Holmboe mit dem Ruch des Authentischen, indessen – noch – out of Africa. Das Arbeitsjournal des Sonnabends, dem 12. März 2011. Darinnen der sechzehnte Benedikt, den Motzekstrang in der rechten Hand, um von ihm zu schneiden: vor einem kleinen Wort zum japanischen Beben.

7.15 Uhr:
[Arbeitswohnung. Holmboe, Zweites Streichquartett.]
Zweiter latte macchiato, zweite Pfeife (n o c h nur mit Spuren Latakias, >>>> Motzeks Meister- und für mich die Morgenmischung). Seit halb sechs sitze ich am Schreibtisch, durchforste allerdings lediglich Safari-Angebote, weil ich mit meinem Jungen dieses Jahr gerne etwas Abenteuerliches unternehmen will; es ist aber alles schweineteuer; möglicherweise wird’s denn doch wieder Italien werden. Ich könnte auch sagen, na gut, wir nehmen so ein Pauschalding am Mombasastrand und warten dann die einheimischen Jungs ab, die solche Safaris direkt am Strand acquirieren. Ich werde das nie vergessen, wie ich auf so etwas einmal eingegangen bin, mit Do, wie wir vor den Wellen saßen und halb auf der Acht waren, nicht übers Ohr gehauen zu werden. Aber rein das Gegenteil war dann der Fall. Der junge Mann, der uns, den Safari-Katalog unterm Arm, ansprach, und als er unser Interesse merkte, sagte: „Come with me, please.” Wir gingen zwischen den Sonnenden hindurch hundert Meter weiter zu einer nicht ganz so belebten Strandecke. Dort zeichnete er die Umrisse eines kleinen Zimmers in den Sand, mitsamt zwei Markierungen für die Fenster, sowie für die Tür. Durch diese trat er ein, setzte sich in den Sand und bat uns mit einer höflichen Handbewegung zu sich auf die imaginären Kissen: „Please enter my office.”
Bis wir in >>>> Tsavo Ost waren, waren wir nicht sicher gewesen, ob wir da nicht jemandem aufgesessen waren. Waren wir nicht. Die drei folgenden Tage gehören zu den unvergeßlichsten meines Reiselebens, und das, obwohl wir, ein oder zwei Jahre vorher, enorme Erlebnisse im >>>> Kruger Park gehabt hatten.
Jedenfalls suche ich nach einem erschwinglichen Angebot einer etwa eine Woche dauernden Wildtier-Safari für meinen Jungen und mich, gerne mit ständiger Übernachtung im Zelt/Zeltcamp, besser wären zwei Wochen; denn einen Badeurlaub finde ich entbehrlich, den kann man dann auch an der Ostsee noch haben. Es soll etwas sein, das sich dem Jungen so ins Herz prägt wie damals Afrika sich mir ins Herz geprägt hat; nie vergesse ich die Lodge am Olifants River. Doch anders als da, als Do und ich, immerhin 1986, zu zweit mit dem Mietwagen auch durch die Homelands gefahren sind, eine ganze Rundstrecke zudem durch sie bis hinunter, dann hinaus nach Port Elisabeth, Durban hoch zum Kruger Park und dort dann, ohne vorherige Anmeldung, tatsächlich hinein – anders als damals mag ich dem Elfjährigen weder stundenlange Autofahrten über nichts als weites Land zumuten, noch, daß wir ohne sichere Unterkunft irgendwo hängenbleiben. Wäre er schon vierzehn/fünfzehn, wär das etwas anderes. Buche ich aber alles von Deutschland aus „für sicher”, wird’s unerschwinglich. Schon die Flüge haben es ja in sich.
Hm. Am besten wäre ein Privatkontakt. Ich werde mal rumtelefonieren.

Gestern abend mit Ricarda Junge zu ihrer Lesung nach Mahlow/Blankenfelde vor Berlin gefahren. Eine kleine Gemeindebibliothek über einem Reichelt-Supermarkt. Ungefähr fünfunddreißig Hörer, zu 95 % Frauen, von denen die meisten über 40/50; als ich mit Junge hereinkam, nannte man mich noch den Quotenmann; die Quote wurde dann aber um noch zwei oder drei weitere meines Geschlechts erhöht. Ich schnitt die Lesung mit; darum bin ich ja mitgefahren: O-Ton-Material für das neue Hörstück. Eine ausgebige Diskussion, die allerdings nur im Nebenbei künstlerische Fragen stellte; vielmehr ging es vor allem über Autobiografie und eigene, bereits sich verschüttende Erinnerung an die DDR-Zeiten. Junges Buch gräbt die auch aus, lockt sie heraus; man kann durchaus von einer Verständigungsarbeit sprechen. Und dann hatte ich den Titel meines Hörstücks: er fiel in einem Satz einer der Hörerinnen: „…solange sie noch leben”. Damit hatte sich der Abend für mich schon gelohnt.
Dann wieder zurückgefahren, was nicht ganz leicht war, wenn man die Gegend nicht kennt. Das Navi-Gerät kannte sie nämlich auch nicht, da Junge es nicht aktualisiert hat und seit dem letzten Update einige Straßen hinzugekommen waren. Schon auf der Hinfahrt wollte uns die Roboterin ständig 90-Grad-Wendungen fahren lassen; und als wir unseren Willen Vorrang gaben, zeigte uns das Gerät, daß wir ständig über Äcker fuhren. Da hatte ich noch meine Löwin anrufen wollen; aber jetzt, indem wir über diese Äcker fuhren und uns nach Wegeschildern die Augen aus den Köpfen sahen, kam ich nicht mehr dazu. Immerhin, wir waren pünktlich.
Zurück fuhr dann ich und brachte uns schließlich ins >>>> Soupanova, wo wir dann noch anderthalb Stunden saßen und intensiv miteinander sprachen. Bei uns geht es dann meistens, wenn erst einmal die kleinen Katastrophen aberzählt sind, um unsere persönlichen Antriebe zur poetischen Arbeit. Hübsch dabei das Anekdötchen, Leser von >>>> MEERE hätten ihr, Junge, gesagt, man sehe an dem Buch, daß ich nicht lieben könne. Das erstaunte mich: „Wieso denn ausgerechnet bei diesem Buch?” „Weil du der sexuellen Leidenschaft solch einen Rang einräumst. In den Augen dieser Leser gefährdest sie die Liebe und muß gedämpft werden, wenn jemand liebt.” Jedenfalls ging ihre Erklärung in diese Richtung. Genau weiß ich es heute früh nicht mehr. „Meine Güte!” rief ich da. „Welche Verdrängungsleistungen vollbringen diese Menschen täglich!”
Dann waren wir wieder bei ihrem Glauben und meinem, sag ich mal, ulkigen Katholizismus. „Von wem würdest du dir heute eine Veränderung der Verhältnisse erhoffen, wer könnte da wirklich etwas tun?” Meine Antwort rief ihren – begründeten – Protest hervor. „>>>> Ratzinger”, sagte ich nämlich geradezu sofort. Und meine das, trotz der guten Widergründe, immer noch.

Jetzt geh ich erstmal wieder an die Überarbeitung der Litblog-Theorie. Dann höre ich die Tondatein von gestern ab und überspiele sie auf die Festplatte, die ich für das neue Hörstück anlegen werde.
Ob ich Sport mache heute, ist ungewiß. Ich wachte mit einem seltsamen Druckschmerz oberhalb der Nieren auf, von dem ich nicht genau sagen kann, was er eigentlich ist. Gut möglich, daß es sich um eine kleine Trainingsfolge handelt, die vom Rückenstrecker ausstrahlt. Es könnte auch der Ansatz der seitlichen Bauchmuskeln sein, mithin nix als schnöder Muskelkater. Da ich nun gestern nicht auf meinen Körper hörte, >>>> der mir einen Tag Trainingspause riet, werde ich das heute tun –

– und dann kam gestern ein riesiges Paket an, das mir >>>> der Cellofreund geschickt hat, darin die Schallplatte der Ersteinspielung von Holmboes Zweitem und Sechstem Streichquartett aus den frühen Siebzigern; eine Rarität also, die ausgezeichnet klingt und während des Transportes nicht beschädigt werden sollte. Derart gesichert war sie verpackt, daß ich das Paket hätte aus dem Fenster meines Dritten Stockes werfen können, ohne daß der Musik ein Leids geschehen wäre. Erst einmal hier einen herzlichen Dank für dieses Geschenk; ich werde auf den schönen Brief, den mir der Cellofreund dazugeschrieben hat, aber noch eigens, privat, antworten.
Zur Aufnahme-selbst aber: die Auffassung des Københavns Strygekvartet ist sehr viel wärmer als auf der Einspielung des KontraQuartetts, von dem ich die CDs sämtlicher Holmboe-Streichquartette habe; diese ist, seltsam, zugleich sachlicher und elegischer, dabei entfernter – als wäre alles schon Vergangenheit. Beim Københavns Strygekvartet ist es Gegenwart und ja auch tatsächlich gewesen, als sie die Stücke eingespielt haben. Außerdem ist der Klang der Schallplatte dem Klang der CDs an Räumlichkeit und Ober- und Untertönen hörbar überlegen.

17.08 Uhr:
[Egon Wellesz, Viertes Streichquartett.]
Jetzt sind auch Wellesz‘ Streichquartette 3-6 hier eingetrudelt, die sehr deutlich auf die Wiener Musik der 20er bezogen klingen: Expressionismus auf der, bei Wellesz jedenfalls, Suche nach einer neuen nicht-sachlichen, also nahegehenden Harmonik: polystilistisch bereits und ohne jede Verklärung. Sehr viel leidenschaftlicher, außerdem, als der dagegen kühl wirkende, filigrane Holmboe. Dann kam von den Motzeks aus Kiel, deren Website abermals zerschlagen wurde, eine neue Tabaksendung; jetzt habe ich Mischungen für vier Wochen wenigstens, darunter reine Orienttabake, sowie zwei Beutel meines Latakias, den ich nach Geschmack untermischen kann. >>>> Das Ding da will ich aber auch mal ausprobieren. Da ich Motzeks Email-Adresse habe, kann ich direkt bestellen; ansonsten ist die Angelegenheit mit seiner ständig attackierten Website nicht nur ärgerlich, sondern grob geschäftsschädigend. Ich habe die Vermutung, daß seine, vor allem großen, Konkurrenten extrem wütend sind, weil er unter Ausschaltung der allermeisten Zwischenhändler Tabake direkt importiert und sie, seit einer Lizenz von 1978, auch selbst verarbeiten darf. Was er auf das vorzüglichste tut. Selbstverständlich ist für so einen kleinen Betrieb das Netz ein Segen; auf ihm kann er seine Existenz gründen. Das Internet wird zur kapitalen Gegen-Konzentration, sozusagen gibt es in ihm lauter kleine gallische Widerstandsdörfer, um die jetzt die Legionen lagern; nur daß ihnen der Zaubertrank noch fehlt. Den müssen wir Kunden ersetzen, auch wenn uns die Cäsaren das Tor von außen verrsperren mit ihren Website-Attacken.
Also Tabake vor mich hingemischt und probiert. Dann die Musiksammlung mal wieder archivarisch betreut; solch ein Schatz wie diese Holmboe-Einspielung will sorgsam willkommen geheißen werden. Schließlich noch ein paar wenige Briefe, indes ich mit meiner Überarbeitung nicht recht vorankomme. Die Konzentration fehlt heute. Immerhin ist dieser komische Druckschmerz weg, so daß ich morgen wieder zum Sport kann. Momentan sitzt ein indo-texanischer Eintopf auf dem Feuer: Dal und Bohnen, sehr viele Zwiebeln, teils mit Knoblauch in Garam Masala, gehackten Chilies und mit Curry angedünstet, teils später, nämlich jetzt, in Vierteln mitkochend; dazu ein paar wenige Kartoffeln.
Wie der Abend aussehen wird, weiß ich noch nicht. Vielleicht lese ich einfach, Ilse Braatz ff, >>>> Die Alte, der Hund, das Gespenst. Aber auch mit der Überarbeitung will ich noch weitermachen. Auf jeden Fall muß ich aber noch Wein kaufen radeln. Und mein Junge wird fürs Cello noch herkommen.

17.55 Uhr:
Um zweieinhalb Meter hat das Erdbeben ganz Japan verschoben. Was wir uns nie wirklich klarmachen, ist, daß wir auf einem lebendigen Planeten leben, dessen Entwicklung überhaupt nicht abgeschlossen ist. Die möglicherweise riesige Reaktor-Katastrophe ist dagegen eine Fußnote. Unsere aller Vorstellungen von Sicherheit beruhen auf kurzzeitbedingter Erfahrung.

7 thoughts on “Holmboe mit dem Ruch des Authentischen, indessen – noch – out of Africa. Das Arbeitsjournal des Sonnabends, dem 12. März 2011. Darinnen der sechzehnte Benedikt, den Motzekstrang in der rechten Hand, um von ihm zu schneiden: vor einem kleinen Wort zum japanischen Beben.

  1. Wir unterschätzen immer oder sehen nicht. Daß auch die technologische Entwicklung eine der Evolution ist; das schließt Kernkraftwerke ein. Wollte man sie für Naturkatastrophen verantwortlich machen, müßte die enorme Ausbreitung des Menschengeschlechts selbst als eine Katastrophe angesehen werden – als eine globale.

    1. Wir sind sowas von klein… Brauchen wir denn immer solch krasse Beispiele, damit wir kapieren, dass sich was ändern muss ? Es bedrückt mich und es macht mich traurig und müde.
      Auf der einen Seite wünsche ich allen diesen Menschen dort, dass sie es auf die Reihe kriegen, dass sie überleben und ihre Familie wieder finden und eben alles, was dazu gehört.
      Auf der anderen Seite gebe ich zu, dass ich denke, oder irgendwas in mir denkt das …ja was ? (was mir zuweilen Angst macht), es geschieht ihnen Recht – dieser ewige Glaube „wir könnten die Natur beherrschen, wir haben das alles im Griff, wir sind geschützt und stehen über allem !“
      Es gibt eine Website, auf der Amerikaner posten, was sie davon halten.Ich hätte fast gekotzt heute….Grundtenor ist: Das ist die gerechte Strafe für Pearl Harbour.
      Wo leben wir eigentlich ?
      Wenn sich LA in Luft auflöst, werden die Japaner sagen : das ist die gerechte Strafe für Hiroshima – oder was ?
      Irgendwie ist das alles nicht real…oder doch ?
      Gute Nacht, ich bin gerade etwas verstört.

    2. @ANH: Dieses „Nichtsehen“. Ist das, was Bruno Latour die „jeden Tag Lügen gestrafte Unterscheidung zwischen ontologischen und epistemologischen Fragestellungen“ nennt. Konsequenterweise müsse man die alte Dichotomie von Natur und Gesellschaft in Frage stellen, damit keine Nötigung mehr stattfinde, „sich entweder auf die Seite der Dinge zu schlagen und dabei die menschlichen Eindrücke von ihnen aufzugeben, oder sich an die menschlichen Kategorien zu halten, dadurch aber nach und nach von den Dingen selbst abzurücken“. Teil dieses Komplexes ist die Frage nach der Unterscheidung von Natur und Technik. Wenn man das Atomkraftwerk, eine von Menschen geschaffene Technik, als Teil eines Evolutionsprozesses, darüber hinaus dessen Konsequenzen als „Naturkatastrophe“ deutet (ich bemerkte wohl, dass Sie gerade n i c h t „Natur-“ schrieben), scheint mir ein Naturbegriff zu Grunde zu liegen, der „realistisch“ bleibt, d.h. von einer Objektwelt ausgeht, auf die Subjekte irgendwie einwirken können – natürlich nur, sofern sie die evolutionstheoretische Sichtweise wieder ablegen. Es bräuchte einen Odysseus, um die Götterwelt trotzdem zu überlisten – im aktuellen Fall Spezialisten, die die Kernschmelze verhinderten. Eine solche Sichtweise verkennt, dass bereits v o r der Katastrophe ein menschliches und auch „dingliches“ Wirken bestand – nicht im konkreten Fall des Erdbebens, wohl aber im Falle des AKWs. Ein hochentwickeltes, technisches, gesellschaftlich eingebettetes Ding tritt in Wechselwirkung mit „Naturkräften“ – allein, dass das vor der Katastrophe bekannt war und teils ja auch bedacht wurde. Liegt wirklich eine T r e n n u n g vom „Natur“zusammenhang vor? Auf mich wirkt eine solche bei näherem Hinsehen konstruiert und damit fragwürdig. Welchen Naturbegriff, Herr Herbst, legen Sie hier zu Grunde?

      @Zazie44: Ihr Post verleitet mich zur weiterführenden Überlegung, dass vielleicht etwas Grundlegendes mit „unserem“ Weltzugang nicht stimme. Wobei zu bedenken wäre, wer „wir“ seien und welche Rolle das „Subjekt-Objekt“-Denken dabei spiele.

      (Latour-Zitate aus: Das Parlament der Dinge. Suhrkamp, 2010)

    3. Natur Die Natur schert sich nicht um ein paar Kernkraftwerke. Die Natur fragt nicht nach, sie waltet ihres „Amtes“ ganz natürlich eben.
      Manchmal hab ich das Gefühl, dass wir – die Menschheit – der eigentliche Gau sind.

    4. Die „Natur“ waltet ihres Amtes Vollkommen richtig. Ein GAU aber muss als solcher empfunden werden (von wem auch immer). D a s s Sie die Menschheit so sehen können, liegt in der modernen Vorstellung von Natur als etwas Gegebenem begründet, aus welchem das technische Wesen herauszutreten könne oder das es, ökologisch gewendet, zerstört.

    5. Der Mensch und die Natur Die Menschen reden oft von der Natur und vergessen dabei vollkommen, dass sie selbst Teil derselben sind (also drinnen und nicht draussen). Darin sehe ich ein grosses Problem.

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