Irgendwann muß man anfangen, und immer aus der Mitte: Das Arbeitsjournal des Freitags, dem 10. September 2010. Wolf v. Niebelschütz: Gedichte. Und abends: Gustav Mahler.

6.26 Uhr:
[Arbeitswohnung. Stille, abgesehen von, innen, dem Gedicht.]
Irgendwann muß man anfangen. Die Idee der Vollständigkeit ist, jedenfalls für einen Artikel, unerfüllbar. Ich habe jetzt sehr viele Gedichte Niebelschützens noch gelesen. Das ist eine eigenartige, in mir widersprüchliche Sphäre, die sie in mir erzeugen. Abgesehen von der formalen Reinheit, die viele dieser Texte haben, abgesehen auch von einer gläubigen Reinheit des Herzens, aus der heraus sie mir geschrieben zu sein scheinen, vermitteln sie, glaube ich, sehr menschlich ein Grundgefühl dessen, was man nach Hitlers und Deutschlands Fall „innere Emigration” genannt hat, und zwar eben jener, die christgläubig waren, zugleich aber, anders als etwa in England Benjamin Britten, keine Pazifisten. Ich erschließe das aber allein aus den Gedichten; im Kammerherrn-Roman gibt es einen Abscheu vor dem bellenden Hitler, mehr aber nicht. Anders als >>>> Dominik Riedo ist mir auch nur Spärliches aus Niebelschützens Leben bekannt, seine nachgelassenen Briefe, die wohl wichtig wären, liegen >>>> in Marbach, ebenso kann man nur dort die Zeitungsartikel einsehen, die Niebelschütz während der Hitlerzeit schrieb. Von einem Redaktionsposten wurde er als „politisch unverläßlich” entfernt.
Nun geht es mir bei meiner Arbeit für >>>> Volltext aber auch allein um einen textimmanenten Ansatz; allein aus den Versen muß kommen, was ich vertreten kann. Biografie würde rechtfertigen oder verurteilen; mich hingegen interessierte seit je die Frage: wie rechtfertigt oder verurteilt eine Dichtung sich selbst. Diese hier, von den frühen bis späten Gedichten – und nur die Gedichte bereiten mir solche Probleme, fassen mich zugleich aber an und lassen nicht los -, diese hier haben von Anfang an etwas schicksalhaft Ergebenes, als wäre der Einbruch der Moderne nie geschehen, das heißt, als wäre die hormonia mundi immer noch erhalten, nämlich im Sinn der christlichen Gottgewolltheit: Schicksal sei Prüfung.

Und lernen,
Geduldig
Und stumm
Zu frieren.

Noch stärker in den faszinierenden, bild- und sprachkräftigen, zugleich aber höchst heiklen Pentametern von „Aufbruch zur Schlacht” (1939):

Aber der Engel noch zögert in wolkigen Schatten,
Eh er hinabstößt ins Heer, und späht, wem er bringe
Unter den Grauen ein kaiserlich goldnes Begräbnis,
Wem von den wortlos Bereiten aufwiegend das irdische Los.
Immer ja, da ers getragen in Demut und karger Bescheidung,
Opfert der Geist, wenn der Krieg kam, und ohne zu rechten,
Gibt er sein Alles dahin mit herbe verschlossenen Mienen,
Schweigend zu fallen bereit und schweigend auch wieder zu leben,
Wie es das Schicksal befiehlt, das Gesetz im eigenen Herzen –

Es habe ja aber nun nicht das Schicksal befohlen, will ich sofort einwenden – will mein Herz einwenden -, sondern ein Menschenrechts- und Kriegsverbrecher und ein verblendetes, haßerfüllten, mißgünstiges und von Angst und Panik zerfressenes ganzes Volk -, doch indem ich diesen Einwand meiner Überzeugung und meines Temperamentes zulasse, verstelle ich mir den Blick auf das, was Niebelschützens Gedichte eigentlich erzählen und vor uns ausbreiten: nämlich zu verstehen, was in manchen, wahrscheinlich sehr vielen Menschen vorgeht, wenn sie sich nicht weigern, in den Krieg zu ziehen, aus welchen Gründen auch immer, sondern mitziehn. Da beginnt dann eine Art Verklärung des Schicksals, wo doch Aufbegehren, und s e i es gegen Schicksal, nötig gewesen wäre. Da viele der niebelschützschen Gedichte zugleich meditativ sind, trifft sich hier das christlich-mittelalterliche Grundgefühl mit einem asiatisch-indischen, worin es auch oft um Haltung und Hinnahme geht. – Dieser Spur, momentan, bin ich gefolgt und folge ich weiter.

Aber ich muß jetzt meinen Jungen wecken, der heute und morgen wieder auf dem Vulkanlager schläft. Gestern nachmittag sahen wir bis in den Abend hinein die alte, „klassische” Ben-Hur-Verfilmung William Wylers; wie ich’s mir gedacht und vorgestellt hatte, firmte das in dem Jungen einiges von dem, was er in seinem Lateinunterricht durchgenommen hat, firmte das sein Latein. Aber aus dem Widerstand gegen Rom, der auch zu Judäas Zeiten ein Widerstand gegen den Westen war. Gegen neun erst ging der Bursch zu Bett.
Es regnet draußen wieder in Strömen. Es ist wieder die Zeit, dicke Pulover am Schreibtisch zu tragen; ich heize ja nicht und das Oberfenster steht immer, wegen meiner Raucherei, weit offen. So hör ich die Töne der Welt.

8.07 Uhr:
Mein Junge ist losgezogen, bei b-moll erwacht, den Morgenkakao ans Lager bekommen, dann eilte die Zeit. Anziehen, die Schultasche packen, Cornflakes und Zähngeputz; einen Schirm nahm er mit, den einst hier >>>> Reichenbach vergaß, von dem wieder nichts mehr zu hören ist, seit Juni. Ich habe es aufgegeben, bei ihm anzurufen, es nimmt eh niemand ab. Aber er lebe, war zu hören, sei nur ganz in sich selbst zurückgefallen und gehe seiner Arbeit nach in einer anderen Inneren Emigration. Wohnte ich weniger weit von ihm weg, ich führe gelegentlich hin, und wär’s, um vor verschlossener Tür zwar zu stehen, die sich auch nicht öffnete, aber ich spähte doch auf Lebenszeichen durchs Fenster. Dann schriebe ich eine kleine Nachricht auf einen haftenden Zettel, bappte ihn an den Briefkasten und ginge wieder.

9.27 Uhr:
Ganz enorm Niebelschützens Formenstrenge und dabei die Bildhaftigkeit, die eine kriegszerstörte Stadt beschreibt: fast alle Kriegsgedichte aus Frankreich, wofern sie Städte zum Thema haben, teilen das. In der Beschreibungskraft ist das unglaublich, aber sowie sich Reflektion da hineinschiebt, mißlingt der Text – wie wenn er abwehren wollte, zum Beispiel Schuldfragen. Ganz deutlich bereits im ersten Gedicht der „Bilder aus dem Westen”, die 1941 im besetzten Frankreich entstanden, Florenville:

An jenem Tage wohl stand noch das Karussell
Und lärmte freundlich mit den Kindern auf dem Platze.
Zermalmt und hingeschmettert, in gequälter Fratze,
Schweigt eine ganze wüste Stadt und schweigt so grell.

Die Mauer raucht nicht mehr, doch aus dem Schutt empor
Steigt eine Wolke von Verwesung in den Regen,
Und trostlos aus dem Fenster als ein Leichenflor,
Bauscht eine Tüllgardine sich dem Nichts entgegen.

Das Wasser tropft aus ihr wohl schon den ganzen Tag,
Aus den verkohlten Fäden rinnt es irr und düster
Und färbt mit Schauern schwarz ein Bettuch, das hier lag,

Eh gell der Angstschrei stieg, eh Krieg, der Landverwüster,
Den grausen Gifthauch schickte aus geblähter Nüster –
Es ist nicht gut, zu denken… frage nicht… ertrag.

Wie deutlich hier das Ungenügen wird, wenn Krieg quasi romantisch gedacht wird gegen die Wahrheit von Krieg, der die ersten drei Strophen dieses Sonetts verpflichtet sind. Aber „Landverwüster”, „grauser Hauch”, gar „Nüster” sind alles Verkitschungen, die sich wie ein Tuch über die nun wirklich schaurige Genauigkeit der drei ersten Strophen legen. Nur so möglicherweise ist die Schuld auszuhalten, die in einem anderen dieser Gedichte – „weiß nicht, was ich tue” – ihre heimliche Sprache findet, Charlesville.

14 Uhr:
So, die Lektüren abgeschlossen, jetzt muß ich nachdenken, dann, nach dem Mittagsschlaf zu schreiben beginnen. Wobei, in der Tat, >>>> hinter dieser Frage etwas ziemlich Wichtiges steckt. Die Gefahr, mißverstanden zu werden, ist groß, zumal mich ja einige Leute mit scharfer Absicht mißverkennen w o l l e n. Den genaue Frage lautet aber: unter welcher Hinsicht ist etwas so und so zu verstehen. Ich werde in meinem Artikel eine politische Positionierung ganz sicher nicht vermeiden, das ginge gar nicht, wenn man sich mit Niebelschütz ernsthaft beschäftigt, und zwar um so weniger, je „unpolitischer” seine eigene Position sich darstellen will. Dies wiederum ist von der literarischen Qualität zwar nicht unabhängig, diese aber kann vorhanden sein, sogar in ausgeprägtestem Maß, obwohl einem „die Aussage” mißfällt – jedenfalls als absolute. Relativierung ist aber in ebensolchem Maß auch an mir nähere Weltbilder zu legen, und außerdem: Heimatgefühl gibt es, jedenfalls bei vielen Menschen, die ich kenne; es ist stark an Landschaft gebunden, bei manchen fast stärker als an die Sprache. Heimat wiederum ist von Nation zu unterscheiden usw.

Die >>>> Kulturmaschinen wollen einen längeren Podcast mit mir produzieren; das werden wir in der übernächsten Woche angehen. Die zweiten Fahnen für „Azreds Buch” sollen am Sonntag abend hiersein, dann muß ich sofort lesen und die letzten Dinge korrigieren; am Dienstag geht das Buch in Druck.

Mittagsschlaf.

17.37 Uhr:
Bin doch noch nicht an den „Text-selber” gekommen, drehe den Anfang im Kopf hin und her. Dann waren Besorgungen zu tätigen, zumal mein Junge heute wiederum bei mir sein wird. In einer halben Stunde wird er fürs Cello-Üben hiersein, danach, um 19 Uhr, brechen wir gemeinsam >>>> ins Konzert auf, Mahler VII, Zagrosek, Konzerthausorchester. Ich bin ziemlich gespannt und werde erzählen, eventuell gleich danach; eventuell aber geht’s noch in die Bar. Der Junge hat ja morgen keine Schule: weshalb ihm nicht diese Freude machen? Dem Profi und C. sowieso.
Mich läßt die Frage nicht los, ob es den Deutschen nach Hitler erlaubt sei, um Deutschland zu trauern. Und: Was für ein Deutschland wäre denn gemeint gewesen?

5 thoughts on “Irgendwann muß man anfangen, und immer aus der Mitte: Das Arbeitsjournal des Freitags, dem 10. September 2010. Wolf v. Niebelschütz: Gedichte. Und abends: Gustav Mahler.

  1. “Vaterländische Gesänge” Herr Herbst, Sie wollen jetzt ernstlich etwas diskutieren, das wir in Deutschland doch endlich überwunden haben? Heimat, Vaterland undsoweiter sind doch alles reaktionäre Begriffe, vor allem Inhalte. Wenn man den europaweiten Rechtsruck betrachtet, ist das politisch auf jeden Fall problematisch. Ich bin jetzt ziemlich irritiert, aber vielleicht verstehe ich Ihren Ansatz auch ganz falsch.

    1. @Martin Kerber. Ich verstehe das Problem, daß Sie mit meinen Einlassungen haben, völlig, und ich teile. Probleme mit etwas zu haben, darf aber nicht dazu führen, sie zu umschiffen. Ich bin eben, um 14 Uhr, im Arbeitsjournal noch eigens darauf eingegangen. Wahrscheinlich wird sich meine Haltung, die zwiegespalten ist, klären, wenn ich am Text direkt sitze. Texte erarbeiten sie, wenn auch meist nur immer noch für eine begrenzte Zeit.
      Dennoch, wenn Sie und andere Leser die Frage mitdiskutierten, wäre mir das sehr recht. Ich selbst möchte mich, eben wegen des Artikels, etwas zurückhalten.

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