Das Geschlecht und der Vers. Das Arbeitsjournal des Dienstags, dem 22. März 2011. Wieder Vagn Holmboe.

5.18 Uhr:
[Arbeitswohnung. Holmboe, Zweite Sinfonie.]
Wie Sie seit gestern lesend ahnen können, sind unterdessen auch >>>> Vagn Holmboes Sämtliche Sinfonien hier angekommen, immerhin dreizehn plus einer „In memoriam”. Sie werden mich jetzt erst einmal begleiten und zur Einprägung des Melos’ unter meiner Arbeit hindurchlaufen, wohl auch unter meinem Laufen: heute nehme ich das Training wieder auf, sowas von elf bis dreizehn Uhr, beginnend mit 10 km Cardio, da ich ja doch auf der Messe einigermaßen gesündigt habe, aber gern, mit Alkohol und Schokolade; überhaupt sind >>>> Buchmessen von schlechtem Essen ausgezeichnet… sagen wir: degradiert, also: gezeichnet.
Erst einmal aber der erste Latte macchiato und die Morgenpfeife; seit zehn vor fünf bin ich auf (und gestern nacht wirklich um elf in Schlaf gefallen). Für zwei Stunden die Überarbeitung der Kleinen Theorie des Literarischen Bloggens wieder aufnehmen, dann das erste der beiden neuen Bücher annoncieren, >>>> Die Fenster von Sainte Chapelle. Gleich zwei neue Bücher im selben Monat einer Buchsaison erscheinen zu lassen, ist nicht ohne Heikles, weil ich mich werblich nicht konzentrieren kann und immer ein wenig das Gefühl, ja Bedürfnis mitschwingt, einem von beiden den Vorzug zu geben; das ist dem andern gegenüber ungerecht: in diesem Jahr Den Fenstern von Sainte Chapelle – was schlicht mit der Geschichte der >>>> Bamberger Elegien zusammenhängt; nicht nur, daß diese sehr viel mehr Zeit zu ihrer Entstehung brauchten, indes die ersten Skizzen der Paris-Erzählung vor noch nicht einem Jahr entstanden, sondern auch, weil ich um diese Elegien so gekämpft habe, mit ihnen, für sie und um sie, vor allem in den Kommentaren, die sie >>>> dort ebenso nachlesen können wie meine Versuche mit der „richtigen” Form, in ihrem Fall mit dem Hexameter und seinen Möglichkeiten, moderne Form zu werden; dazu waren es die Positionen, die umstritten wurden. Als ich die Gedichte jetzt, auf der Leipziger Messe, vortrug, hatte ich mehrmals das Gefühl einer enormen Aggression, die unter dem gleichzeitig Elegischen dieser Texte vibrierte; das überraschte mich. Vielleicht hing es nur damit zusammen, daß ich die beiden Schleef-Rezitationen hatte und Schleefs, ich sag einmal, Haltung sich in mir auch auf die Elegien übertrug; vielleicht auch damit, daß ich schnell mal in die Kopfstimme wechsle, wenn Lesungen gegen hohe Hintergrundgeräusche durchzusetzen sind; aber dieses beides nicht nur, sondern es geht ja auch um was, um einiges: die Elegien streicheln nicht ein trauerndes oder trauriges, nur-trauriges „lyrisches Ich”, sondern da wird die Trauer gedreht. Pervertere. Form zwar als Erkenntnisträger, aber auch als Waffe. In der Ambivalenz zu bleiben und dennoch Haltung zu haben, ist vielleicht das schwierigste. Erzählende Prosa kann das in der Erzählung flüssig machen, ja l e i c h t erzählen; in der Lyrik wird es Glaubensbekenntnis, vielleicht weil, besonders in strengen Formen, die – so sagt der Profi oft – Bedeutungs- mit der Erscheinungsebene zusammenfällt oder doch versucht, beides miteinander in Deckung zu bringen. Was wiederum zur Folge hat, daß das lyrische Ich viel weniger weit von seinem „wirklichen” Autor entfernt ist als der Rollenerzähler einer Geschichte, geschweige als ein auktorialer Erzähler: Prosa-Autoren fällt die Distanzierung leichter, wofern sie nicht sogar die Voraussetzung für eine ihnen „gelingende” Erzählung ist. Insofern in der Lyrik von weiblichen und männlichen Versen gesprochen wird (auch interessant in der Gender-Betrachtung: jene enden mit Senkung, diese mit Hebung: also mit einer Erektion), ließe sich von weiblichen und männlichen Kategorien sprechen, unter denen die weibliche, für mich, die Lyrik wäre; wenn die nun aber mit männlicher Positionierung aufgeladen wird, sagen wir: mit patriarchaler, entsteht eine Gespanntheit, die so reizvoll ist wie provozierend. Wobei „männlich” wie „weiblich” einen Erscheinungstypos meint, der ideal ist, nicht etwa bloße Spiegelung eines Realen: in der Natur des Geistes kommt „männlich” und „weiblich” als reine Form so wenig vor wie als Erscheinung eines Gedankens. Doch immerhin als Körper, und dies signifikant öfter als das Transvestitische/Trans-Gendersche. Zwei Gehirne allerdings, die man, aus dem Bein gelöst, nebeneinanderlegte… –
Zweiter Latte macchiato.

[Holmboe, Dritte Sinfonie, 3: Skammelsen-Variationen.]

8.10 Uhr:
[Holmboe, Siebte Sinfonie. ]
Ein sehr seltsames, leicht deprimierendes Gefühl ist vor allem dieses: Da arbeitet man knapp vier Jahre an einem Buch, ersehnt sein Erscheinen, und dann, wenn es endlich da ist, geht es sofort zur Tagesordnung über; es ist eigentlich gar kein Raum mehr, wirklich glücklich zu sein, denn sofort ist das nächste Projekt, das nächste Buch im Raum. Ich erinnere mich, daß das völlig anders gewesen ist, als ich jünger war; noch >>>> THETIS war für mich ein Ereignis. Aber seit >>>> MEERE und dem sofort daran angeschlossenen Buchprozeß ist durch alle späteren Bücher ein Riß durch die materielle Erscheinung gegangen; jedes neue Buch hat, anders als die je noch entstehenden, nahezu plötzlich den Character eines Ungefähren, Gefährdeten, Provisorischen – von etwas, das man von einer Brücke in den Fluß wirft, und man steht da, schaut hinab und schaut zu, wie es mit- und weggetragen wird, und ich weiß nicht, ob es nicht bereits an der nächsten Wasserschlaufe untergeht. In dem Moment, in dem ich das jeweils neue Buch in die Hand bekomme, spüre ich Vergänglichkeit – als wäre die Realisierung eines Buches eigentlich sein Ende.
Eigenartig.

9.03 Uhr:
[Holmboe, Achte Sinfonie.]
Es geht um die Erfahrung der Sang- und Klanglosigkeit des Beliebigen; es ist kein wirkliches Glück mehr, ein mir wichtiges Buch erschienen zu haben, als wäre meine Fähigkeit beschädigt, mich gegen den Strom riesig freuen zu können. In dem Sinn schrieb ich Cellini eben:Ja, das Buch ist jetzt da und ist ausnehmend schön geworden. Aber irgendwie kann ich mich nicht richtig freuen oder die Freude, die auf der Messe kurz dawar, hält nicht an; ich merke auch, daß ich meine Freude in den Messegesprächen irgendwie künstlich auch gespielt habe, zu einem Teil jedenfalls. So ganz bin ich mir noch nicht klar drüber, habe vorhin im Arbeitsjournal versucht, das zu fassen.
Es bleibt eine eigenartige, mir an sich sehr fremde Melancholie – bzw. eine Melancholie, die sich in mich eingeschlichen hat und mir vertraut geworden ist, ohne daß ich sie bislang schon wahrgenommen hatte. Aber vielleicht ist, so hoffe ich, der Text für andere Menschen, für meine Leser, ganz anders, und das Buch auch.

Mich hat etwas Relativierendes erfaßt, das sehr schwächt.

Ich rasier mich jetzt und dusche erst mal und kleide mich: gut. Für Haltung.

10.25 Uhr:
[Holmboe, Elfte Sinfonie.]
Sauber. Schwarzer Anzug, indisches Hemd, indische (schwarze) Seidenweste. Als würde ich ausgehen wollen. >>>> Holbein hat mich grade „Dichterpriester hoch 3“ genannt, was ich beleidigend finde, also wegen der 3; alles hinter 1 ist unangemessen. Meine Antwort? „Schon seltsam, diese geradezu Panik vor dem Pathos. Das nachkriegsdeutsche Verhängnis, das geradezu in den scheißfußriechenden Feierabend mit Bulette, Bier und rülpsend die Frau ficken führt, ob die nun will oder nicht. Will sie nicht, gilt Schleef.” – Schon bezeichnend, daß ich sofort wieder zu Form komme, wenn ich was zu kämpfen kriege.Heute nachmittag habe ich, echt, ein Vorstellungsgespräch. Ich werd auf das Angebot aber nur dann eingehen, wenn ich mindestens das Doppelte dessen dabei verdiene, was im Gespräch ist. Mein Stundensatz will den eines Malermeisters nicht unterlaufen.

17.57 Uhr:
[Holmboe, Dreizehnte Sinfonie.]
Jetzt haben wir über Geld noch gar nicht gesprochen; war aber ein nettes Gespräch da direkt an der Spree, Café des Hamburger Bahnhofs, der, von Napolis >>>> MADRE abgesehen, mein liebstes Museum für Zeitgenössische Kunst ist. Und überhaupt ist die Melancholie weg – weggelaufen, und was nach den elfeinhalb Kilometern Crosstraining noch davon übrig war, schwitzte ich in der Sauna derart heraus, daß ich, als ich wieder herkam, eine dreiviertel Stunde lang tief schlief. Und dann gleich zum „Termin” losmußte. Gegessen hab ich heute nüscht bis jetzt, aber mir ein Süppchen nunmehr aufgesetzt, statt daß ich den obligaten Fruchtsalat esse.
Mit der Löwin telefoniert, das tat ein Übriges; und mein Junge war hier, um sein Cello fürs Orchester zu holen, und wird auch noch mal herkommen. Wahrscheinlich fahre ich dann mit ihm ans Terrarium rüber, weil ich für die Zwillingskindlein Bücher von der Buchmesse mitgebracht habe; was sowieso Tradition ist; mein Junge hat seinen >>>> Greg 5 bereits fast ausgelesen in einem Tag. Erzählte er gerade in unvergleichlich charmantem Oskarsstolz. Und ich will jetzt mal schauen, was sich in Der Dschungel getan hat.

Ah ja, Nachricht vom Verlag: Von den >>>> Elegien seien bereits – jenseits der Messe – sechzig Exemplare verkauft; das ist für Lyrik, die erst seit dreivier Tagen auf dem Markt ist, ein ziemlich guter Schnitt. Also das hat meine Stimmung a u c h gehoben. Ich habe das Buch in Der Dschungel ja noch gar nicht richtig annonciert; heute waren erst einmal >>>> Die Fenster von Sainte Chapelle dran.

4 thoughts on “Das Geschlecht und der Vers. Das Arbeitsjournal des Dienstags, dem 22. März 2011. Wieder Vagn Holmboe.

  1. Oh, das kenne ich gut, bei mir lags aber an einem Buch, das so seltsam titelte, dass ich es nicht mochte, ich las nie aus ihm, nahm immer Manuskriptseiten, dann, als man seine Texte in ein neues Heim übersiedelte, wurds besser.
    Ich steh nur jedes Mal wieder vor der Möglichkeit eines Buches wie vor dem blanken Irrsinn, ist es dann geschafft, ist der Irrsinn erst geordnet, wirds besser. Das ist ein wenig wie Koffer packen, ich weiß nie, was mitnehmen und warum überhaupt, ist erst mal alles drin, kann ich mich auch aufs verreisen freuen.
    Gratulation zu den Büchern!

    1. Auch ich gratuliere zu den Büchern, dem hart erkämpften und dem locker „vorgelegten“, wie Verleger das nennen, und, dideldu, das Beste ist, ich besitze sie schon beide. Und noch schöne Grüße an Ihre Melancholie, sie soll sich verzischen, es ist Frühling jetzt.

  2. Die Fertigstellung eines Werkes bedeutet ja immer auch, etwas zu verlieren. Ich war während meiner nun schon lange zurückliegenden Tischlerlehre nicht der allerschnellste Lehrling, weil ich, wenn schon mal etwas handwerklich Anspruchsvolles zu tun war, diese Arbeit genießen und behalten wollte, während der Meister natürlich zur Eile treiben mußte. Die Fertigstellung war also verbunden mit dem Ende einer schönen Zeit. Erinnern Sie sich, lieber ANH, ich hatte Ihnen vor einer Weile erzählt, ich könne mich über die Veröffentlichung meiner Dissertation nicht recht freuen, ja ich sah nicht den geringsten Grund, Feierlichkeiten anzuberaumen, und dies nicht etwa aus falscher Bescheidenheit. Ich denke, die gegenwärtige, in hohem Maße selbstbestimmte Arbeit selbst ist das eigentliche Fest, die Veröffentlichung ist dann gleichsam der Morgen danach, verbunden mit einer gewissen Melancholie, einer Trauer um das Verflossene. Dies bedenkend genieße ich im Moment die Arbeit an meinem Roman, obzwar ich mich im Falle des Falles dann aber doch freuen möchte.

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