6.04 Uhr:
[Arbeitswohnung. Wellesz, Drittes Streichquartett.]
Morgenpfeife, erster Latte macchiato.
Um halb sechs hoch. Es gibt in mir ein unpersönliches „man”, das schreiben wollte, es sehe viertelstündlich auf die Fukushima1-Nachrichten, weil es das größtmögliche Unglück erwartet, das „man” schon immer vorhergesagt habe: Dieses „man” – es wartet auf Bestätigung.
Das ist pervers: die innere Moral verlangt nach dem Schrecken für viele – nämlich nicht nur jene erwarten, von denen >>>> dort Zazie schreibt, sondern auch „wir”: jenes, zu dem unser unpersönliches „man” millionenfach gestreut ist. Zugleich liegt über dem „wir” ein wirkliches Entsetzen, auch ein wirkliches Mitleiden, aber das ist die dünne Schicht des Zivilisierten unter der tiefen einer unbewußten oder nicht bewußten Weltwahrnehmung, die aus dem Mythos gespeist wird. Von „Selbstverschuldung” können doch nur jene Menschen sprechen, die der rationalisierten Vorstellung anhängen, „wir” seien befähigt, uns aus den Naturzusammenhängen hinauszukatapultieren, wenn wir nur keine gefährlichen technischen Erfindungen machten, bzw. sie wenigstens nicht ans Netz nähmen, gleichgültig, wie viele Opfer das dann wieder forderte – quasi aus Gründen der Unterlassung nämlich. Das ist der, fürchte ich, irrtumhaften Annahme gleich, die meint, ein einseitiger Verzicht auf Gewalt führe zu einer Verringerung an Menschenopfern. Man muß sich nur die katastrophalen Geschehen im Sudan und auf dem Balkan ansehen, um zu begreifen, wie naiv eine solche Annahme ist. Wir leben in Gewaltzusammenhängen, und zwar basal: in der Konstitution der Welt an sich und all ihrer Geschöpfe.
Moderne demokratische Verfassungen haben das nie vergessen; auch das machen wir uns zu selten klar, sondern hinter ihnen alleine der Gedanke steht, die doch immer weiterwirkende Menge an Gewalt auf gewählte Organisationen zu verschieben, nämlich das eigene Gewaltrecht, das sich aus dem Überlebenswillen speist, auf andere zu übertragen, etwa auf die Polizei, damit eine geordnete Gesellschaft möglich wird, die sich nicht ständig selbst, im Wortsinn:, zerschießt.
Fukushima 1 ist ein ideologischer Freudentag für alle AKW-Gegner, zu denen ich übrigens auch einmal gehörte (Brokdorf, 1981, Gorleben, all das, ich erinner mich gut der riesigen Kampfhubschrauber, die auf uns niederstiegen), – es ist ein Freudentag für die Verschweißung von Gruppen und ein Freudentag für die Verschiebung von Ängsten. Allüberall hört das unpersönliche man sein selbstgewisses „Wir haben’s ja gewußt!”
Krakatau.
Dabei ist ein Kernkraftwerk erfunden, um die ungeregelte Naturgewalt einzufangen und gebunden auf ein ziviles Ziel zu focussieren; jetzt reißt die gleiche Naturgewalt den Boden unter ihren sie zusammenpressenden Mauern ein, und was abgewendet – „zivilisiert” – werden sollte, kommt mit eben der Gewalt möglicherweise frei, die man abwenden wollte. Was aber wäre eine mögliche Alternative gewesen? Was wir unsere Zivilisation nennen, ist auf Industrie und Handel gegründet; ohne dieses beides gäbe es die Bedingungen der Möglichkeit demokratischer Verfaßtheiten nicht, vor allem nicht dann, wenn Menschheit allein nach ihrer Menge zu einem höchst ungleichgewichtigen Faktor in dem globalen „System” geworden ist – aus dem nun wieder „Natur” eine Teilmenge herausreißt.
Ich habe mir den zweiten Latte macchiato bereitet und die zweite Pfeife gestopft. Die Gedanken gehen hierhin und nach dort und eilen zwischen den Polen. 1800 Todesopfer, vermeldet der Ticker, habe es bereits gegeben, aber 9500 Menschen seien vermißt; der Reakter selbst ist noch kaum tätig geworden. Welche Perspektive lege ich an, legt das unpersönliche „man” an, legen „wir” an? Ich habe Freunde, die um ihre Tokyoter Freunde bangen, ich habe selbst befreundete Bekannte in Tokyo, aus meiner Zeit an der Keio, und diese haben Kinder, wie ich meinen Jungen „habe”. Die persönliche Perspektive auf ein Unglück ist die Perspektive dessen, der Schaden von seinen Nahen und sich abhalten und, ist er eingetreten, möglichst wieder abwenden will. Dies kann aber eine Perspektive sein, die wiederum anderen, die Kinder haben wie ich meinen Jungen, das Unglück durchaus zumutet. Was täte ich, risse bei Biblis – der Rheingraben ist ein deutsches Erdbebengebiet – der Boden auf? – Ich folgte Luther
und werde jetzt meinen Text weiterbearbeiten, als wollte ich ein Apfelbäumchen setzen, und >>>> darauf erst am späteren Vormittag antworten. Bevor ich zu meinem 10km-Crosslauf aufbrechen werde. Katastrophen sind immer schon gewesen, und wir leben in ihnen. Auch, wenn wir’s nicht mehr wissen.
12.12 Uhr:
[Jasper van’t Hof, Meditation.]
Nach hellstem Jazz war mir dann – wegen des Frühlingswetters, na sowieso, und weil ich um vier mit meinem Jungen etwas spazierenflanieren will, um die Eröffnung unserer „Kleinen Eiszeit” wieder zu beleckfeiern, glücklich darüber, daß Sommer wird – während 200.000 Menschen in Japan geflohen sind oder evakuiert werden. Der Ticker spricht von einer eventuell weiteren Explosion, nun im Reaktor 3, der mit aus Plutonium hergestellten Mox-Brennstäben beladen sei. So relativ sind wir, daß uns der Frühling dennoch glücklich macht – es könnte sein, daß dies eine notwendige Fähigkeit unserer Art ist, um zu überleben. Dabei verdränge ich nichts, im Gegenteil, ich führe mir die Situation noch und noch vor Augen. Wie kann ich jetzt glücklich sein? frage ich mich. Und bin es dennoch. Wäre es anders, lebten wir näher an dem Katastrophengebiet? Aber ich bin gelöst in den allerhellsten Klavierimprovisationen van’t Hofs. Es schauert mich nicht einmal, wenn ich mir das vorstelle – was ich gerade so sehr tu, daß ich zur eignen Arbeit gar nicht recht komme. Die Erdachse habe sich durch das Beben, las ich, um 10 Zentimeter verschoben. Ich weiß nicht einzuschätzen, ob das nicht globale Auswirkungen hat. Aber ich bin, noch einmal, überhaupt nicht unruhig. Sondern werde nach dieser Pfeife zum Sport aufbrechen und danach meinen Jungen abholen – „mein Kind”, wollte ich eben schreiben, was ja stimmt, doch auch wieder nicht, weil er bereits so groß geworden ist. Da paßt eigentlich weder mehr das Possesivpronomen noch auch das Nomen so recht.
Einen Kommentar gelöscht. Weil er persönlich beleidigte. Kurzes, entschlossenes Klicken – das ich aber schon ein bißchen bedaure, weil die überdies nur kurze Dummheit des Trolles „Trost“ den >>> Anti-Herbst doch sehr aufgeschmückt hätte.
Luther Der Ausspruch mit dem Apfelbaum soll von einem Theologe namens Bengel erst im 19. Jhdt getan worden sein, nicht von Luther.
Also, selbst in meinem ganz persönlichen Leben sind katastrophische Zeiten doch etwas grundsätzlich anderes, als nicht katastrophische Zeiten, und der Reflex, das Katastrophische zu fliehen, scheint mir auch ein sehr natürlicher, aber es gibt eben auch Empathie und den Reflex, helfen zu wollen und nicht nur zuzumuten, den gab und gibt es immer wieder, dass Menschen für andere Menschen ihr Leben einsetzen, die ihnen erst mal nicht nahe sind, und es gibt Berufe, die sind darauf spezialisiert, tagtäglich. Helfen zu können ist nämlich auch ein großes Glück, Gottfried Benn war Arzt, hatte Arbeit und war vielleicht nicht dumm genug, um das Glück zu begreifen, drum gab es düster Gedichte, aber jede finstere Zeile hofft auf Rettung und jede Klage birgt den Wunsch und das Wissen, dass es auch anders geht, kommt klagen wir, wer klaget ist nicht tot.
„Was meinte Luther mit dem Apfelbaum?
Mir ist es gleich – auch Untergang ist Traum –
Ich stehe hier in meinem Apfelgarten
Und kann den Untergang getrost erwarten –
ich bin in Gott, der außerhalb der Welt
Noch manchen Trumpf in seinem Skatblatt hält.
Wenn morgen früh die Welt zu Brüche geht,
Ich bleibe ewig sein und sterne-stet:
Meinte er das, der alte Biedermann
Und blickt noch einmal seine Käthe an
Und trinkt noch einmal einen Humpen Bier
Und schläft, bis es beginnt – frühmorgens vier
Dann war er wirklich ein sehr großer Mann,
Den man auch heute nur bewundern kann.“
@sowieso zu Bengel. Danke für diese Information, die mir nicht bekannt war.
Ja, manchmal hätte ich solch einen Beruf auch gerne. Es gibt von Misereor derzeit ein Plakat, das mich immer wieder, wenn ich es sehe, beeindruckt und in mir den Impuls auslöst, mich anzuschließen. Daß ich es nicht tue, liegt nicht daran, daß ich als Schriftsteller nicht wüßte, was ich da dann helfen sollte; das wäre eine ganz wohlfeile Rationalisierung dafür, nichts zu tun. Sondern es liegt daran, daß ich hier Vater bin und gebraucht werde. Dennoch, manchmal wäre ich lieber Arzt als Schriftsteller.
Jedenfalls wundere ich mich momentan, wie ich eben oben im Arbeitsjournal schrieb (12.12 Uhr), über mich selbst.
Das Plakat, ich sprach vorgestern nacht mit Ricarda Junge drüber, hat mir den Satz in den Kopf gegraben: „Wir gehen da hin, von wo andere flüchten.“ Mir ist das als Selbstverständnis sehr nahe. Außerdem hat mich mein Vater gelehrt, Kartoffeln anzubauen und wie man für Jahrzehnte das Bauholz witterungsbeständig macht.
es ist an der grenze zum Widerlichen, wie sie hier eine große Katastrophe dazu missbrauchen, ihren süßlichen Betroffenheitsbrei auszubreien. Wenn sie wirklich helfen wollen, dann tun Sie’s und mummeln hier nicht rum von wegen Vati und so.
@McCarthy. Schon spannend: anstatt zu helfen, nutzen Sie die Zeit, um hier zu lesen.
strike, däts how i like the herbst!
@Mc Carthy Ich komme oft hierher. Nicht, um einen „stimmt“ oder „stimmt nicht“ – Knopf zu betätigen, sondern weil das, was ich hier vorfinde, handgedacht ist. Ihr Kommentar hingegen kommt mir vor wie ein aus einer Schnellschussanlage abgeschossenes faules Ei. Er platzt einfach nur auf. So kann man, finde ich, nicht mit Autoren umgehen, die Zeit und Energie aufbringen, um zu einer Einschätzung zu gelangen – völlig unabhängig davon, ob man diese teilt oder nicht.
@McCarthy Er missbraucht nichts, er denkt darüber nach. Ich tu das auch (auch ich habe Kinder und eine Phantasie) und bin noch immer von der Rolle, ob der Intensität dieses Desasters. Das ist absolut legitim. Und wenn Sie das, Monsieur McCarthy nicht verstehen, ist das nicht mein Problem.
Mein Problem ist ein ganz anderes.
Ich versuche, mich in die Position der Menschen in Japan zu versetzen (ich finde, das ist schwer genug oder sogar unmöglich)
Und dann kommt mir ein Kommentar wie der Ihre genau recht.
PS: Was meinen Sie mit „Betroffenheitsbrei“?
Sie könnten ja auch mal sachlich werden.
PPS: Haben Sie Kinder ?
Ihr armen devoten
@Pfff Wenn Sie in der trüben Suppe eines Tsunamis dahindrifteten, würde ich Ihnen auch meine Hand reichen.Was hat das mit devot zu tun ?
@ANH trotz allem ist es schlichtweg eine unverschämtheit zu behaupten, die ereignisse um fukushima wären ein „freudentag“ für akw-gegener – als ob man als solcher grundsätzlich nicht in der lage wäre, von der eigenen politischen räson zu abstrahieren angesichts einer naturkatastrophe, die zig tausend menschen das leben gekostet hat und derzeit eine ganze nation an den technologischen und zivilisatorischen abgrund zu führen scheint.
@johann w. sommer zur Ideologie. Ich verstehe, daß Sie meine Bemerkung geärgert hat. Allerdings habe ich ein so auch genanntes ideologisches Moment, das sehr antreibt, im Auge; dieses Moment meint die Massenbewegungs-Dynamik. Zum einen habe ich in meinem Text mich selbst sehr wohl mitgemeint; deshalb sprach ich von einem „unpersönlichen man„, zum anderen steht in Ihrer jetzige Replik genau solch ein Satz, den ich für pur ideologisch halte:und derzeit eine ganze nation an den technologischen und zivilisatorischen abgrund zu führen scheint.Ich bin da völlig anderer Meinung als Sie; selbst in dem sehr schlimmen Fall eines „Super-GAU“s könnte von einem technologischen und schon gar zivilisatorischen Abgrund nach aller Erfahrung, die Japaner mit der atomaren Verseuchung haben, in keiner gesicherten Weise gesprochen werden, sondern hier drücken sich Ihre Ängste aus.
Daß Menschen Ihre Ängste ausdrücken, finde ich dabei völlig berechtigt; ich halte deshalb das jetzige Aufleben der Anti-AKW-Bewegung für völlig berechtigt und nachvollziehbar, auch wenn einer ihrer Antriebsmotoren antitechnische Ideologie ist. Das muß sogar so sein, sonst würde eine Bewegung a l s Bewegung gar nicht funktionieren. Die anderen Fragen sind aber – und zwar, die eigentlichen – ob 1) die Bewegung aus rein objektiven Gründen Erfolg haben kann, selbst, wenn eine Millionen Menschen demonstrieren sollten; aus den 80 Millionen Einwohnern, von denen übern Daumen gepeilt rund 40 Millionen wahlberechtigt sind, wären das dann immer noch nur 2,5 % aller Wähler; ob 2) ein alleiniger Ausstieg aus der Atomindustrie nicht wirtschaftliche Folgen hätte, die zu tragen auch viele der 2,5% nicht bereit wären, von denen einige ja schon protestieren würden, spräche ich von einer luxuriösen Alimentierung durch Hartz IV (diskutierten wir das durch, würden wir beide sehr schnell merken, wie unumständlich notwendigerweise wir in der politischen Ideologie landen würden); ob 3) ein Ausstieg schon aus vertragsrechtlichen Gründen überhaupt möglich ist, die ja auch internationalen Characters sind und 4) welche Alternativen der Stromversorgung es denn gibt, deren ökologische Folgen absehbarer wären, wenn sich schon an der Frage Auto oder nicht die Gemüter entzünden. –
Was ich damit sagen will, ist schlicht, daß man „aussteigen!“ sehr leicht rufen kann, daß das auch ein Recht hat – ein Recht der Angst und der Betroffenheit -, daß aber genau die Ideologie es ist, die einen letztlich klaren Blick auf die Notwendigkeiten verstellt. Und in diesem ganzen vernetzten System versuche ich, irgendwie zu einer eigenen klaren Position zu finden. Was ich eben sehr schwer finde, einmal abgesehen davon, daß ich selbst, so oder so, glauben muß, weil ich weit entfernt davon bin, physikalische und okölogische Fragen zum Für und Wider der zivilen Atomkraftnutzung angemessen beantworten zu können.
Mich treibt eine andere Sache dazu an hier meinen Senf hinzuzufügen:
Man besuche gmx.de und klicke einen Artikel zum Thema an und lese
den Stand der Dinge, wie er der Presse bekannt ist. Man warte ein-zwei
Stunden und man wird einen neuen Titel finden, unter dem derselbe Artikel steckt.
Ich nenne das die „Variationen einer Tragödie“. Jeder verfährt da natürlich
ganz nach seinem Vermögen und so ist es nicht verwunderlich, dass
der Variationscharakter sich lediglich auf die Titel beschränkt.
Andererseits: „clicks are money“, wie es in unserer Gesellschaft heißt.
Aber das ist sicher nur ein Nebenprodukt der größten Anteilnahme solcher
Nachrichtenmedien.
Man Ich bin auch man.
Ich warte nicht auf die „Katastrophenmeldungen“. Ich warte auf das Zugeben.
Ich habe in einem Kommentar zu einem Posting bei mir geschrieben, dass bereits nach 2 Tagen, eigentlich nach eineinhalb Tagen die weitere Entwicklung abzuschätzen war. Ich verstehe auch, dass die japanische Regierung sich daran klammert, ja nur keine Panik aufkommen zu lassen.
Aber ich verstehe nicht, wie eine Physikerin an der Spitze der deutschen Regierung der Laufzeitverlängerung zustimmen konnte. Das halte ich für eine persönliche Schwäche und eine Kapitulation vor dem Machterhaltsstreben.
Jetzt bin ich gespannt, wie das in diesem Wahljahr in Deutschland weitergeht.
Ich befürchte, dass die Katastrophe noch immer zu klein ist, um wirklich weltweites Umdenken zu bewirken.