Arbeitsjournal. Montag, der 14. Juni 2010 nach Gurre. Mit einer Bemerkung zu den Idioten.

6.38 Uhr:
[Arbeitswohnng.]
Wieder einmal ist das Vulkanlager aufgeschlagen; nach langer Zeit, so kommt es mir vor, übernachtest Du wieder einmal, mein Junge, bei Deinem Vater – nachdem wir gestern nachmittag gemeinsam im Konzert gewesen: noch einmal die >>>> Gurrelieder, wobei ich sagen muß, daß mir der Schlußchor nun wirklich unangenehm gewesen ist – geradezu körperlich, obwohl nun die Klangbalance gestimmt hat… meinem Eindruck nach, nicht dem Frau Holoferna Walstättens, die selber eine bekannte Sängerin ist und die ich während der Pause traf; Walstätten monierte vor allem den Klang der Konzerthaussaals, so etwas könne man heute nicht mehr anhören; die Sänger seien völlig verdeckt worden. Was ich nicht finde, das >>>> schrieb ich ja auch. Nein, Konzerthausorchester und alle Beteiligten waren, fand ich, wunderbar, wobei es in diesem Saal tatsächlich darauf ankommt, wo man sitzt; die modernen Gepflogenheiten der Akustik, die wegen der Durchsicht halltrockene Räume bevorzugen, sind durchaus wenig beachtet, so daß Mischklänge, auf denen es besonders spätromantischen Kompositionen ankommt, schnell einmal Matsch werden. Insgesamt fand ich ja, daß man hätte Schönbergs Riesenbesetzung ausdünnen können, vielleicht nicht grad halbieren, dritteln aber doch – ohne daß dem Stück dadurch die Kraft würde genommen. Doch was den Schlußchor anbelangt, da hilft nichts: das ist einfach verlogenes, grausliches Zeugs. „Klingt, Papa”, sagtest Du, „wie wenn man einen Krieg gewonnen hat.” Das beschreibt es ziemlich genau: der Schlußchor dieser Gurrelieder ist wie die Berliner Siegessäule… genau so schrecklich, genau so peinlich, genau so geschmacklos und genau so brutal.
Sie merken, seit gestern abend hab ich die Gurrelieder über. Übrigens bedeutet Gurre auch S t u t e, was noch eine andere Deutung des Stückes herbeilockt. Die dann wieder verschoben christlich wäre, leibfeindlich: verdammt zu werden für Sinneslust.

Jedenfalls gingen wir nach der Vorstellung mit Frau Walstätten noch einen Kuchen essen, radelten dann mit dem kleinen Umweg übers Terrarium heim, weil Du noch Deinen Schulranzen holen mußtest, und schauten noch einen kleinen Film, bevor Du Dich schlafen legtest. Ich selbst hatte seit nachmittags wieder leichten Halsschmerz, ich muß unbedingt heute früh noch mal zur HNO, damit ich auf der anstehenden Reise, erst nach Heidelberg >>>> zum Seminar (in dem heute noch mal zu lektorieren ist), dann weiter nach Paris, keinen Tonsellitis-Rückfall krieg. Das könnte ich nun g a r nicht gebrauchen, zumal die Termine ziemlich eng liegen. Das Treffen mit Prunier, dann Verlagsgespräche, und V. schrieb mir, daß mich eine Dame erwarte, die, so formulierte er nicht ohne Geheimnis, einen – und zwar delikaten – Auftrag für mich habe; im übrigen habe er mich, sofern ich nicht in Laon weilt, bei ihr „untergebracht”. Mehr schrieb er nicht, außer noch, sie werde mich von Charles de Gaulle abholen lassen… – ‚lassen’! Nun, ich lass er auf mich zukommen. Hoffentlich habe ich in Paris dann auch Netz; falls nicht, werde ich für Die Dschngel wieder einmal Intenet-Cafés nutzen müssen; Roaming kann ich mir nicht leisten.

>[Tschaikowski, b-moll.]

Den Buben mit seinem Kakao und seiner Aufwachmusik geweckt, er besinnt sich grad. Ich werde heute vormittag erstmal Ordnung wieder auf dem Schreibtisch schaffen. Sowie Du aus dem Haus bist. Dann im Virtuellen Seminar lektorieren, mit der Löwin telefonieren, die vorgestern am Telefon andeutete, sie habe nicht übel Lust, für zwei Tage ebenfalls nach Paris zu kommen; ein Galeristenfreund lebe dort… mal sehen. Bon. Danach schnell zur Ärztin, und mittags für den Buben kochen, mit ihm essen, Geldzeug richten, eine Rechnung schreiben, sowas. Vielleicht komme ich auch noch an die Kleine Blogtheorie für >>>> etk-books. Hab eine leichte, eine Sub-Depression, wie man das nennt, seit diesem zweiten „Erlöserchor” von Gurre. Eigenartig. Meine Entscheidung ist, nach wie vor, richtig, aber seit diesen Liedern gestern nachmittag denk ich dauernd an die Zwillingskindlein. Was sehr schmerzt. „Wie viele Kinder hast du?” fragte mich vor der Aufführung einer der Geiger. Ach. Was sollte ich sagen? Ich habe dieses Gefühl nicht oft, aber hier: versagt zu haben.

18.45 Uhr:
>>>> Interessante, und wahre, Bemerkung zur Fußball-WM, deretwegen hier draußen dauernd Leute tröten und grölen und so heftig die Detuschlandfahnen schwenken, daß mir die Metaphern-Entgleisung schon wieder ganz passend vorkommen will… jaja, sie will, das ist bewußt so formuliert: Sie drängt herauf aus dem Verdrängten. Wobei s c h o n Unterschiede bestehen, das will ich nicht leugnen: Zu dem großen Wir-Gefühl sind die bunten Ulk-Hüte US-Amerikas hinzugekommen, da d a r f man das ja, nationalistisch gesonnen sein… ja, da s o l l man das sein und muß es. Da steht selbst Guantánamo für gutste Patrioten. – Komisch, daß, wenn wir „Matrioten” sagten, das plötzlich nach Idioten klingt…

2 thoughts on “Arbeitsjournal. Montag, der 14. Juni 2010 nach Gurre. Mit einer Bemerkung zu den Idioten.

  1. gurre über lieber ANH,
    ich zitiere nochmal schlingensief mit dem, was er zu wagner meinte – und was mir bezüglich gurre-schlusschor wieder in den kopf kommt: „… „Todesmusik“, die „gefährliche Musik“, die nicht das Leben, sondern den Tod feiere.“

    und dann noch zu ihrem „… wieder verschoben christlich wäre, leibfeindlich: verdammt zu werden für Sinneslust“: verdammt zu werden für sinnenlust ist n i c h t christlich, sondern eine fatale kirchliche aussage bzw. meinung. obwohl ich genau weiß, was sie meinen.

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