Filmstudios schlugen…
Die erste Lästerung Waldemars: „So tanzen die Engel/ vor Gottes Thron nicht,/ wie die Welt nun tanzt vor mir“ für die er mit der zweiten dann zur Wilden Jagd verdammt werden wird, in die paradiesische Erlösung nicht eingelassen, sondern zurückgeworfen ins Vorchristentum und seine, aus christlicher Sicht, dunklen Mächte… seine zweite Lästerung, im Zweiten Teil des Stücks, ist, daß er Gott für den Tod seiner Liebsten anklagt (Falsche Wege schlägst du ein:/Das heißt wohl Tyrann,/nicht Herrscher sein!) und ihn im Drtten Teil sogar bedroht: „zertrümmre deiner Engel Wacht/ und sprenge mit meiner wilden Jagd/ ins Himmelreich ein„
dieweil ich deiner gedacht
Währenddem sich Helwigs, der Königin, Vasall schon einschleicht, der geliebten Tove das Messer ins Herz zu stechen… im Orchester geht das schon vor, während noch Waldemar reitet. Es ist, als gäbe es ihm die dunklen Gedanken überhaupt erst ein, die ihn erfassen. Es ist die Natur um ihn her, die es ihm eingibt; sie spricht von einem Verrat an ihr, und sie holt sich zurück, wen sie will.
wider die kalten Winde
und weiter mich schleichen
Doch Melanie Diener beruhigt ihn, wir auferstehn ja doch und auferstehn in L i e b e. Daß hier zugleich ein Verrat an der Ehe im Gang ist, realisiert sie nicht; beide, Waldemar und sie, denken so wenig politisch wie der Tristan Straßburgs. Und hinter mit tritt Claudia Mahnke durch die Tür, lächelt, grüßt, schaut mir beim Tippen zu und fängt wie abewesend an, leise zwar, das Orchester mitzusingen. Ich dreh mich z ihr, lache leise, sie legt zwei Finger auf ihre Lippen, lächelt ebenfalls. Lyrisch sinkt sein Herz zur Ruh’… Von welch einer Schönheit die Geigen hier sind! Aber Unruhe, Aufbruch, der Mord. Schon sitzt Mahnkes Waldtaube auf dem Podium, „dann wolln wir mal“, flüsterte sie mir eben noch zu und Fortissmo, Gehetze, Rennen, man sieht die ganze Burg in Unruhe und Entsetzen, während Waldemar doch noch immer auf seinem Pferd durch die Nacht… Dann beruhigen sich die Spiegel in den Elementen, das Grundthema schwingt sich süffig und türmt sich zum Choral auf… Eglischhorn, dann die erzählerische Gestik in der Bratsche, Knall. Englischhorn, Tristans Hirtenflöte, glissierende Auflösung durch hellste Bläser, die Waldtaube, irgendwo, gurrt:
Und das Todesthema der Gurrelieder, unterstützt in der Pauke. Das funktioniert jetzt aufs beklemmendste… Wie sehr mich doch Claudia Mahnkes Stimme an Christa Ludwig erinnert… Immer mehr und mehr Leute füllen die Ränge, dauernd kommen welche hinzu… Und die ersten Chormitglieder, auf der Empore, nehmen vorsichtigstill ihre Plätze ein. Oh und jetzt dieses Erzählungs-Thema… baut sich auf, noch mal zurücknehmen… wieder aufbauen… Und welch Doppelsinn! Helwigs Falke war’s, der grausam/ Gurres Taube zerriß heißt es… und ist nicht „taube sein“ a u c h ein Wort dafür, nicht gehört zu haben, metaphorisch: n a i v gewesen zu sein..? Ach Tove! Und Waldemar, wenigstens S i e… Sie doch hätten das Risiko kennen müssen… Auf wessen Schutz haben Sie vertraut? Ah! Und die Mahnke haut ihre letzten Akkorde nun doch voll hinaus…
Zagrosek verbeugt sich knapp gegens Publikum. „Pause. Nach der Pause Zweiter Teil.“ Das lief jedenfalls ziemlich prächtig.
11.58 Uhr:
Vor dem Bühneneingang latte macchiato getrunken, mit Friedemann, dem ersten Cellisten, über Schönberg und Mahler IX gesprochen, dabei einen Cigarillo geraucht, jetzt wieder am Laptop, die Chöre sitzen auf der Empore, Zagrosek geht ans Pult, geht aber herum, geht durchs Orchester zu den Kontrabässen, spricht mit ihnen, kehrt um, ersteigt sein Pult, jemand klatscht laut, Stille kehrt ein, der grandiose Chorleiter Fink und Zagrosek sprechen, Ohlmann erscheint, gibt Zag die Hand, Zag hebt den Taktstock. Stille. Fink erklärt den Chören die Auftrittsordnung für heute abend und morgen, erklärt es in Deutsch und in Englisch… leichtes Murmeln, Zag: „Sò, bitteschön. Jetzt überall Ruhe! Können wir bitte alle Platz nehmen? Vielen Dank. Jetzt kommen die beiden schwierigsten Nummern in der Balance… Haben Sie Acht. – :“ Das Thema der Geste. Tuba, Posaunen. Kirch erhebt sich. Klage, nein: A n klage. Das Orchester gibt sie bereits vor, schreit. „Herrgott weißt du, was du tatest? Und schon ist die Klage vorüber, wir setzen mit der Verdammnis Erstem Teil ein, dem dritten des Gurrestückes Schönbergs. Die Wilde Jagd ist gerufen, und die Bauern ducken sich, drängen sich aneinander, lauschen ängstlich dem Sturm, der sich erst noch ankündigt, Stille liegt, blitzende, über dem Wasser, Natur hält den Atem an: „Schwer kommt’s her/durch die Nacht getrabt“ Der Bauer hat sich versteckt, hat sein Kreuz geschlagen, so kann ihm, meint er, nichts geschehen. Als schon die Gespenster rufen, den toten Mannen nicht ungleich des Fliegenden Holländers, der ganz in denselben Hof der irrenden, verirrten Großen gehört…. Und wie das hier jetzt brodelt und wühlt, und wie es sich plötzlich setzt, ins Holz der Bläser, momentlang Atem schöpfen, wie um sich schauend, blinzelnd, wo man sei, und dann dreht es bereits wieder auf, gibt sich die Sporen und j a g t..! Wir haben es 12.17 Uhr, und dieses Stück, unter den aneinanderrasselnden Ketten, die Schönberg fürs Schlagwerk hier vorgesehen, r a s t vorüber, es gibt überhapt keine Länge bislang… Kirch, zum mildegewordenen Wiegen, aua, Verspieler in den Hörnern, aufgewiegt schon wieder in sattestem Streichersatz: „Mit Toves Stimme flüstert der Wald,“ die Linie kurz allein im Orchester fortgesetzt, „mit Toves Augen schaut der See„… „Tove! Tove!“ woran Taube doch ebenso assoniert, wie es das Gurren beschreibt… Dieses Spiel von Bedeutungen und Klängen durchzieht Schönbergs gesamte Komposition imgrunde auch technisch: sich b e z i e h e n. Der Narr, Daniel Ohlmann nun, „hast du Fotos gemacht, bekomm ich ein paar?“ fragte er in der Pause, nun steht er da, Satyr wieder, die bitterkomische Version jenes Narren Gottes, der zu werden Waldemar dem GOtt angedroht hatte… Aber Jacobsen/Schönberg drehen das um: GOtt schickt dem toten, durch die Nacht jagenden König zu seiner Verzweiflung den eigenen Narren noch dazu:
und muß von Rechtes wegen jagen.
Denn er war immer höchst brutal
„Herr Gänsefuß, Frau Gänsekraut, nun duckt euch nur geschwind!„… Sechsundzwanzig war er, als er sie begann… Zag, plötzlich sauer, unterbricht, dreht sich zur Regie hoch: „Was ist denn mit der Verstüärkung los? Das ist doch viel zu laut! Horen Sie das denn nicht? Ist denn da niemand d a?!“ Jemand läuft durch den Saal. Zag: „Wir machen weiter hier…“ Ach schade. Wie schade! – Sie nehmen die Stelle wieder auf. Und dann… dann
„So, erstmal herzlchen Dank für alle: große Leistng, großartige Leistung. Vor allem, weil wir das heute gleich zweimal spielen, das ist schon eine enorme Anstrengung. Aber wir müssen das mit der Klangregie lösen. Und dann bitte noch zwei Stelle jetzt. Wir machen einmal noch die Ziffer 78. Bitte setzen Sie sich. – Wir machen einmal eine Sprechprobe bitte.“ – Samel spricht den Anfang. „Wie ist das?“ „Zu laut noch.“ Jemand der Zuhörer steht auf: „Herr Samel macht das so toll, er hat auch die Stimme, er kann das auch ohne Mikro machen.“ Nee, kann er nicht. „Nein“, sagte Zag, „das haben wir probiert. Udo, bitte nochmal.“ Zum Orchester: „78 -:“ – Dann: „Stop. Ist das jetzt gut? Dreht sich zur Klangregie, hält seine Hände als Trichter vor den Mund, ruft hinauf: „Bitte, heute abend genauso. Ich beschwöre Sie. Bitte das Publikum nicht alleinlassen, regeln Sie mit Fingerspitzen.“ Zum Orchester: „Nochmal Vierter nach 36. Das geht total durch. Machen wir nochmal, ab eins vor 34, bitte -:“ – „Meine Damen und Herren vom Chor: Dieses erste ‚Holla!‘ muß ein Schrei sein, der durch Mark und Bein geht… wie wenn Wikinger in einen Ort einfielen… Bitte, denken Sie daran. Das machen wir jetzt nicht, damit Sie heute abend singen können… aber dann, bitte. Wir gehn zurück auf Ziffer 77, Erster Teil 77. Und zwar, bitte, wir machen vor 77 sechs Takte bitte. Ritardando: -:“ Bricht ab. „Okay. Nächste Stelle, 104, eins vor mit Auftakt, die Trommel da… machen wir das eben mal -:“ – „Okay, prima. Das darf da noch ein bißchen leiser sein, sie haben da ein Subitopiano eingebaut. Nächste Stelle. Wir müssen noch einmal den Anfang des Dritten Teils machen, sechs vor 2 mit dem Auftakt… bitte schön -:“ – „Bitte nochmal. Er schlägt den Takt auf der Handoberfläche: vier-fünf-sechs-bàbà/vier-fünf-sechs-bàbà – Bitte -:“ – „Danke schön, danke schön. Fünf vor 4 haben wir besprochen: mezzoforte und kein forte, sonst hat der Sänger keiner Chance. So, dann wünsche ich uns jetzt viel Glück!“
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