8.22 Uhr:
[Arbeitswohnung bei weit geöffnetem Oberfenster.
Vagn Holmboe, Streichquartett Svaerm op.190b (UA posthum).]
Bereits der zweite Latte macchiato. Habe verschlafen, nachdem ich zwar den Wecker um halb fünf hörte, aber auf der Jagd nach jemandem war, der mir eine Kasse voller Geld geklaut hatte, das ich so wenig wie jene eigentlich besessen habe oder besitze, meines Wissens jedenfalls nicht, aber das schert die intensiven Träume ja nur wenig. Also Viertel vor sieben. Ach Schreck, der Bub muß doch zur Schule. Tschaikowskis b-moll in den CD-Player, den Kakao bereitet, mit der anderen Hand, sozusagen, den ersten Latte macchiato. – Hat alles gut geklappt. Dann die Löwin in Wien geweckt, wo sich der Frühling auch schon spürt. – Leider wird sie’s nach Leipzig zur Buchmesse nicht schaffen, sie müsse am Dienstag nach London fliegen, da werde ihr das alles zu eng. Schade. Aber natürlich könnte ich meine Schweizer Freundin fragen. Andererseits, Messe ist sowieso Messe, da bleibt man niemals lang für sich, wenn man zu Bett will: Denn wer will da schon zu Bett? Solche Poeten sind messerar, die geil genug meinen, da auch für Säfte noch die Zeit zu haben.
Was diese nun prinzipiell angeht, also heute, so will ich einen Lesetag einschieben, um >>>> den Gogolin auszulesen. Nachdem ich gestern nacht wieder in blöden Filmen festhing. Es sind nur noch knapp einhundert Seiten; dazu kam eine Bitte >>>> Stangs, mir ein Typoskript anzusehen und dem Autor etwas zu helfen, seine Waffe zu halten.
Frühlin is’! Ich merkte es gestern. So heftig winkte er mir zu, nachdem ich aus dem Sportstudio kam. Sein erstes Zeichen ist immer, daß man beim Fahrradfahren keine Handschuhe mehr braucht und sich auch sonst noch ganz falschdick anzieht, weshalb man den Mantel offenlassen muß und schon gar keinen Hut trägt, weil sich drunter sonst das Schwitzewasser sammelt, zumal nach der Sauna. Aber heute früh mußte ich auch das zur Nacht stets offene Fenster gar mehr nicht schließen, als ich aufgestanden war. Heizen tu ich ja nun schon seit fast zwei Wochen nicht mehr.
Gut, an Gogolins Roman. Wenn ich ihn ausgelesen haben werde, geht’s mit der Überarbeitung der kleinen Blogtheorie weiter. >>>> Elfenbein mailte gestern noch, daß am Montag die Elegien daseien, endlich, als Buch. Ich werde einen Cremant kaufen und damit zu dem Verleger radeln; und das erste Buch, mein Exemplar, will ich erst auspacken, wenn der Korken rausgeknallt ist aus dem Flaschenhals, quer über die Gaudístraße. Das ist mein festes Vorhaben. Wahrscheinlich kann ich danach gleich zu den >>>> Kulturmaschinen weiterradeln, mit einer zweiten Flasche Cremant, diesmal für den Teufel von Sainte Chapelle. Da sollte allerdings auch meine Lektorin dabeisein. Aber die Elegien haben für mich selbstverständlich, nach ihrer langen, sehr langen Entstehungszeit, eine andere Bedeutung. Es ist darüber hinaus mein erstes Buch, dessen Enststehung Sie von den allerersten Skizzen an über sämtliche Verarbeitungsformen >>>> hier in Der Dschungel miterleben konnten, und einige unter Ihnen haben daran für mich sehr hilfreich mitgewirkt. Noch ist das Buch aber nicht da; noch ist es für Danksagungen zu früh.
Und zwischendurch, heute, noch mein Cardio-Training; diese 10-km-Läufe haben’s immer in sich. Mein Bub kommt erst um halb vier aus der Schule; er will noch mit Freunden skaten und danach einen dicken Apfelpfannkuchen essen, so, wie ihn meine geliebte Großmutter immer zubereitet hat, die er nie kennenlernte und vor der ihm zu erzählen sinnvoll eigentlich nur in Form eines Familienromanes wäre, wie ihn Gogolin so ganz meisterlich zu bauen gewußt hat.
Draußen singen die Vögel. Guten Morgen, Frühlingsmorgen!
11.48 Uhr:
Soeben mit Gogolins Roman fertiggeworden… nein „fertig” werde ich mit ihm noch lange nicht sein. Man kann das nicht mal einen „Wurf” nennen, sondern es ist einfach ein Großes Buch. Ich konnte eben nicht anders, als >>>> so zu reagieren.
Muß das Herz freischütteln. Werde gleich zum Sport los – sowie die eingegangenen Emails beantwortet sind (ich hatte, um mich nicht ablenken zu lassen, für die letzten einhundert Lektüreseiten den Laptop geschlossen und das offene Buch, dessen letzte Seiten sich eine nach der anderen immer hastiger wendeten, daraufliegen.)
21.13 Uhr:
Sarah Vaughan gehört. Mir war danach.
Mein Junge schläft auf dem Vulkanlager; gestern und heute lasen wir Kiplings wunderschöne Robbengeschichte aus dem ersten Dschungelbuch; abends gab es noch einmal einen Apfelpfannkuchen; ich selbst aß Nudel- und Fleischbällchenreste von gestern, scharf mit einer zerstoßenen Chili und Knoblauch nach-angebraten und überstreut mit Grana Padano. Dazu kaltes, selbst aufgesprudeltes Wasser; den Wein gibt’s erst jetzt.
Viel habe ich heute an Eigenem nicht zuwegegebracht; stehe noch zu sehr unter dem Eindruck von >>>> Gogolins Roman. Eine Freundin, die parallellas, sprach in einer auf meine Einlassung reagierenden Email vorhin zu recht von einem „europäischen Roman von Format”; sie hoffe nur, die Lovenbergs, Lothar Müllers und Roman Buchelis dieser Welt merkten es. Vielleicht muß man daran zweifeln, sofern es jedenfalls stimmt, daß wichtige Gegenwartsverlage den Roman abgelehnt haben – aber das haben sie ja schon zu Haufen mit Eccos Rosenname getan, und auch der >>>> Wolpertinger ist erst durch 36 (!!) Häuser gewandert, bevor er endlich erscheinen konnte.
Jedenfalls wirkt dieses Buch extrem nach, so sehr, daß mir meine eigene Arbeit stundenlang sehr klein vorkam und ich immer wieder dachte, und eigentlich denke ich das noch jetzt: So etwas kriegst d u niemals zuwege. Es tritt bei und auch nach der Lektüre von „Calvinos Hotel” genau das ein, was Nietzsche für eine Dichtung gefordert hat: „Was ist an einem Buche gelegen, das einen nicht einmal über alle Bücher hinwegträgt?” – Ich bin davon überzeugt, daß speziell dieses Buch das Zeug zu einem auch internationalen Bestseller hat, weil es nirgendwo experimentiert, es ist kein Formbruch darin, nichts, was nicht unmittelbar verstanden werden könnte, anders als etwa >>>> Thetis, sondern es bleibt allezeit im Wasser des nachvollziehbar Menschlichen; das ist aber deshalb keine Schwäche, weil dieser Roman so ausgesucht konstruiert, so sehr genau leitmotivisch verwoben ist und außerdem Wahrheiten vermittelt, die ebenso unmittelbar nachvollziehbar sind. Es ist, kurz, kein Buch der Zukunft, bzw. einer möglichen Zukunft, sondern eines, das uns alle aus unserer eigenen Geschichte anspricht und dies sowohl konsequent als auch mit einer Tragik – also erzählter Tragödie – tut, die uns erst, wenn wir sie begreifen, eigentlich erfaßt.
Aber ich merke, ich erzähle hier schon, was ich in einer Rezension schreiben möchte und sollte das besser bleiben lassen, um nichts vorherzuverschießen.
Ein oder zwei Seiten an der Blogtheorie habe ich dennoch geschafft.
Und geschafft bin ich überdies. Der Körper will viel Schlaf. Anderthalb Stunden schlief ich nachmittags, von halb fünf fast bis sechs Uhr, weil mich der Langstreckenlauf so geschlaucht hatte und mein nunmehr tägliches und recht hartes Training Forderungen nach Ruhe stellt. Aber ich bin auch im Sprung der Erwartung. Bald werde ich die Bamberger Elegien gedruckt in meinen Händen halten. Was aber auch, als ersehnte Aussicht, ein wenig kleiner geworden ist nach der Lektüre von Gogolins Roman.
Was ich jetzt tun werde? Meinen Evening Latakia rauchen, Weißwein trinken, vielleicht die Lektüre des letzten Romans von Ilse Braatz wieder aufnehmen, der mir aber jetzt, wiederum im Gogolin-Vergleich, verknorkst vorkommt. Nur weiß ich ja selbst, daß das ungerecht ist, wenn ich so empfinde. – Vielleicht chatte ich besser ein wenig mit Wien. Zu telefonieren geht nicht, so lange nicht der Junge sehr fest schläft.
Calvinos Hotel “Ich bin davon überzeugt, daß speziell dieses Buch das Zeug zu einem auch internationalen Bestseller hat”, schrieben Sie, lieber ANH.
Nun habe auch ich diesen Roman ausgelesen, inspiriert durch Ihre aufrichtige und neidlose Buchbesprechung hier in den Dschungeln. Auch ich bin begeistert und bedanke mich für die Anregung und den spannenden Lesegenuß. Wunderbar, wie hier die Fäden gesponnen werden, wie man sich nicht lösen kann bis zuletzt. Viele Handlungsstränge und Orte erinnern mich an Stationen meines eigenen Lebens: an die Toscana, Venedig, Stuttgart (die beschriebenen Wege stimmen wirklich), an die Beobachtung des Bosnienkriegs und die Erfahrungen, die ich mit von dort stammenden Bekannten gemacht habe, und sogar an einen Spaziergang mit Hanna Reitsch auf der Insel Mainau in den 60-ern. Alles ist hervorragend recherchiert. Am liebsten würde ich gleich nochmal von vorne anfangen, um das eine oder andere noch genauer mitzukriegen. Hoffentlich gelingt es, diesen Roman so bekanntzumachen, daß noch viele ihn zu lesen bekommen. Kompliment an PHG.