Eine Art des Sehens. Calvinos Hotel (2). Peter H. Gogolin.

Ich versuche durch das Schreiben, Zeuge des Schicksals zu werden, um nicht sein Opfer sein zu müssen. Greta pflegte von einem Menschen, der sich selbst zu wichtig nahm, zu sagen, er führe sich auf wie ein Hahn, der den Sonnenaufgang für ein Ergebnis seines lauten Krähens hält. Als Kind habe ich diese Bemerkung immer für einen Witz gehalten, aber sie hatte natürlich vollkommen recht. Man verwechselt sich selbst mit der Ereignissen, identifiziert sich mit Dingen, Personen, Gefühlen, was weiß ich, es ist endlos. Dem kann man nur entgehen, indem man bewußt Zeuge zu sein versucht. Erst als ich das begriffen hatte, vermochte ich, mit meiner Niederschrift fortzufahren. Und so ist das Schreiben nun für mich zu einer Art des Sehens geworden. Es ist meine Art des Hinsehens auf das, was geschehen ist und geschieht.
>>>> Calvinos Hotel, 269.


[Calvinos Hotel 1 <<<<.
Poetologie.]


3 thoughts on “Eine Art des Sehens. Calvinos Hotel (2). Peter H. Gogolin.

  1. Es ließe sich natürlich einwenden, das Schicksal suche sich keine individuellen Opfer, sondern schlage unterschiedslos zu. Zeuge sein zu wollen heißt aber in jedem Fall, sich eigenmächtig herauszunehmen aus allem Geschehen, Chronist und Interpret sein zu wollen. Obzwar dies an sich nicht möglich ist, ist eben dies der Kern allen literarischen Schreibens, es eilt dem Ereignis sowohl beschreibend hinterher, als ihm zugleich voraus, da der Leser es im Lesevorgang nachzuvollziehen hat, um es so schließlich zu seiner Gegenwart zu machen.
    Da haben Sie, lieber ANH, eine interessante Stelle herausgesucht, die neugierig macht auf weiter Exzerpte.

    1. @Schlinkert zu Calvinos Hotel. Das Buch wimmelt von so etwas. Ich werde so lange immer mal wieder zitieren, bis ich’s durchhab – wobei ich mir herausnehme, bisweilen ungesagt ein kleines Lektorat nachzuholen, das mit ganz leichter Hand hie und da hätte schon vorwirken können – und nun eben hier in Der Dschungel wirkt. Sie merken das daran, daß ich, was ich zitiere, grundsätzlich in die alte Rechtschreibung zurückführe. Die Qualität des Romans, um nicht “die Größe” zu sagen, schränken die tatsächlich nur Fehlerchen in keiner Weise ein.

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